Wie zerplatzte Seifenblasen .... Aylin Duran

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Название Wie zerplatzte Seifenblasen ...
Автор произведения Aylin Duran
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783960743477



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Die Uhren blieben nicht stehen, doch die Zeit lief weiter. Alles, vor dem ich geflüchtet war, existierte noch. Aber es existierte in weiter Ferne und ich brauchte noch Zeit. Ich war noch nicht bereit dazu, meine Blase zu verlassen. Manchmal braucht man den Stillstand.

      Meine Mutter rief drei Tage später an, als Ben und ich gerade am Ufer des Flusses saßen, der mitten durch die Stadt floss und den man nur über eine monströse, steinerne Brücke überqueren konnte. Der Boden war schmutzig und noch kühl, aber wir froren nicht, als wir auf unseren Hosenböden saßen und den Fluss betrachteten. Die Frühlingssonne spiegelte sich im Wasser und erzeugte Tausende schimmernde und funkelnde Reflexionen. Es sah magisch aus.

      „Wie ein Feenzauberstab“, sagte ich.

      Ben schwieg und genoss mit geschlossenen Augen die wärmenden Strahlen der Sonne auf seiner Haut. Ich tat es ihm gleich und plötzlich konnte ich mich voll und ganz auf das sanfte Rauschen und Plätschern des Wassers konzentrieren. Als er zu sprechen begann, flogen meine Augenlider auf. Seine Schokoaugen waren hinter den Lidern verborgen und er wirkte vollkommen entspannt, als er fragte: „Wusstest du, dass Wasser im Buddhismus als Sinnbild gilt?“

      Ich drehte mich auf den Rücken, starrte ihn an. „Sinnbild für was?“

      „Als Sinnbild für den Strom des Lebens.“

      „Warum bist du so fasziniert vom Buddhismus?“, fragte ich ihn, während ich die Unterarme auf die kühle Erde aufstützte.

      Ben bemerkte meine Bewegung, öffnete die Augen in Zeitlupe und blinzelte in das gleißende Sonnenlicht. „Weil es Sinn macht“, entgegnete er. Das Licht verwandelte seine Augen in Schokokaramellbonbons. Als mein Handy klingelte, übertönte es das entspannende Geräusch des rauschenden Flusses und zerstörte die schläfrige Ruhe des Moments. Ich sprang auf die Füße.

      „Es ist Zeit, nach Hause zu kommen“, sagte meine Mutter ohne Begrüßung. Sie klang krank vor Sorge.

      „Es geht mir gut. Wirklich. Ich brauche nur … ein bisschen Abstand von allem.“

      Stille am anderen Ende der Leitung.

      Während ich auf ihre Antwort wartete, lief ich unruhig am Ufer entlang, zeichnete mit meiner Schuhspitze matschige Kreise in die Erde, sah in Bens Richtung, der meinen Blick auffing. Ich hörte meine Mutter durchs Telefon seufzen.

      „Es ändert nichts, Schatz, du hast Abstand genommen, aber irgendwann musst du doch zurückkommen. Es ist eine Geldverschwendung, was du da machst. Du kannst auch daheim in deinem Selbstmitleid baden. Da musst du wenigstens nicht für deine Unterkunft bezahlen. Wenn du so weitermachst, dann kannst du deinen Amerikatraum gleich begraben.“ Sie klang sauer, aber ich wusste, dass sie das nicht war. Sie versuchte nur alles, um mich zurückzuholen.

      „Ich gehe nicht nach Amerika“, sagte ich. Dann legte ich auf.

      Als ich zu Ben zurückstapfte, hatte sich eine steile Falte zwischen meinen Augenbrauen gebildet. „Ich gehe zurück ins Hostel“, kündigte ich an und konnte die schlechte Laune nicht vor ihm verstecken.

      „Wer auch immer angerufen hat, du solltest dir nicht diesen wunderschönen Tag verderben lassen“, erwiderte Ben. Als er zu mir hochsah, blendete ihn die Sonne. Er stand auf und war plötzlich nur wenige Zentimeter von mir entfernt. „Du hast da was“, sagte er leise, während er auf die Stelle zwischen meinen Augenbrauen starrte.

      Ich spürte, wie sich mein Herzschlag beschleunigte. „Was?“

      „Eine Schlechte-Laune-Falte.“

      Wie von einer unsichtbaren Hand gelenkt, bewegten sich Bens raue, warme Finger zu meiner Stirn, um die Falte glatt zu streichen. Er nahm die Hand nicht weg, als er die Falte geglättet hatte. Die Wärme seiner Finger schien sich auf meinen ganzen Körper zu übertragen. Die Stelle, die er in meinem Gesicht berührte, schien zu brennen. Er sah auf mich herunter und die Farben in seinen Augen verschwammen, sodass ich nicht mehr sagen konnte, was ich da sah. Waren sie haselnussfarben? Schokoladenfarben? Oder sahen sie eher aus wie flüssiges Karamell?

