Devolution. Ralph Denzel

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Название Devolution
Автор произведения Ralph Denzel
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783941717190



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Hopkins, was vielleicht nicht die besten Voraussetzungen für das Amt eines Pfarrers waren. Tom erinnerte sich, wie er sich das erste Mal bei einer Predigt Wutknechts vorgestellt hatte, dass Wutknecht wie Hannibal Lecter »Ich genoss seine Leber mit einem ausgezeichneten Chianti« sagen würde und dabei verschmitzt grinsen müssen.

      Diese Vorstellung war jedoch verflogen, als er den Mann hatte predigen hören. Wie ein Donnerschlag hatte er die Gemeinde in seinen Bann gezogen und sie getröstet. Er hatte nicht vom Ende der Welt gesprochen, sondern vielmehr vom kollektiven Einzug ins Reich Gottes. Wenn wir alle sterben, dann werden wir alle im himmlischen Vater weiterleben, hatte er immer wieder betont. Manchen Menschen machte dies Mut und Hoffnung. Andere waren zum Seestadion gegangen – ihnen ging es wohl nicht schnell genug mit der Erlösung.

      Auch dort war er tätig gewesen, hatte die Mitarbeiter vom Roten Kreuz gesegnet, ebenso wie die Leichen, die dort sein sollten. Tom kannte nur die Gerüchte, aber manchmal, wenn der Wind günstig stand, wehte von dort her ein grausamer Duft nach Verwesung,tot wie ein schreckliches Omen.

      Der Pfarrer war eine beeindruckende Persönlichkeit für ihn und er wünschte sich von Herzen, er hätte diesen Mann unter anderen Umständen kennengelernt und von ihm lernen können.

      »Was haben Sie jetzt noch vor, Herr Wutknecht?«, fragte er freundlich.

      Dieser lächelte sanft, zumindest versuchte er es. Unter den Schmerzen, die er litt, kam das Lächeln nur als eine groteske Grimasse rüber. Er schob seine Füße wie ein Skifahrer über den glatten, schwarzen Boden und ließ sich aufseufzend auf einen Stuhl fallen, bevor er antwortete.

      »Ich werde noch ein paar Minuten hier warten, ob vielleicht doch noch jemand kommt, dann werde ich mich schlafen legen.« Die Kirche war heute den ganzen Tag leer geblieben. Anscheinend hatte keiner mehr das Bedürfnis gehabt, geistigen Beistand zu empfangen. Vielleicht war auch einfach keiner mehr übrig.

      »Ich freue mich darauf. Wenn ich aufwache, dann ist alles vorbei und ich bin bei unserem Herrn. Was machen Sie denn noch, wenn ein alter, viel zu neugieriger Mann das fragen darf?« Er versuchte ein Lächeln, was ihm jedoch wieder nicht gelang und in einem schmerzverzerrten Aufstöhnen endete.

      Tom lachte auf, bevor er erwiderte: »Ich werde meine letzten Stunden mit meinen Freunden verbringen. Meinen besten Freunden.«

      »Was ist mit Ihrer Familie? Haben Sie nicht vor heute bei ihnen zu sein?«, fragte Wutknecht überrascht und beugte sich etwas nach vorne. Seine Augen, in denen sich noch die Energie des Mannes spiegelte, fixierten Tom erwartungsvoll.

      Er hatte lange überlegt, sich aber am Ende dagegen entschieden, bei seiner Familie zu sein. Er hatte seine Eltern nochmals besucht, vor drei Tagen, hatte einen ganzen Tag mit ihnen verbracht und ihnen dabei zu erklären versucht, warum er in seinen letzten Stunden nicht bei ihnen sein konnte. Seine Mutter hatte Rotz und Wasser geheult und ihn angefleht, doch bitte zu bleiben und auch sein Vater war den Tränen nahe gewesen, was für den stolzen Mann sehr selten war. Aber Tom war konsequent geblieben.

      »Wir werden uns ganz bald wiedersehen, das könnt ihr mir glauben«, hatte er ihnen immer wieder gesagt und versucht sie zu trösten, was jedoch vergebliche Liebesmühe gewesen war. Es hatte gedauert, bis er sich endlich aufgerafft hatte zu gehen, doch als er es getan hatte, war er mit einem Gefühl der Erleichterung gegangen. Es war ihm so vorgekommen, als würden seine Eltern wirklich damit zurechtkommen, dass sie ihren Sohn gerade das letzte Mal gesehen hatten.

      Was er nicht wusste, war, dass sein Vater, der jahrelang Apotheker gewesen war und auch sehr erfolgreich einen eigenen, kleinen Laden in Toms altem Heimatort geführt hatte, heimlich eine Überdosis Schmerzmittel zur Seite geschafft hatte. Seine Eltern waren, nachdem ihr Sohn fort gewesen war, wieder zurück in ihr Haus und in ihr Schlafzimmer gegangen. Sie hatten stundenlang dagelegen und sich einfach nur angeschaut, die Nähe des anderen genossen, genauso wie sie es als Frischverheiratete getan hatten, sich irgendwann noch ein letztes Mal geliebt und dann einen tödlichen Cocktail aus Schlaftabletten und Alkohol zu sich genommen. Während ein immer schneller werdender Schwindel sie umschlossen hatte wie ein schwerer Handschuh, hatten sie sich in die Augen geschaut, tief und voller Ruhe. Ihre Gedanken waren bei ihrem Sohn gewesen und ihr letzter, sehnsüchtiger Wunsch war gewesen, dass er sich nicht irren würde mit seinem Versprechen.

