Название | Im Schatten des Löwen |
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Автор произведения | Linda Dielemans |
Жанр | Книги для детей: прочее |
Серия | |
Издательство | Книги для детей: прочее |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783772546655 |
Junhi war klar, dass sie nicht so weit hinaufklettern sollte.
Sie hatte getan, was man ihr aufgetragen hatte, und jetzt erwartete man sie wieder in der Wohnhöhle. Im Winter wollte Uma nicht, dass sich jemand länger als nötig im Freien aufhielt. Wer zu lange wegblieb, musste gleich von mehreren Stammesmitgliedern abgeholt werden. Und Uma war nicht freundlich zu jemandem, der andere wegen nichts in Gefahr brachte. Draußen gab es Wölfe, Löwen, Hyänen. Und die hatten immer Hunger.
Wo bleibt Ren?
Beunruhigt schaute Junhi hinter sich. Sie hatte ihn schon beinahe vergessen, diesen kleinen Jungen mit dem dunklen Blick. Ren war ein Stück jünger als sie, also war sie für ihn verantwortlich. Dahs hatte es ihr vorhin nochmals mit lauter Stimme und in Anwesenheit aller eingeschärft. Es war eine Art, wie er und Uma dafür zu sorgen versuchten, dass sie sich nicht mehr absonderte. Und dass sie nicht mehr träumte. Sie schnaubte. Es funktionierte. Am liebsten hätte sie Ren in die Wohnhöhle zurückgeschickt, aber was sollte er dort sagen? Dass er Junhi unterwegs aus den Augen verloren hatte? Wenn Dahs selbst kommen und sie suchen musste, würde er persönlich dafür sorgen, dass sie in nächster Zeit überhaupt nicht mehr ins Freie käme. So blieb ihr nichts, als den Jungen mitzunehmen.
Sie hörte auf zu klettern und schaute um sich. Sie war sich sicher: Dort, auf dem höchsten Punkt, hatte sie ihn vor einigen Tagen dastehen sehen. Den Riesenhirsch, mit einem Geweih fast so groß wie die Stoßzähne eines Mammuts, und genauso gefährlich. Junhi wusste, dass die Riesenhirsche jeden Winter ihr Geweih verloren. Wenn sie heute ein solches Geweih mitnehmen konnte, würden alle stolz auf sie sein. Aus einem einzigen Exemplar konnten sie den restlichen Winter hindurch Speerspitzen und Nadeln und noch viel mehr anfertigen. Es musste hier irgendwo sein.
«Da bist du!»
Keuchend und mit roten Wangen kam Ren den Hang hinauf. Er stolperte, und Junhi konnte ihn gerade noch am Arm fassen, damit er nicht stürzte.
«W-was tust du hier?», fragte er außer Atem. «Wir müssen zurück, wir haben mehr als genug gesammelt!»
«Ja, sofort», antwortete Junhi, während sie mit der Hand über den Augen in sämtliche Richtungen spähte.
«Junhi!»
Ren zog sie am Arm. Verärgert sah sie ihn an und schüttelte seine Hand von sich ab.
«Ich will nicht, dass Uma böse auf mich wird», klagte Ren. «Besonders dann nicht, wenn es deine Schuld ist.»
«Still! Ich versuche, mich zu konzentrieren.»
«Worauf? Da ist nichts –»
Junhi hörte nicht mehr zu. Dort, gerade vor ihr, direkt hinter dem höchsten Punkt des Hangs. Ein dunkler Schemen, schnell wie Wasser. Sie spähte in die Ferne. Wo war er geblieben? Plötzlich stand er da, massiv, groß, stolz, der Buckel auf seiner Schulter wie ein Hügel am Horizont. Er trug kein Geweih mehr.
«Da ist er!»
«Wer? Junhi, warte!»
Der Hirsch sah sie kurz an, während sie auf ihn zu rannte, aber schon bald drehte er seinen mächtigen Kopf und trabte davon.
Ich darf ihn nicht verlieren, dachte Junhi.
Ihre Ohren sausten, und sie sah nur noch das riesenhafte Tier vor ihr, sein dickes Fell, seinen dröhnenden Galopp. Sie wollte nichts als ihm folgen. Der Boden unter ihren Füßen schien weich zu werden, während sie den Hang hinaufrannte, immer höher und immer weiter.
Ein Schatten am Rand ihres Blickfelds lenkte sie ab und sie schaute zur Seite. Ihr Herz überschlug sich, als sie die Silhouette des Löwenmannes erkannte. Sie stolperte und der Hirsch geriet außer Sichtweite.
