Fritz und Alfred Rotter. Peter Kamber

Читать онлайн.
Название Fritz und Alfred Rotter
Автор произведения Peter Kamber
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783894878313



Скачать книгу

sich schließlich alles in Wohlgefallen auflöst.“68 Mit ihren zwei jüngeren Schwestern Käthe und Ella treten die Herrnfeld-Brüder selbst in den Hauptrollen auf. Und sie sehen sich ähnlich genug, um sich als „Bindelbands“ zu doubeln. Der Zweiakter ist ein typisches Verwirrspiel mit vielen Türen im Bühnenbild, durch das die Figuren andauernd auf- und abtreten; alle schwindeln einander etwas vor; kaum jemand sagt in dem Schwank je die Wahrheit; dass die Geschichte dennoch aufgeht, ist sozusagen höhere Psychologie.

      Tucholsky („Ich hatte mich im damaligen Herrnfeld-Theater krank und wieder gesund gelacht …“) ist insofern ein „Herrnfeld-Schüler“, als er 1913 in der Siegfried-Jacobsohn-Zeitschrift Schaubühne, später Weltbühne genannt, seinen ersten namentlich gezeichneten Text ausgerechnet über die Brüder Herrnfeld schreibt.

      „Und alles, was sie – vielleicht ungewollt, nur im Hinblick auf die Kassenrapporte und das Lachen eines vollen Hauses – geben, ist dies Sicheinbohren und das Nie-auf-den-Grund-Kommen und das wundervolle Aneinanderreihen der Haupt- und Nebensachen. Alles andere ist unwesentlich […]. Ihre wahre Größe entfalten sie in den Konversationen. […] Sie spielen etwas, was es überhaupt nicht gibt. So bewegt sich niemand, so spricht kein Mensch, so etwas existiert nicht. […] Hier und da empfindet man wohl so etwas, schämt sich und steckt es weg. Diese sprechen es aus. […] Man brüllt. Über deplatzierte Wahrheiten.“69

      Auch in Tucholskys bitterer Satire von 1920 Mitbürger/ Der Löw’ ist los! Wer ist daran schuld? Die Juden! Wählt die Deutsche Volkspartei! tauchen die Rotters als Bindelbands auf. Er schreibt unter dem Pseudonym Peter Panter:

      „Das Leben in der Stadt war völlig umgekrempelt. Niemand wagte sich mehr aus dem Hause. […] Die Berliner Theaterdirektoren Bindelbands suchten verzweifelt den Löwen. Sie wollten ihn für den Shaw’schen Androklus engagieren. Sie fuhren von Straße zu Straße – kein Löwe. Feuerwehrautos klingelten durch die Gegend – kein Löwe. Der Löwe war fottefliegt. Der Löwe war gar nicht fort. Er war, des Wartens müde, aufgestanden, schlenderte nun durch die Straßen […]. Also das war Berlin! Dieser traurige Haufe von Steinkästen und schnurgeraden Straßen, die alle ein bisschen unsauber aussahen – das war das Weltdorf Berlin! Der Löwe schüttelte das Haupt. Da hatten ihm die Spatzen im Käfig wer weiß was erzählt […].“70

      Tatsächlich inszenieren die Rotters damals, 1920, von George Bernard Shaw Androklus und der Löwe. Ein Märchen in drei Akten. Darin geht es um einen Dorn, den Androklus – bei Shaw ein christlicher Schneider – einem Löwen aus der schmerzenden Pfote entfernt, der ihn dafür zum Dank in der römischen Arena nicht frisst. Es rankt sich auch eine Anekdote um diese Inszenierung, die der Schauspieler Hubert von Meyerinck dem legendären Regisseur Max Reinhardt erzählt, als der 1924, eben zurück aus Amerika, Gast bei der Schauspielerin Else Eckersberg ist.71 Am Tisch werden Geschichten zum Besten gegeben, aber Hubert von Meyerinck will zunächst nichts einfallen. Da ruft Eckersberg ihm das Stichwort „Rotters!“ zu. Doch noch immer ist er unschlüssig. „Rotters?“, herrscht Reinhardt ihn daraufhin „fast böse“ an. „Sie wollen mir eine Geschichte von den Brüdern Rotter vorenthalten? Das ist doch wohl nicht Ihr Ernst.“ Da erst legt Hubert von Meyerinck los und erzählt, dass bei der Generalprobe von Androklus und der Löwe das Stück „glatt und ohne Unterbrechung heruntergespielt“ worden ist, bis man „plötzlich“ die Stimme von Alfred Rotter „vernahm“. (Der Hauptdarsteller, so meint Else Eckersberg in ihren Memoiren, sei Bassermann gewesen, aber es ist – bei jenen Proben – Karl Ettlinger, der, anders als Meyerinck es berichtet, hierauf sofort kündigt.) Alfred Rotter sagt angeblich: „‚Herr Bassermann, entschuldigen Sie, dass ich Sie unterbreche. Sie machten da soeben eine Bemerkung gegen die Schneider. Das geht nicht – es gibt so viele Schneider in Berlin. Sagen Sie lieber Sattler. Sattler sind nicht so zahlreich. Die Schneider könnten uns das übelnehmen. Bitte weiter.‘“ Gefragt, wie Bassermann darauf „reagierte“, fährt Hubert von Meyerinck fort: „Ach, der beachtete den genialen Hinweis seines Regisseurs gar nicht. Aber völlig aus der Stimmung gerissen, stampfte er ein paarmal mit dem Fuß auf und verhedderte sich mit seinem Text. Am Premierenabend saß ich dann in der hintersten Reihe direkt neben den Rotters. Sie waren so glücklich über die Stimmung im Hause, dass sie gar nicht bemerkten, wie Bassermann bei seinen Schneidern blieb. Und als am Schluss der Beifall einsetzte, riefen sie sich vor Begeisterung selber auf die Bühne.“ – „Was taten sie?“, fragt Reinhardt. – „Ja, sie klatschten wie wild in die Hände und schrien laut: ‚Bravo, Rotter – bravo Rotter!‘, und immer wieder: ‚Rotter!‘ Das Publikum verlangte natürlich nur nach Bassermann, aber Alfred Rotter war nach hinten gelaufen und erschien tatsächlich neben dem Hauptdarsteller auf der Bühne. Der ließ ihn dann allein hinausgehen. Doch Fritz Rotter brüllte wie besessen immer weiter: ‚Rotter! Rotter!‘, bis ich schließlich völlig hysterisch mit einstimmte und auch ‚Rotter‘ schrie.“ So weit die Legende.

