Название | Devolution |
---|---|
Автор произведения | Ralph Denzel |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783941717190 |
Tom dachte an die Mohnschnecken, die er immer so gern gegessen hatte und auch an die Verkäuferin, die ihn meistens bedient hatte. Auch wenn er bisher nur im Seminar gewesen war, hatte sie wohl irgendwoher gewusst, dass er Priester werden würde und ihn immer mit »Herr Pfarrer« angesprochen. Auch wenn es nicht gestimmt hatte, so war dies jedes Mal eine Art von Kompliment für ihn gewesen und er war voller Stolz ein paar Zentimeter gewachsen. Für einige Sekunden merkte er, wie er rührselig bei diesem Gedanken wurde, aber er fing sich sofort wieder.
Ein Kleiderladen daneben schien vom Besitzer aufgegeben worden zu sein, denn auch hier gab es nichts mehr. Die Scheiben waren eingeschlagen und nur noch Kleiderbügel zeugten davon, dass hier einst Kleider gehangen hatten. Die Poster, auf denen junge, manchmal halb anorektische Models in die Kamera gegrinst hatten, waren entweder ebenfalls abgerissen oder hingen nur noch in Fetzen von der Wand wie stumme Zeugen der Zerstörung.
Die Stromaggregate in diesem Gebäude waren schon lange nicht mehr aktiv, daher brannte auch kein Licht. Nur durch die Glasschiebetüren hinter Tom und durch das große Dachfenster in der Mitte des Centers fiel fahl etwas Helligkeit, was jedoch reichte, dass er sich gut orientieren konnte. Kleine Staubflocken schwebten still und leise wie ein Mobile in der Luft, drehten sich in einem leisen Rhythmus hin und her und fielen später hinunter, nur damit andere ihren Platz einnehmen konnten.
Eine Apotheke hatte es wohl am schlimmsten erwischt, denn von ihr war nicht mehr als ein Rohbau übrig geblieben. Alles war umgestürzt und zerschlagen worden, zumindest soweit man es in dem Licht noch sehen konnte. Die Menschen schienen wie die Tiere über dieses Geschäft hergefallen zu sein, Heuschrecken gleich, die auf der Suche nach Nahrung alles aufgefressen hatten, was essbar gewesen war.
Ihre Ziele waren hier jedoch wohl nicht die Nahrungssuche gewesen, sondern – na ja, sie hätten auch ins Seestadion gehen können, um das zu bekommen, was sie hier wohl gesucht hatten.
Irgendwann stand Tom an einer Rolltreppe, die in das Kellergeschoss führte, sich aber nicht mehr bewegte. Er spürte, wie sich wieder ein Kloß in seinem Hals bildete, wenn auch dieses Mal aus Furcht. Die Treppe führte hinunter in eine undurchdringliche Dunkelheit und nur ein kleiner Teil des Kellergeschosses war noch durch das vom Deckenfenster hereinfallende Licht beleuchtet.
Er zögerte und versuchte sich zu entscheiden, wie dringend er die Zigaretten haben wollte. Je länger Tom jedoch in die Dunkelheit blickte, desto mulmiger wurde ihm zumute. Nach ungefähr einer Minute, in der er in seinem Kopf das Für und Wider abgewogen hatte, entschloss er sich doch, nach unten zu gehen. Sein Monster war lauter als die Angst, auch wenn sich die beiden ein heftiges Wortduell geliefert hatten.
Ich steige hinab in die Finsternis – ist es nicht genau das, was ich eventuell sogar wirklich verdiene? Man muss Zeichen sehen, um sie deuten zu können, dachte er – hoffentlich irre ich mich mit diesem.
Langsam und darauf bedacht, kein allzu lautes Geräusch beim Hinabsteigen zu machen, als könnte hinter seiner unbestimmten Angst mehr liegen, nährte er sich nun der Dunkelheit.
»HIIIIIIIIIIIIIIILFE!«
Der Schrei war laut und durchdringend, ließ Tom stolpern und fast die Treppe runterfallen. In letzter Sekunde konnte er sich am Griff festhalten, stieß sich jedoch schmerzhaft die Wade an den Spitzen der Rolltreppenrillen an, die sich wie stumpfe Messer in sein Bein bohrten. Scharf sog er die Luft ein und zog sich mühsam wieder nach oben. Er biss sich auf die Zunge, um nicht laut aufzuschreien, denn etwas sagte ihm, dass es besser war, ruhig zu sein.
»HIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIILFE!« Die Stimme überschlug sich mehrmals, dann hörte er ein leises Zischen, gefolgt von unverständlichem Gemurmel und einem Poltern.
Tom näherte sich der Finsternis vor ihm. Es war klar, dass der Schrei aus dieser Richtung kam. Irgendwo in dem Tiefen des Supermarktes passierte etwas und jemand brauchte Hilfe. Es wäre gelogen, wenn er sagen würde, er hätte es sich nicht überlegt, einfach wieder nach oben zurückzugehen. Vielmehr war es sogar so, dass er am liebsten sofort auf dem Fuße kehrtgemacht hätte und gegangen wäre.