      Plötzlich wusste ich es nicht mehr und ich wollte mich auch nicht darauf konzentrieren, mich auf eine dieser Farben festzulegen. Ich wusste nicht, was Ben in diesem Moment dachte – eigentlich wusste ich nie, was in ihm vorging – und genauso schnell, wie seine Hände mein Gesicht berührt hatten, verschwanden sie auch wieder von dort. Er sah verwirrt aus. „Keine Ahnung, warum ich das gerade gemacht habe“, sagte er und räusperte sich verlegen.

      Ich schluckte. Mein Herzschlag war in diesem Moment so schnell und laut, dass ich mir sicher war, er müsste ihn hören.

      „Wegen der Falte?“

      „Richtig.“ Er räusperte sich. „Wegen der Falte.“

      Ich beobachtete, wie er einen Rückwärtsschritt machte, um Abstand zu mir herzustellen. Während ich noch immer die warme Berührung seiner Finger auf meiner Haut fühlen konnte, schien er bemüht, den Gedanken schnellstmöglich zu vertreiben. Seine Knie knacksten, als er sich bückte und wieder auf dem erdigen Boden vor dem Fluss Platz nahm. Mit seinen Augen folgte er dem Strom des Wassers. So konnte er jeglichen Blickkontakt vermeiden. Die entstandene Stille war unbehaglich. Es war nie merkwürdig gewesen, wenn wir uns angeschwiegen hatten. Jetzt war es das.

      Mit geschlossenen Lidern lag ich in der Sonne und versuchte die Tatsache, dass Ben nur wenige Zentimeter von mir entfernt lag, zu verdrängen. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass sein Blick meinen Körper streifte, aber wenn ich die Augen aufschlug und mich in seine Richtung drehte, schien er zu schlafen und sich nicht dafür zu interessieren, was ich tat.

      Immer wieder drängten sich die Worte meiner Mutter in meine Gedanken: „Du kannst nicht ewig bleiben. Nicht ewig Auszeit nehmen und vor den Tatsachen fliehen.“ Obwohl ich es nicht zugeben wollte, hatte sie natürlich recht. Aber ich war noch nicht bereit, nach Hause zurückzukommen. Ich hatte das untrügliche Gefühl, dass es falsch wäre, jetzt zu gehen. Dass es einen Grund dafür gab, warum Ben und ich in derselben Nacht an derselben Haltestation ausgestiegen waren. Allein schon der Gedanke an eine Abreise fühlte sich nicht richtig an. Und was würde mich zu Hause erwarten? Eine kaputte Familie, eine kaputte Beziehung, eine kaputte Freundschaft. Zwar hatte ich mein ganzes Leben vor mir, aber alles, was ich mir für die Zukunft gewünscht und worauf ich hingearbeitet hatte, war innerhalb einer einzigen Nacht zerstört worden.

      „Ich gehe“, unterbrach ich die Stille.

      „Wohin denn?“, fragte Ben mich schläfrig.

      Ich fühlte mich kein bisschen schlecht, als ich seine Frage ignorierte, meine Sachen zusammenpackte und mich mit hastigen Schritten vom Flussufer entfernte.

      „Was soll das?“, rief Ben mir nach, aber ich antwortete ihm nicht.

      Sobald ich den ersten Schritt auf die asphaltierte Straße gemacht hatte, verschwand der Geruch der feuchten Erde und des Wassers. Die Erinnerung an Bens Karamellaugen direkt vor meinem Gesicht verschwand nicht. Ich hatte es satt, mich von ihm herumschubsen zu lassen. Wenn er ein Problem damit hatte, Nähe zwischen uns herzustellen, dann sollte er seine Finger gefälligst bei sich lassen. Grundsätzlich waren es immer seine unüberlegten Handlungen, die uns beide in Verlegenheit und merkwürdige Situationen brachten. Grundsätzlich war ich am Ende diejenige, die mit Schweigen gestraft und behandelt wurde, als hätte sie einen Fehler gemacht. Aber ich hatte keinen Fehler gemacht. Schon bevor ich mich umdrehte, wusste ich, dass Ben mir gefolgt war. Ich beschleunigte meine Schritte, rannte fast. Aber er war schneller. „Ich habe es kapiert, Ben, du hast keinen Bock auf mich. Weißt du, wenn du mich so scheiße findest, dann solltest du mir vielleicht nicht hinterherlaufen“, fauchte ich. Als ich abrupt zum Stehen kam, war er mir so dicht auf den Fersen, dass er mich fast über den Haufen rannte. „Also, was willst du hier?“

      „Was willst du hier?“, entgegnete er. Er meinte nicht den Platz am Fluss, er meinte die Stadt, die ihm ebenso fremd war wie mir.

      „Was willst du mir damit ...“

      Er berührte mich an der Schulter und ich brach meinen Satz