      In der Version einer summarischen Klage des Präsidiums der Genossenschaft Deutscher Bühnen-Angehöriger vom 17. Juli 1924, die alle vermeintlichen Sünden der Rotter-Brüder auflistet, habe Fritz und nicht Alfred jene Hauptprobe unterbrochen. Er soll erst „zum dritten Akt“ auf die Probe gekommen sein „und hörte, wie aus den Wolken gefallen, einen Satz ‚Das geht gegen meine Ehre als Schneider‘ oder so ähnlich. – Draufhin Fritz Rotter: ‚Wieso Schneider?‘ – Antwort: ‚Androklus ist Schneider.‘ – Rotter: ‚Ach, sagen Sie doch statt Schneider Christ, die Schneider könnten sich sonst beleidigt fühlen.‘“ Dieser Version widerspricht der Anwalt der Rotters, Wolfgang Heine, am 20. Juli 1924 aufs Entschiedenste:

      „Die Behauptung […] ist von Anfang bis zu Ende unwahr und mit unerhörter Leichtfertigkeit aufgestellt. Zunächst ist es falsch, dass der Vorfall Herrn Fritz Rotter beträfe. Dieser war überhaupt nicht im Theater. Lächerlich wirkt die Unterstellung, dass einer der beiden Herren das Stück nicht gekannt hätte. Beide haben sich seit Jahr und Tag mit der Absicht der Aufführung des Stücks getragen, und Herr Alfred Rotter hat es mit größtem Ernste studiert und sich mit der Inszenierungsart beschäftigt. Selbstverständlich wusste er auch, dass Androklus als Schneider bezeichnet ist. Er lernte das Stück keineswegs erst auf der Hauptprobe kennen. Herr Direktor [Alfred] Rotter wurde durch leitende Persönlichkeiten darauf aufmerksam gemacht, dass die Art, wie Karl Ettlinger bei den letzten Proben seine Rolle auffasste, eine Gefahr für das Stück wäre. Darauf sah sich Alfred Rotter die Probe an und fand nun, dass Karl Ettlinger die Rolle in einer aufdringlichen, altmodischen Wiener Possenhaftigkeit spielte, den Androklus in der traditionellen Schneidermaske und Manier mit Hopserei usw. geben wollte und das Stück dadurch für das künstlerische Gefühl des Herrn Rotter herabzog. Gerade aus künstlerischer Gewissenhaftigkeit hatte Herr Direktor Rotter dagegen Einspruch erhoben. Als Karl Ettlinger nun darauf hinwies, dass Androklus im Buche als ‚Schneider‘ bezeichnet würde, hatte Herr Alfred Rotter die sehr zutreffende Bemerkung gemacht: ‚Ach was, Schneider, ein Schneider ist auch Mensch.‘ Darüber gab es einen Zusammenstoß mit Ettlinger. Der erklärte, in einer anderen Auffassung nicht spielen zu wollen.“

      Der Anwalt fügt hinzu:

      „Geradzu komisch muss auf jeden Kenner des Theaters die pathetische Entrüstung darüber wirken, dass sich Herr Direktor Rotter erlaubt habe, die Änderung eines Wortes in einem Stücke von Shaw vorzuschlagen. Wenn das ein Argument gegen die künstlerische Eignung zur Leitung eines Theaters sein soll, dann besaßen Goethe und Schiller sie nicht, die Shakespeares Macbeth bis zur Unkenntlichkeit klassifiziert haben, dann geht sie Herrn Prof. Max Reinhardt ab, der wie jemand witzig bemerkte, vom Don Carlos einen ‚interessanten Auszug‘ spielen ließ […].“

      Fritz und Alfred sind so oft Gegenstand von Gerüchten, dass noch jede Geschichte den Anschein der Wahrheit bekommt. Umgekehrt machen die beiden die Leichtgläubigkeit zum Thema auf der Bühne. Als ihr ‚Revolutionsengel‘ Oskar Kanehl am 21. Januar 1921 im Trianon-Theater Ludwig Fuldas Das Wundermittel zur Aufführung bringt, ist das durchaus Gegenwartskritik. Die verwickelte Handlung resümiert eine Zeitung so:

      „Ein Wundermittel, von einem stellungslosen Chemiker erfunden, eigentlich nur ein ganz harmloses Beruhigungsmittel, aber von einem gerissenen Unternehmer lanciert, erobert die Welt, sogar die Wissenschaft […]. Ein parodistisch gemeintes, aus Wut über