«Wer bist du nur?», schrie Junhi. Ihre Stimme übertönte kaum den Wind. Und der Löwenmann sah sie bloß an, die gelben Augen so glänzend, wie es die Augen eines Raubtiers niemals tun würden. Es waren Menschenaugen in einer Verkleidung.
Langsam drehte er den Kopf, hob den Arm und zeigte. Junhi folgte seinem Blick.
Sie war auf der Spitze des Hangs, das Tal lag unten zu ihren Füßen, genau wie die Wohnhöhle und die Menschen von Umas Stamm. Im Talboden wand sich der Fluss, und die Berge in der Ferne bildeten launische Formen am Horizont.
«Ich sehe nichts», sagte Junhi.
Der Löwenmann berührte ihre Schulter und zeigte immer noch.
Sie schaute nochmals hinab und schirmte die Augen mit der Hand gegen die grelle Sonne ab. Da war etwas, in der Ferne, im Tal. Da bewegte sich etwas …
«Mammuts!»
Hohe Rücken wogten auf und ab und warfen breite Schatten auf die Felswand. Stoßzähne schwenkten sich träge im Rhythmus ihrer Schritte. Es waren große Tiere darunter, aber auch kleine. Junge vom letzten Frühjahr. Eine Mutterherde!
Junhi lachte und blickte zur Seite. Der Löwenmann war verschwunden. Stattdessen kam Ren den Hügel hinauf, mit wirrem Haar und einem bösen Blick in den Augen. Junhi rannte zu ihm, nahm in bei der Hand und zog ihn mit.
«Mammuts, Ren! Die Mammuts kommen!»
«Was? Wo? Junhi, lass mich los!»
«Keine Zeit!», rief Junhi. «Komm mit!»
Die Mammuts! Besser konnte es nicht sein! Nachdem die Rentiere weitergezogen waren, musste der Stamm ihnen eigentlich folgen. Aber wenn die Mammuts kamen … Diese Wohnhöhle war bequem und groß genug, und sie schützte den Stamm gegen Kälte und Wind. Sie war besser als alle Wohnhöhlen, auf die sie jemals gestoßen waren. Tukh träumte hier gut. Niemand wollte hier weg. Und jetzt konnten sie bleiben!
Erst Rens Gewimmer verriet ihr, dass sie seine Hand immer noch umklammert hielt. Sie ließ ihn los und rannte weiter, aber er folgte ihr nicht. Junhi hielt inne und drehte sich um. Ren war stehen geblieben, mit hängendem Kopf. Seine Schultern zuckten ein wenig.
«Ren! Was ist?», fragte Junhi, während sie zurückging.
«Du … du denkst überhaupt nicht an mich», schluchzte er. «Du rufst merkwürdige Sachen, und dann rennst du einfach so weg! Das gehört sich nicht. Alle im Stamm müssen aufeinander achten! Ich werde es Uma erzählen! Gib nur acht!»
«Pst, ganz ruhig, es tut mir leid», beschwichtigte ihn Junhi. «Die Mammuts kommen, Ren! Uma wird im Gegenteil sehr froh sein, dass wir den Hang hinaufgeklettert sind!»
«Ich habe nichts gesehen!»
«Es tut mir leid, dass ich dich so schnell wieder mitgezogen habe. Aber wirklich, ich sah sie! Eine schöne Herde von Weibchen an der anderen Seite des Tales. Ihre Stoßzähne, Ren! Sie waren so weiß und groß! Wir müssen es Dahs und Uma erzählen. Ich werde langsamer gehen. In Ordnung?»
Er sagte nichts, sondern schaute nur böse unter seinen buschigen Augenbrauen hervor.
«Auch gut», sagte Junhi. Als sie wegging, kam er schmollend hinter ihr her.
Sie waren so weit abgeirrt, dass sie sich einen anderen Weg suchen mussten, um wieder vom Hang hinunterzufinden. Junhi versuchte, sich nicht über Rens Langsamkeit und seine dickköpfigen Fragen zu ärgern. Er konnte nicht wissen, was sie gesehen hatte.
Den Riesenhirsch, den Löwenmann, die Mammutherde …
Was habe ich eigentlich wirklich gesehen?
Der Gedanke überfiel sie wie ein Löwe seine Beute. Der Hirsch, ganz plötzlich wieder verschwunden. Der Löwenmann … Hatte sie geträumt? Und wenn ja, war es dann ein Traum der Mutter gewesen? Waren die Mammuts denn wirklich echt gewesen? Auf einmal konnte sie kaum mehr Luft holen.
«Da ist Tukh!», rief Ren und rannte plötzlich in die entgegengesetzte Richtung, zurück zu dem Felsen anstatt zu dem Fluss.
«Heja, Ren, warte!», rief Junhi. «Au!»
Sie hatte sich zu schnell umgedreht