Todesrunen. Corina C. Klengel

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Название Todesrunen
Автор произведения Corina C. Klengel
Жанр Ужасы и Мистика
Серия
Издательство Ужасы и Мистика
Год выпуска 0
isbn 9783947167081



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Pferde durchgingen. Er wusste nur allzu gut, wie sich so etwas anfühlte und wie süß die Erleichterung schmeckte, wenn man seine Wut an einem anderen Menschen ausgelassen hatte. Allerdings kannte er auch den bitteren Nachgeschmack davon und wie lange es an einem zerrte. Er hatte all das selbst erlebt und hinter sich gelassen. Mit seinem Erfahrungsschatz gelang es ihm sehr oft, die richtigen Worte zu finden, um die zornigen jungen Männer und Frauen zu erreichen. Aber dieser Job hier lag ihm so gar nicht. Gerne hätte er Hülya an seine Kollegin abgetreten, doch er wusste natürlich, traditionelle türkische Familien sprachen nicht mit weiblichen Mitarbeitern.

      Geduldig hatte er gewartet, bis sich die Männer etwas beruhigt hatten. Im Laufe der Jahre hatte er ein wenig Türkisch gelernt, aber das, was heute zu der jungen Frau mit den schönen Märchenaugen gesagt wurde, hätte er am liebsten nicht verstanden. Hülya war eine intelligente junge Frau, der alle Chancen offen gestanden hätten, wäre sie nicht in den Traditionen ihrer Herkunft gefangen. In höfliche Worte gekleidet, hatte man ihm zu verstehen gegeben, dass man seine Einmischung nicht weiter dulden würde. Als er ging, streifte ihn ein scheuer Blick von Hülya. Die großen dunklen Augen des Mädchens verstanden es, ihm in diesem kurzen Augenblick gleichzeitig eine Warnung und Dank zukommen zu lassen, bevor sie wieder sittsam niedergeschlagen wurden und sich an dem grauen Laminatboden vor ihren Füßen festsaugten.

      Mit ungnädig stampfenden Schritten überquerte Schakenbeck die Straße und ließ sich in seinen Wagen fallen. »Heute brauche ich wirklich einen guten Schluck Wein«, murmelte er unendlich müde vor sich hin, als ihm auch noch der Autoschlüssel hinunterfiel. Das Kinn ans Steuer gequetscht, fischte er mit den Händen im Fußraum herum, bis er endlich den metallenen Haufen ertastete. In diesem Moment löste sich eine schlanke Gestalt in Mantel und dunkler Mütze von der völlig im Dunklen liegenden Hausfassade und kreuzte mit schnellen Schritten die Fahrbahn. Wie ein Geist verschwand der Mann in der nächsten Seitenstraße.

      »Meine Güte, da kriegt man ja einen Herzinfarkt«, murmelte Schakenbeck, bevor er den Schlüssel ins Zündschloss friemelte. Mit gehorsamem Brummen meldete sich der Motor.

      Später, mit dem Rotweinglas in der Hand beobachtete Harald Schakenbeck seine Lore, während leckerer Essensduft durch die Wohnung zog. Er ahnte, was kam. Sie hatte schon mehrfach zu ihm hingesehen, seit sie das Telefongespräch angenommen hatte. Es passierte eigentlich nicht so häufig, dass seine Schützlinge sich abends meldeten, aber es kam vor. Lore dagegen arbeitete im Katasteramt, ihr Feierabend war stets endgültig.

      Mit den Worten: »Es ist ein Mann, der sagt, er riefe im Auftrag von einer Hülya an …«, übergab ihm Lore den Hörer.

      »Hülya Gülcan? Hoffentlich ist nichts passiert.« Harald Schakenbeck nahm eilig den Hörer ans Ohr, meldete sich mit kurzem »Ja« und hörte dann stirnrunzelnd zu. »Beim Klusfelsen? Sie ist bis zum Klusfelsen gelaufen? Du meine Güte, die Arme. Ja, ich fahre gleich hin und suche sie. Und Sie sind …?« Harald Schakenbeck blickte den plötzlich verstummten Hörer an. »Anonym. Na gut. Hauptsache es gibt überhaupt jemanden, der sich um das arme Mädchen sorgt.«

      Woher hatte der anonyme Anrufer seine Nummer? Eigentlich hätte sich Harald Schakenbeck dieser Frage sorgfältiger widmen müssen, doch die Sorge um das Mädchen mit dem werdenden Leben im Leib drängte alles beiseite.

      »Ich begleite dich«, bot Lore Schakenbeck an und schickte sich an, nach ihrer Jacke zu greifen. Doch Harald strich seiner Frau liebevoll über die Wange.

      »Nein, lass nur Lorchen. Ich weiß nicht, wie sie reagiert, wenn sie jemand bei mir sieht, den sie nicht kennt. Und warte nicht auf mich. Wenn möglich, bringe ich sie noch heute Nacht woanders unter. Es könnte spät werden.« Er küsste seine Frau, suchte seine Sachen zusammen und verließ die Wohnung.

