Geisterfahrten. Theres Roth-Hunkeler

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Название Geisterfahrten
Автор произведения Theres Roth-Hunkeler
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783906907451



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sage ich dann, musst du dir von einem Podologen entfernen lassen, das traue ich mir nicht zu.

      Die tun ja nicht weh, erwidert er.

      Ohne auf diese Bemerkung einzugehen, trage ich nun das Peeling-Gel auf und massiere es in die Fußhaut ein, dann fordere ich ihn auf, seine Füße nochmals ins Becken zu tauchen, das Wasser ist wohl mittlerweile kalt, aber das spielt keine Rolle. Ich knie mich hin, rubble seine Füße im kalten Wasser durch und entferne so Gel und Hautschüppchen. Nach dem erneuten Trocknen muss Stern sie nochmals auf meine Oberschenkel legen und nun beginne ich, die Füße meines Bruders reichlich mit Arnika-Fußcreme einzucremen. Fußmassage, sage ich dazu und spüre, dass mir diese Berührungen fast zu intim sind.

      Ich war zehn, als mein Bruder mich auf seinem Motorrad mitnahm und mit mir, platziert hinten auf dem Beifahrersitz, durch das Entlebuch und das Emmental in einen Vorort von Bern fuhr. Schon auf den ersten Kilometern hatte der Fahrtwind mein Kopftuch davongetragen. Ich hatte Angst in den Kurven, Angst, wenn uns ein Auto überholte, ich hatte Angst vor dem Körper meines Bruders, an den ich mich schmiegen musste, dessen Bauch ich umfassen musste mit meinen Armen, ich hatte Angst, mein Bruder würde die Route nicht kennen und wir würden nie an unserem Ziel ankommen, bei einer Kusine nämlich, bei der ich ein paar Ferientage verbringen würde. Aber wir kamen an, und wie, waren wir doch in einem Restaurant verabredet, in dem es ein Aquarium gab, was ich in meinem ganzen Leben noch nie gesehen hatte. Wir nahmen in einem vornehmen Restaurant das Abendessen ein, schrieb ich nach den Frühlingsferien über mein schönstes Ferienerlebnis, und als mein Bruder sich verabschiedete, weinte ich. Schnell ging ich wieder zum Aquarium und betrachtete die Fische, damit niemand sah, dass ich weinte. Warum weintest du?, schrieb der Lehrer unter meinen Aufsatz. Ich wusste es wohl selbst nicht, hatte ich mich doch unglaublich auf die Reise und auf die Ferientage gefreut. Schon damals allerdings war mir bewusst, dass auch das, worauf man sich freut, alles Schöne also, vorbeigehen würde. So hat sich in die Vorfreude und in jeden einzelnen Ferientag bereits ein Vorschmerz über das unabänderliche, künftige Ende des Aufenthaltes gemischt. Die Fahrt war lang und beschwerlich gewesen, mir taten alle Glieder weh, und heute denke ich, mir wurde erst in dem Moment bewusst, als mein Bruder sich verabschiedete, dass ich meine viel ältere Kusine und ihren Mann gar nicht richtig kannte. Die beiden kamen zwei-, dreimal pro Jahr zu Besuch, tranken eine Flasche Wein mit meinen Eltern, erzählten von irgendwelchen Leuten, dann gingen sie wieder weg. Der Mann meiner Kusine war Kaminfeger, meine Kusine war Hausfrau, sie hatten zwei Mädchen adoptiert, weil sie keine eigenen Kinder bekommen hatten. Wirkliche Adoptivkinder hatte ich noch nie gesehen, diesen Status kannte ich nur aus Büchern. Als ich die zwei endlich kennenlernte, sie waren am Wochenende bei einer Freundin der Kusine gewesen, war ich enttäuscht. Sie sahen aus wie gewöhnliche Kinder, die zu meiner Kusine und ihrem Mann Mama und Papa sagten und nicht die ganze Zeit darüber nachdachten, dass sie bloß Adoptivkinder waren.

      Wie lange hattest du eigentlich ein Motorrad?, frage ich in Richtung meines Bruders, ohne die Massage zu unterbrechen. Keine Antwort. Ich blicke hoch und sehe, dass Stern weint.

      Was soll ich nun tun? Stern hat diverse Gründe zu weinen. Vielleicht weint er, weil er alt ist. Da gibt es keinen Trost. Mit dreiundachtzig sei man alt, das schlecke keine Geiß weg, hat er auf der Fahrt hierher gesagt. Oder weint er, weil er zwei Söhne verloren hat? Oder weil das Buschwerk der begrünten Mittelstreifen auf den Autobahnen gerodet wird, da seine Pflege, über Jahre wichtigster Auftrag von Grün, zu gefährlich und der Blendschutz, den es bot, obsolet geworden ist? Und soll ich so tun, als bemerkte ich das Weinen nicht?

      Hast du vielleicht Heimweh?, frage ich schließlich. Aber Stern antwortet nicht und so schlage ich vor: Wir lassen die Fußcreme noch ein wenig einwirken, dann wird die Haut an deinen Füßen so zart wie die eines Babys. Lauf also noch nicht gleich los.

      Wohin denn auch, äußert er, und es klingt nicht wie eine Frage. Dann wischt er sich mit einer Hand über das Gesicht.

      Warte kurz, sage ich, ich hole Taschentücher.