      Tom würde nie erfahren, was mit seinen Eltern passiert war. Wenn er es getan hätte, dann wäre er glücklich in dem Wissen gewesen, dass seine Eltern Frieden gefunden hatten, als sie starben. Er wusste und würde es im Laufe des Abends erfahren, dass dieses Privileg nicht unbedingt jedem zuteilwerden musste.

      Er fühlte sich, als wäre in dieser Richtung alles geklärt. In seinem Leben gab es noch unzählige lose Enden, die er zu kitten hatte, aber dieses eine Kapitel war abgeschlossen und eines der wenigen Dinge, die er richtig gemacht hatte.

      Daher sagte er zu Pfarrer Wutknecht: »Ich habe mich von meinen Eltern schon verabschiedet – und ganz ehrlich, ich glaube, meine Freunde brauchen geistigen Beistand heute etwas dringender als meine Eltern.« Es war ein sehr schwacher Versuch eines Witzes, was Pfarrer Wutknecht sofort merkte.

      »Seien Sie ehrlich, Tom: Sie und Ihre Freunde haben sicher nicht vor, heute in einer stillen Runde Rosenkränze zu beten, oder?« Er lächelte, dieses Mal etwas überzeugender als zuvor, und das müde Grinsen wurde nicht von einer neuerlichen Schmerzwoge hinweggespült.

      Tom lachte zweimal kurz auf.

      »Nein, das haben wir wirklich nicht. Wir wollen einfach noch einmal zusammen sein.«

      »Das ist schön. Freundschaft ist eine wunderbare Sache.« Mühsam richtete er sich auf. Kurzzeitig schien es, als würde er nicht mehr die Kraft finden, aus seinem tiefen Stuhl hochzukommen. Tom überlegte für einige Sekunden, ob er helfen sollte, entschied sich dann aber dagegen, denn mittlerweile kannte er den Stolz seines Mentors nur zu gut.

      Als Pfarrer Wutknecht endlich auf den Beinen war, trat er auf Tom zu und legte die Hand auf seine Schulter. »Ich hoffe, ich war Ihnen auch so etwas wie ein Freund.« Sein Blick war ernst und durchdringend. So durchdringend, dass Tom einen Kloß im Hals bekam. In den Worten steckte keine große Sentimentalität, sondern nur ein ernster Wunsch.

      »Ja, das waren Sie«, erwiderte er aufrichtig.

      Die beiden Männer, die fast fünfzig Jahre Altersunterschied trennten, waren in den letzten Wochen wirklich so etwas wie Freunde geworden. Während die Welt Stück für Stück zugrunde gegangen war, hatten sie in den wenigen Pausen. die sie gehabt hatten. zusammengesessen und geredet. Über Gott, über den Sinn des Lebens und über das nahende Ende – und wie es wohl danach weitergehen würde.

      Wutknecht hatte ihm eines Tages bei einem Schluck Wein, etwas anderes war in der Sakristei nicht verfügbar gewesen, seine Vorstellung von einem Jenseits erklärt.

      »Ich glaube, es ist ein Ort voller Ruhe.« Er war sich über seine Rippen gefahren und hatte eine kleine Pause eingelegt, bevor er fortgesetzt hatte. »Ohne Leid und Schmerz, ein perfekter Zustand, den wir Menschen gar nicht erklären können, weil wir ihn nicht kennen. Absolute Zufriedenheit. So stelle ich es mir vor.« Er hatte danach einen langen Schluck aus seinem Plastikbecher genommen und seine wachen Augen auf Tom gerichtet. »Es brennt mir unter den Fingern, es zu fragen, entschuldigen Sie bitte einem alten Mann seine Neugier: Was erwarten Sie, Tom?«

      Tom hatte nicht eine Sekunde gezögert, bevor er antwortete. »Kennen Sie den Film »The Green Mile«?«

      Wutknecht hatte genickt.

      »Dort gibt es eine Stelle. Der erste Mensch, der in diesem Film hingerichtet wird, zeichnet ein Bild von einem Himmel, auf das auch ich hoffe: dass man in seinem Tod genau in den Momenten weiterleben kann, in denen man am glücklichsten gewesen ist.« Tom hatte kurz gezögert und dann hinzugefügt: »Ich habe unzählige traurige Momente erlebt in meinen Leben, aber genauso viele unglaublich intensive und wunderschöne. Mit meinen Freunden, die für mich wie Brüder geworden sind. Mit Menschen, die mich unglaublich berührt haben.« Er stockte kurz, als schien er seine nächsten Worte genau zu überlegen, bevor er fortfuhr: »So was möchte ich bis in alle Ewigkeit erleben dürfen. Das wäre mein Himmel.«

      »Eine