      Nur eine Stunde später lag Harald Schakenbeck bäuchlings auf dem Boden im Mondschatten des Klusfelsens. Seine Wange ruhte schwer auf einer moosigen Sandsteinplatte. Es roch nach feuchtem Laub. In seinem begrenzten Blickfeld tauchten mehrere lederverhüllte Füße auf, doch es blieb still. Niemand sprach. Der Schmerz, als ihm der Stahl in den Leib gefahren war, hatte bereits nachgelassen. Es fühlte sich nur noch wie ein dumpfes Pochen an. Widerstandslos hatte er sich auf den blutenden Bauch legen lassen. Grob hatte man ihm gegen die Fußknöchel getreten, sodass diese nun dicht beieinander lagen. Als jemand nach einem seiner Arme griff, um ihn in die richtige Position zu ziehen, geriet verschwommen der untere Teil einer Tätowierung in seinen Blick. Doch der Gedanke, dass er so etwas schon einmal gesehen hatte, zerfaserte sofort wieder. Es spielte sowieso keine Rolle mehr. Harald Schakenbeck wusste, dass er keine Möglichkeit mehr bekommen würde, jemandem davon zu erzählen. Sein Leben sickerte unwiederbringlich in die sandgefüllte Feuerstelle unter ihm, die früher von Pilgern der Klus genutzt worden war. Ganz kurz kam ihm in den Sinn, ob seine Seele nun vielleicht den legendären unterirdischen Saal zu sehen bekäme, den man der Sage nach nur mit einer magischen blauen Blume öffnen konnte. Der goldene Saal sollte sich doch irgendwo unter ihm befinden. Er war zu müde, den Gedanken weiter zu verfolgen. Die Geräusche um ihn herum wurden dumpf, als entfernten sie sich von ihm. Die ganze Welt schien sich von ihm zu entfernen, oder entfernte er sich von der Welt?

      Er bedauerte, dass er und seine Frau nun auf all die gemeinsamen Reisen würden verzichten müssen, für deren Verwirklichung nach der Pensionierung sie so lange gespart hatten. Er bedauerte auch, dass sein Tod ausgerechnet drei Tage vor Weihnachten geschah und seine Familie darunter besonders würde leiden müssen.

      Seine Verwunderung über das, was hier passierte, hielt sich in Grenzen. Eigentlich hatte er immer geahnt, dass er für seine Jugendsünde irgendwann würde bezahlen müssen. Allerdings konnte er sich nicht erklären, wie der Mann diese Nacht vor dreißig Jahren überlebt haben konnte. Noch weniger verstand er, warum der sich dann mit seiner Rache so lange Zeit gelassen hatte. Was Harald und achtzehn weitere junge Männer damals getan hatten, war der Grund für das hier. Und es war bestimmend für sein ganzes weiteres Leben gewesen. Er hatte geglaubt, einen Menschen getötet zu haben, und hatte dreißig Jahre dafür gebüßt – auf den Tag genau dreißig Jahre.

      Die Fragen, die ihm dieser Mann jetzt stellte, konnte Schakenbeck gar nicht einordnen. Gerade er musste doch die Antworten kennen. Die Antwort nach dem Warum der Jagd auf ihn vor dreißig Jahren. Harald Schakenbeck hatte seinen Henker nur völlig verständnislos angeblickt und geflüstert: »Du hast sie vergewaltigt und gebrochen. Wieso stellst du mir so eine Frage?«

      Noch verwirrter war er, als den Schmerz sah, den er mit dieser Aussage bei seinem Gegenüber hinterließ. Während des bizarren Verhörs hatte Harald Schakenbeck kaum den Blick von dem Schwert wenden können. Man hatte ihn gezwungen, niederzuknien, die Marienkapelle im Rücken, eine riesige Linde vor ihm. Und vor dieser Linde wartete sein Henker mit dem Schwert, als sei der Klus in dieser Nacht wieder zum Thingplatz geworden. Harald Schakenbeck hatte in sein eigenes Gesicht geblickt, das sich in der glänzenden Scheide des Schwertes spiegelte. Die Blutrinne in der Mitte hatte sein Spiegelbild in zwei Hälften geteilt, die nicht richtig zusammenzupassen schienen. Harald war in diesem Augenblick davon überzeugt gewesen, in dem Schwert sein wahres Antlitz zu sehen. Vor dreißig Jahren war er selbst bereit gewesen, zu töten. In den folgenden dreißig Jahren hatte er versucht, dieses Unrecht an anderen Menschen wiedergutzumachen. Seine Persönlichkeit wies zwei Seiten auf. Dann verschwand das Bild. Sein Inquisitor hatte das Schwert gehoben, es einmal kreisen lassen und dann zugestoßen.

      Harald Schakenbeck starb mit dem Gesicht seiner Frau vor dem inneren Auge.

      Kapitel 15

      Lieber sterben als tatenlos altern.

      – Maxime der Kelten nach Silius Italicus –

      Hochbefriedigt zog Tilla die schützenden Plastikfolien von ihren Möbeln. Farbeimer und Pinsel hatte sie bereits in den Keller gebracht. Sie blickte sich um. Alle Wände erstrahlten in jungfräulichem Weiß, während zuvor Beige-Töne und gemusterte Tapeten das Wohnzimmer dominiert hatten. Ein Halogenstrahlersystem sorgte nun für gleißende Helligkeit. Energisch rückte sie den großen Schreibtisch an die Stelle, wo zuvor der kleinere provisorische Tisch gestanden hatte. Den hatte Tilla mit einem Anstrich und einer neuen