      Filomena konnte auch ihr zweites Kind, Walter, nicht stillen. An einem Abend voller Abendrot – den Tag über hatte es des Öftern schwach geregnet – war es in ihrem Schlafzimmer im oberen Stockwerk des Wirtshauses zur Welt gekommen. Eine Hebamme und Filomenas Mutter waren bei der Geburt dabei gewesen. Zwar hatte auch Ernst als Säugling ab und zu geschrien, meist nach dem Trinken, aber Walters Dauergeschrei wurde bald unerträglich. Er litt an Koliken, ausgelöst wohl von der verdünnten Kuhmilch, die ihm verabreicht wurde, denn Kindermehl für die Zubereitung eines Fläschchens leistete sich niemand im Dorf. Walter schrie tagsüber, er schrie abends und er schrie nachts. Auf dem Dachboden, denn dorthin wurde er über Nacht gebracht, in einen Wäschekorb gebettet, damit niemand sein nervtötendes Geschrei mehr hören musste. Filomena hörte es dennoch, sie lag wach, aber es war ihr untersagt, aufzustehen und zu ihrem Kind zu gehen. Einmal, an einem Sonntagnachmittag, als das Geschrei wieder nicht aufhören wollte, packte Franz den Säugling und zeigte seinem Söhnchen den Meister. Dabei schrie er ihn an: Du sollst schlafen, kapierst du, schlafen sollst du. Walter brüllte nun so heftig, dass er fast keine Luft mehr kriegte und blau anlief. Sein Vater beförderte ihn unsanft wieder zurück in die Wiege, stürzte hinaus und überrannte beinahe seine Frau, die in der offenen Tür stand, schockstarr, bis Bewegung in sie kam und sie Walter aus der Wiege zerrte, ihn kopfunter hielt wie ein totes Kaninchen und ihm immer wieder kleine Klapse auf Rücken und Po verabreichte und schrie: Atme, atme. Dann rannte sie mit dem japsenden Kind in ihr Elternhaus. Ihre Mutter nahm Walter in den Arm und wiegte und wiegte und streichelte und tröstete ihn und schickte Filomena dann in ihr eigenes Bett, damit sie sich endlich ein wenig ausruhen konnte. Wo der gut zweijährige Ernst in dieser Zeit war, wer weiß das.

       5

      Stern, geerdet wie kein Zweiter und gleichzeitig ein Himmelskörper. Sein Bart sprießt üppig, wächst noch immer schnell und lässt ihn immer wieder verstruppt aussehen. Er verwildert. Wie ein alter Kater, nur sind alte Kater in der Regel mager. Für einen Mann, der sein Leben lang unter freiem Himmel gearbeitet hat, bei jedem Wetter draußen war und Maschinen bediente und dessen Tagwerk erst spät abends endete, für einen, der über Jahrzehnte die Jahreszeiten und die wachsenden und abnehmendem Tage und die steigenden und fallenden Temperaturen und die Gewitter und die Stürme am eigenen Leibe erfahren hat, für solch einen ist es wohl noch schwieriger, alt zu werden und nun den größten Teil der Zeit drinnen zu verbringen, schwieriger, als es für Bürogummis und Stubenhocker ist, so nennt Stern alle, die mit dem Kopf arbeiten. Für ihn ist die radikale Beschneidung seines Radius wohl sehr schmerzlich. Weil Stern zittrig ist, beträgt seine Betriebszeit draußen höchstens noch eine halbe Stunde. Mehr leistet sein Körper nicht mehr. Zwar könnten seine Beine mehr bewältigen, ein wenig Restkraft ist in den Beinmuskeln geblieben, aber die Zitteranfälle ermüden Stern und weichen seinen einst so gestählten Körper auf. Denn längst hat sein Körper die Straffheit verloren, das Fleisch die Festigkeit. Könnte man dieses Zittern abstellen, wäre viel gewonnen, sagt er immer wieder. Und er fürchte vor allem die Nacht.

      Die Nacht? Er nickt.

      Ja, die Nacht. Er könne es nicht erklären, sagt er und schaut dabei ins Leere.

      Hast du denn quälende Träume?, bohre ich nach. Er macht nur eine wegwerfende Handbewegung. Träume, sagt er in verächtlichem Ton dazu. Stern fürchtet wohl die Schwärze der Nacht. Ihre dunkle Stille. Es verstört ihn wohl die Abwesenheit jeder Bewegung. Und was soll er denn tun, in der Nacht, wenn es schon schwierig ist, den Tag irgendwie hinter sich zu bringen? Einer, der nicht liest, bloß ein bisschen in der Lokalzeitung blättert. Einer, der nicht mehr gerne Karten spielt. Keine Rätsel löst, kein Radio hört, der sich nicht sonderlich für Sportsendungen und Spieleshows im Fernsehen interessiert. Einer, der sich bis an der Schwelle zum Alter mit nichts anderem beschäftigte als mit Arbeit. Arbeit mit den Händen, Arbeit unter hohem Körpereinsatz. Dieser alte Menschenschlag stirbt allmählich aus, in unserer Familie ganz sicher. Unser Vater war auch so. Nur Linus, Sterns Sohn, hat sich dem verweigert.

      Sterns Körper lässt ihn nun im Stich. Als das Zittern immer stärker wurde, gab es ein paar Sitzungen bei der Physiotherapie. Und es habe tatsächlich