Geisterfahrten. Theres Roth-Hunkeler

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Название Geisterfahrten
Автор произведения Theres Roth-Hunkeler
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783906907451



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      Als ich Adrin an seinem achtzehnten Geburtstag die Dokumente gezeigt habe, studierte er sie eine Weile lang und schob sie mir wieder zu mit den Worten: Großzügig war der Typ, immerhin, aber mit all dem Geld hat er sich freigekauft und mich quittiert. Woher hatte er denn so viel Kohle? Stichwort schwarzes Gold, habe ich geantwortet, denn Loen hatte damals eine hohe Position inne in einer Firma, die mit Erdöl gehandelt hat, vielleicht hat er auch geerbt, was weiß ich. Adrin und ich haben bei dieser Gelegenheit nochmals die Fotos angeschaut, die Loen zeigen, einen blonden Mann mit hellen Augen und sehr heller Haut, der lächelnd in die Kamera blickt. Kopfschüttelnd hat mir Adrin auch die Fotos wieder zugeschoben. Der Typ sollte ja ein Problem für mich sein, hat er gesagt, aber den Gefallen tue ich ihm nicht. Er spielt in meinem Leben ganz einfach keine Rolle, nicht die geringste, und das wird so bleiben. Als ich geschwiegen habe, hat Adrin mich angelächelt und gesagt: Es ist alles in Ordnung, Lisa, mach dir keine Sorgen. Ich bin dir unterlaufen, sozusagen, aber ich bin froh darüber.

      Ich bin auch froh darüber, habe ich gesagt. Wir haben uns umarmt und in meiner Erinnerung war dies das letzte Gespräch, das ich mit meinem Sohn über seinen Vater geführt habe. Vielleicht, denke ich ab und zu, unterlässt er bloß aus Rücksicht zu mir ernsthafte Bemühungen, mit ihm Kontakt aufzunehmen, und wird es erst versuchen, wenn es dafür zu spät sein wird. Oder ich habe ihm überdeutlich vermittelt, dass Loen absolut kein Kind haben wollte, was allerdings stimmt. Denn nachdem die Dinge geregelt waren, hat er mir unmissverständlich erklärt, künftig wünsche er weder zu seinem Sohn noch zu mir irgendeinen Kontakt. Dass Loen mit mir nichts mehr zu tun haben wollte, habe ich verstehen können, aber dass er sein eigenes Kind nicht sehen wollte, das geht bis heute über mein Vorstellungsvermögen. Mit einem Menschen von solcher Härte wollte auch ich nichts mehr zu schaffen haben, und so ist es gekommen, dass Loen und ich nie mehr voneinander gehört haben. Erst viel später hat Adrin mir erzählt, als Kind habe er allen, die nach seinem Vater gefragt hätten, der Einfachheit halber erklärt, sein norwegischer Far sei leider kurz nach seiner Geburt verstorben. Auch in der Schule habe er es so gehalten.

      Loen und Lisa, das hatte mir vor bald dreißig Jahren gefallen, die Verbindung dieser beider Namen. Lisa, so heiße ich seit meinem zwanzigsten Lebensjahr. Den Namen habe ich selbst gebastelt, abgeleitet aus meinem offiziellen Vornamen, der in den amtlichen Dokumenten steht: Elisabeth. Die Eltern und Stern haben mich zwei Jahrzehnte lang Lisbeth genannt, aber mit zwanzig habe ich Lisa durchgesetzt. Eure Kinder heißen nun Ernst und Lisa, habe ich gesagt. Eure Kinder, hat Mutter gemurmelt, und Lisa, ja, ihretwegen, aber von Stern rücke sie nicht ab. So haben wir alle meinen Bruder weiterhin Stern genannt, nur Vater war der Einzige, der mich nie Lisa genannt hat, er hat es von da weg einfach vermieden, mich mit dem Vornamen anzusprechen, weder mit dem alten noch mit dem neuen, er starb kurz vor meinem dreißigsten Geburtstag.

      Vater starb und Stern spülten die Wellen der Depression wieder weit weg von uns. Sein neuer Status als Vollwaise war die Erklärung der Psychiater für das erneute Aufflammen seiner Krankheit, das hat mir Mutter gesagt, mir kam die Erklärung seltsam landläufig vor, aber ich habe nicht nachgefragt, ich war dreißig und hatte nach meiner kaufmännischen Lehre und jahrelanger, ziemlich öder Bürotätigkeit eben begonnen, die Hotelfachschule zu besuchen, das war aufregend und aufreibend zugleich. Dass ich nun Halbwaise war, wurde mir nur bewusst, als meine Mutter die Bezeichnung Vollwaise in den Mund nahm und damit meinen Bruder meinte, das wurde mir erst nach kurzem Nachdenken klar, denn unter einem Vollwaisen stellte ich mir ein Kind vor, aber ich war dreißig und Stern war beinahe fünfzig, und er hatte schließlich eine Frau, Maria, und damals noch zwei Kinder, Petra und Linus, und seine Firma Grün mit Angestellten, und ein Haus hatte er, mehrere Häuser sogar, also, was wollte er mehr, sollte er doch sein gut sortiertes Leben führen und uns nicht mit einem an den Haaren herbeigezogenen Vollwaisen-Syndrom behelligen, denn in der Hotelfachschule funktionierte es gut, alle nannten mich Lisa, und ich trug einen schwarzen Rock und eine weiße Bluse und schwarze Strümpfe und schwarze elegante Schuhe und lernte alles. Wie man perfekt eindeckt, lernte ich, und wie man mehrere Teller gleichzeitig balanciert, auf denen hübsch angerichtete Kalbsschnitzel in Marsalasauce und Beilagen darauf warten, aufgetragen zu werden, stets von rechts natürlich vom Gast aus gesehen, und der Teller muss so gedreht und auf den Tisch gestellt werden, dass das Fleisch auf sechs Uhr zeigt und den Gast sozusagen anschaut, damit er gleich zur Gabel links vor ihm und zum Messer rechts vor ihm greifen und sich über die Schnitzel hermachen kann. Ich glaube, es gab damals noch praktisch keine Linkshänder, in der Ausbildung jedenfalls kamen sie nie zur Sprache, war ihnen wohl die Linkshändigkeit schon in den frühen Jahren mittels rabiater Methoden für immer ausgetrieben worden. Stern interessierte mich in dieser Zeit null und nichts, Mutters Hilferufe allerdings waren schwieriger zu überhören, aber weil ich auch damit keinen angemessenen Umgang fand, ignorierte ich sie, was mir mit der Zeit immer besser gelang, weil ich mir möglichst weit entfernte Praktika aussuchte, die einen obligatorischen Ausbildungsteil der Hotelfachschule bildeten.

