Название | Im Schatten des Löwen |
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Автор произведения | Linda Dielemans |
Жанр | Книги для детей: прочее |
Серия | |
Издательство | Книги для детей: прочее |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783772546655 |
Der Löwenmann?
Sie verlangsamte ihren Schritt, ließ ihren Speer sinken und wollte sich schon fast umdrehen, als jemand sie kräftig am Ärmel zog.
«Junhi! Was machst du da?»
Dann: «Gib acht!»
Etwas prallte gegen sie, es traf ihre Schulter mit einem so harten Schlag, dass sie mit dem Gesicht auf den gefrorenen Boden fiel. Sie spürte, wie ihre Zähne ihre Lippe durchbohrten, und schmeckte Blut. Als sie den Kopf hob, sah sie gerade noch ein weißes Hinterteil in Richtung der Herde verschwinden. Sie starrte dem Rentier mit offenem Mund nach.
«Junhi, geht es?»
«Nein.»
Sie drehte sich auf den Rücken. Es war Cramh, der besorgt auf sie herabsah. Cramh und zum Glück nicht Dahs. Der hätte sie so fest geschlagen, dass sie gleich wieder auf dem Boden gelandet wäre. Cramh streckte seine Hand aus, um ihr aufzuhelfen.
«Was war das?», fragte er, als sie wieder stand.
«Nichts, Cramh. Ich dachte, ich hätte etwas gesehen. Das ist alles, und es war dumm.»
Ihre Schulter pochte und schmerzte.
«Ist nicht so schlimm», sagte Cramh. «Wir haben trotzdem noch drei erwischt. Da, schau.»
Ein Stück weiter waren die verängstigten Rentiere geradewegs in die Falle gelaufen. Vier neue Jäger hatten sie erwartet, genau wie Dahs es sich zuvor ausgedacht hatte. Ihre Speere waren schnelle, schwarze Striche vor einem Himmel aus hellblauem Eis. Die Todesschreie der Rentiere füllten Junhis Ohren. Ein Schauer überlief sie.
«Aber wenn Dahs das erfährt …»
«Von mir hört er nichts.»
Junhi musterte ihn kurz, aber Cramhs Blick war freundlich. Sie glaubte ihm.
«Danke.»
Der Mann zuckte mit den Schultern. «Es entgeht mir durchaus nicht, dass Dahs dich auf dem Kieker hat. Er mag zwar der Anführer der Jäger sein, aber das bedeutet nicht, dass er anderen das Leben schwer machen darf. Versuche nur, nicht mehr allzu viel von unserem Essen entwischen zu lassen. In Ordnung?»
«Ich verspreche es», sagte Junhi mit einem schiefen Grinsen.
«Komm, wir helfen ihnen», sagte Cramh. «Rentiere laufen nicht von allein zum Feuer. Erst recht nicht, wenn sie gerade getötet wurden.»
«Du hast Blut auf deinem Mantel. Lass mich es herauskämmen.»
Die Stimme der Stammesmutter Uma war leise, aber gebieterisch.
Junhi warf noch einen sehnsüchtigen Blick zu dem Feuer, setzte sich dann aber gehorsam außerhalb der Reichweite der Hitze, die da so herrlich von den Flammen und den Steinen abstrahlte. Uma saß nie am Feuer, sondern blieb meist in den Schatten gerade außerhalb des Kreises von Menschen. Sie schlief in der hintersten Nische der Wohnhöhle, wo die scharfen Felsen hervorragten, als ob das Innere der Erde sie mit seinen harten Armen beschützen wollte. Ihr sei ohnehin nie kalt, sagte sie. Und für die Stammesmitglieder sei es leichter, mit ihren Fragen zu ihr zu kommen, wenn die anderen nicht gleich alles mitbekamen.
Das stimmte. Aber Junhi hatte nicht um ein Gespräch gebeten. Und was kümmerte sie dieses Blut? So viele Leute hatten Blut an den Mänteln. Das war normal. Sie hatte zwei schwere Hinterläufe in die Wohnhöhle getragen. Und jetzt wollte sie sich nur noch entspannen und aufwärmen. Sie schauderte und zog die Hände in die Ärmel zurück. Viel half es nicht.
«Dahs hat mir von deinem Ausflug erzählt», sagte Uma hinter ihr, während sie einen knöchernen Kamm mit kurzen Bewegungen durch den Pelz von Junhis Mantel zog.
Natürlich ging es darum.
«Hattest du vergessen, was ich dir gesagt habe?»
«Nein, Uma.»
«Und trotzdem gehst du hinaus.»
«Es tut mir leid.»
Die Frau hörte auf zu kämmen. «Sieh mich an.»