Aber das hatte er einmal zu oft getan und daher war dies nun keine Option. Er hatte eine Schuld, die musste bezahlt werden.
Er erreichte die Lichtgrenze, drehte sich noch einmal sehnsüchtig um. Letzte Chance, dachte er sich, aber er ging weiter, wenn auch nicht ganz unbeirrt und mit einer gehörigen Portion Angst in seiner Brust.
Die Schuld.
Die Dunkelheit umschlang ihn wie ein Tuch, legte sie sich über ihn und verschluckte ihn komplett. Sein Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen.
Er tastete sich langsam weiter, vorsichtig und unsicher, denn er wusste nicht, was vor ihm lag. Was er wusste, war, dass dieser Laden vor langer Zeit geplündert worden war. Noah war dabei gewesen, als die ersten Dämme brachen und die Menschen alles von Wert zusammengerafft und gierig nach oben geschleppt hatten. Es war eigentlich mehr als unwahrscheinlich, dass er hier noch Zigaretten finden würde. Warum war er dann hier unten? Vielleicht war es Vorsehung oder göttliche Fügung, wie es Pfarrer Wutknecht nennen würde.
Einen Grund würde es haben und er konnte nur drei Dinge hoffen: zum ersten, dass er sich hier drinnen nicht hoffnungslos verirren würde und nicht mehr reichzeitig rauskommen würde, bevor … Na ja, das wussten ja alle, was dann passieren würde. Zweitens, dass was auch immer er in diesem Kaufhaus finden sollte, ihn nicht früher töten würde, als er eigentlich vorgehabt hatte zu sterben.
Es konnte schließlich alles hier unten sein. Er hatte in den letzten Wochen immer wieder Rudel wilder Hunde gesehen, die von ihren Menschen ausgesetzt worden waren und nun durch die Innenstadt streunten auf der Suche nach Fressen – oder nach einer leichten Beute.
Auch Katzen marodierten durch die Stadt, ebenso auf ihre blanken Instinkte reduziert: fressen, um zu überleben. Mit den gemütlichen, oft zärtlichen und manchmal etwas verrückten Haustieren hatten diese Tiere nichts mehr zu tun. Sie hatten sich über die letzten Jahrhunderte dem Menschen immer mehr angepasst, wen wunderte es da noch, dass sich die Tiere jetzt ebenso schnell wieder zurückentwickelten, wie es die Menschen getan hatten?
Zu guter Letzt blieb ihm noch ein dritter und letzter, eher frommer Wunsch: Hoffentlich würde er hier für diese gute Tat wenigstens eine Schachtel Zigaretten finden. Er schüttelte seinen Kopf, als würde ihm dies helfen, diesen Gedanken sofort wieder loszuwerden. Er brauchte mehr als eine gute Tat … Dringend...
Unter seinen Füßen knirschte laut Glas. Er setzte noch vorsichtiger einen Fuß vor den anderen, um die unbekannte Gefahr, die in der Dunkelheit vor ihm lauerte, nicht zu warnen. Seine Hände tasteten sich blind durch die Finsternis, bis sie etwas Hartes spürten, an dem er sich entlanghangeln konnte. Früher war es die Gemüseauslage gewesen, doch heute war davon nichts mehr übrig außer dem grünen Podest, auf dem Obst und Früchte präsentiert worden waren. Ein leicht modriger Duft hing über der Auslage. Wahrscheinlich lagen hier irgendwo noch einige vergammelte Überreste, die in aller Seelenruhe vor sich hin schimmeln konnten.
»Komm schon, gib mir ein Zeichen«, murmelte er in die Dunkelheit. Er wusste in diesem Moment nicht, ob die Aufforderung an den Herrn oder an die Person ging, die gerade panisch geschrien hatte. Beides wäre ihm jedoch recht gewesen.
Er tippte auf ein junges Mädchen, das Hilfe brauchte. In den letzten Wochen war es immer wieder zu Vergewaltigungen gekommen, was Tom begrenzt verstehen, aber nicht nachvollziehen konnte. Überall konnte man Orgien feiern, aber manchen Menschen schien das wohl nicht zu reichen. Sie brauchten ein schreiendes, zappelndes junges Ding unter sich, welches sie beherrschen und demütigen konnten. Eine letzte Grenze, die man überschreiten konnte. Mord, Totschlag, Vergewaltigung. Es gab keinen irdischen Richter mehr, der darüber urteilen würde, welche Strafe angemessen war. Manche Menschen brauchten das, hatten vielleicht ihr gesamtes Leben mit diesem dunklen Wunsch gelebt, nur um ihn jetzt, im Angesicht des Endes, auszuleben – und wo wäre so etwas einfacher als hier, in einem Laden, in dem seit Wochen kein Mensch mehr gewesen war? Wer konnte denn ahnen, dass gerade heute ein nikotinabhängiger Pfarrer in spe hier herunterkommen würde?
Aber was würde er