      Schließlich starb Mutter, als ich im Myhregaarden Hotel in Stavanger arbeitete und bereits mit Loen zusammen war. Denke ich daran, spült das schlechte Gewissen, mich nicht um sie gekümmert, sondern diese Aufgabe an Maria delegiert zu haben, noch immer Wellen von Scham in mir hoch, und das mag einer der Gründe sein, weshalb ich nun mit meinem schon fast etwas hinfälligen Bruder im Malcantone sitze, kaum habe ich meine Berufsarbeit endgültig quittiert.

      Filomena brachte eine ebenso bescheidene wie überflüssige Aussteuer mit: Gestickte Leintücher, Tischwäsche, Geschirr, Besteck. Das alles landete in einem Überseekoffer auf dem Dachboden. Direkt über der Gaststube lag die Schlafkammer, wo Franz schon immer geschlafen hatte und wo es Platz gab für ein zweites Bett. Eine Verbindungstür führte zu einem zweiten Zimmerchen. Da standen die noch leere Wiege des Säuglings, ein kleiner Tisch und zwei Stühle. Bis Filomena einzog, hatte eine ihrer Schwägerinnen in diesem Raum geschlafen, sie war nun in die Kammer zu ihrer Schwester gezogen, die nachts manchmal aufstehen musste, wenn der behinderte Bruder im Zimmer nebenan nach ihr rief. Gekocht und gegessen wurde in der Küche des Restaurants. In der Zwischenetage gab es einen Abort mit einem Waschbecken und gleich beim Eingang ein Pissoir für die Gäste. Von Beginn an oblag es Filomena, in diesen Räumen für Sauberkeit zu sorgen. Die Chefin inspizierte Abort und Pissoir regelmäßig und trug ihrer Schwiegertochter viele weitere Putzarbeiten auf. Gerne hätte Filomena im großen Garten gearbeitet, aber im Reich ihrer beiden Schwägerinnen hatte sie nichts verloren. Obwohl ihr Elternhaus nur zweihundert Meter entfernt war, überfiel sie immer wieder heftiges Heimweh. Sie hatte vier ältere Brüder und fünf jüngere Schwestern, viele der Geschwister lebten nicht mehr daheim, auch die Jüngste nicht, Paula, ihre Lieblingsschwester. Und sie hatte eine kleine und fröhliche Mutter, die den ganzen Tag sang, und einen Vater, der auf den umliegenden Höfen Schweine und Kälber schlachtete, seltener mal ein Schaf oder eine Geiß. Immer wieder wurde er auch zu einer Notschlachtung gerufen. Ein Rind hatte sich schwer verletzt, eine Kuh musste abgetan werden. Filomena hatte der Mutter, die als Wäscherin etwas dazuverdiente, stets überall geholfen: Im Haushalt, mit den jüngeren Geschwistern, auch an den Waschtagen, schwankte doch der Verdienst des Vaters als Kundenmetzger. Am Tisch hatte bisweilen Schmalhans das Regime übernommen. Oft aber wurde der Vater von den Bauern in Naturalien bezahlt, Fleisch, Kartoffeln und Gemüse kamen in rauen Mengen auf den Tisch, an Brot aber mangelte es stets.

      In ihrer ersten Schwangerschaft gelüstete es Filomena so stark nach Brot, dass sie nicht widerstehen konnte und immer wieder heimlich in der Vorratskammer, direkt hinter der Wirtshausküche gelegen, ein Stück vom Zweikilolaib abschnitt. Sie nahm stark zu. Als das Kind auf der Welt war, ging sie mit ihm zusammen, wann immer sie im Wirtshaus abkömmlich war, in ihr Elternhaus. Ihre Mutter war ganz vernarrt in den Enkel, der gleich um die Ecke wohnte. Auch deshalb und weil sie Ernst nicht stillen konnte, überließ Filomena ihn immer häufiger ihr. Erst recht, als sie nach fünfzehn Monaten erneut schwanger wurde. Ernst hatte gehen gelernt und war im Wirtshaus überall im Weg. Zudem war der Schwiegervater Josef gestorben und Filomena musste Franz häufig bei den Stallarbeiten zur Hand gehen und beim Schneiden von Winterroggen und Sommergerste.

       4

      Ich bin irgendwie angeknipst. Kann nachts nicht