Langsam drehte Junhi sich um. Umas Gesicht war weich und rund, und die Haare auf ihrem Kopf waren in Dutzenden strammer kleiner Knoten zusammengefasst. Ihr Blick war besorgt, aber Junhi wusste, dass diese Besorgtheit aufgesetzt war. Uma nahm ihre Hände. Ihre fleischigen Finger waren warm.
«Ich weiß, dass du träumst. Ich weiß auch, dass du mir nicht alles erzählst. Und vielleicht bist du auch eine bessere Träumerin als Tira. Aber du kannst ihren Platz nicht einnehmen, das verstehst du doch, oder? Es gibt keinen anderen Platz für sie. Du bist stark und schnell. Du musst rennen und jagen und für deine Kinder sorgen, wenn du Mutter wirst. Die Träume sind für Tira. Sie ist Tukhs Schülerin.»
Uma seufzte.
«Ich bin die Stammesmutter, Junhi. Es ist meine Aufgabe, für alle zu sorgen. Die Träume, die die Mutter schickt, sind verräterisch. Die Wahrheit liegt tief in ihnen verborgen, und nur ein echter Träumer kann sie erkennen. Wenn du einfach so jedem Traum folgst, der sich dir präsentiert, wirst du Katastrophen verursachen. Katastrophen, die nicht wiedergutzumachen sind.»
«Dann lehre mich, die Wahrheit zu erkennen», flehte Junhi. «Lass Tukh mir helfen!»
Es war nicht das erste Mal, dass Uma sie auf das Träumen ansprach. Und es war nicht das erste Mal, dass Junhi um Tukhs Hilfe bat. Warum gab Uma nicht nach? Sie musste doch für den Stamm sorgen! Warum dann nicht für sie?
«Nein», antwortete Uma entschieden. «Ich verbiete dir, künftig noch zu träumen.»
«Wie kann jemand aufhören zu träumen? Träumen tut doch jeder.»
Junhi musste sich Mühe geben, nicht loszuschreien. Schreien half nichts, erst recht nicht bei Uma. Der Mund der Stammesmutter verwandelte sich in einen harten Strich.
«Jetzt stell dich nicht dumm. Du weißt, was ich meine. Von jetzt an huschst du mir nicht mehr davon zu abgelegenen Orten. Und glaube nur nicht, ich würde sie nicht kennen. Und jeden Traum, der dennoch kommt, erzählst du auf der Stelle mir. Hoffentlich dauert es dann nicht lange, bis sie aus deinem Kopf verschwunden sind. Du musst sie vergessen. Also auch keine Zeichnungen mehr, Junhi. Nicht in der Wohnhöhle und erst recht nicht auf den Felsen im Freien. Verstehst du, warum ich das sage?»
Junhi wollte ihre Hände aus denen Umas losziehen und davonrennen, weit weg von dem Feuer und der Höhle und der grausamen Frau, die vor ihr saß, aber die Stammesmutter hielt sie entschlossen fest. Kapierte Uma es denn nicht? Ohne ihre Träume war Junhi nichts. Ohne ihre Träume war sie niemand. Sie würde den Löwenmann nie mehr sehen.
Ihre Augen füllten sich mit Tränen, aber die bösen Worte, die auch aus ihr herauswollten, behielt sie für sich. Sie ließ den Kopf hängen. Keine Träume mehr, kein Löwenmann. Keine Zeichnungen mehr, um zu beweisen, dass sie die Pferde und Rentiere aus ihren Träumen wirklich gesehen hatte. Ohne Zeichnungen hatten ihre Träume keine Bedeutung. Und das war genau, was Uma wollte.
«Ich sehe, dass du es begreifst», sagte Uma. «Aber trauere nicht zu lange, Mädchen. Tränen sind für den Tod, nicht für das Leben. Gib das Träumen auf, wie ich dich gebeten habe. Sei vernünftig. Ich werde Dahs sagen, dass er dich im Auge behalten soll.»
«Als ob er das nicht schon jetzt täte!»
«Nicht so unverschämt, Junhi.» Um Umas Augen erschienen harte Linien. «Das steht dir nicht.»
Dann entspannte sich ihr Gesicht. «Es ist nicht leicht, Stammesmutter zu sein. Komm her.»
Sie breitete die Arme aus, und obwohl es nichts gab, das Junhi in diesem Augenblick weniger gewollt hätte, ließ sie sich doch von Uma umarmen. Es war wundersam, wie jemand so hart im Innern und so weich von außen sein konnte. Junhi erstickte beinahe, sie ertrank in einem Fluss aus Haut und Fett, aus Brust und Bauch. Als die Stammesmutter sie losließ, waren ihre Wangen rot und sie keuchte ein wenig.
Uma