Название | Devolution |
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Автор произведения | Ralph Denzel |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783941717190 |
Aber da hatten sie ihre Rechnung ohne die Verkäuferin gemacht.
»Nein, ich würde gern den Personalausweis sehen.« Sie machte eine minimale Pause »Bitte.«
»Aber wir haben nur unsere Schülerausweise! Schauen Sie, da steht es!« Tom zeigte auf die gefälschten Geburtsdaten. »Da steht es doch. Wir sind 18.«
»Ihr wohnt in Konstanz. Wir sind so nahe an der Grenze, dass man per Gesetz IMMER seinen Personalausweis dabeihaben muss«, erwiderte die Frau. Sie wirkte fast genüsslich dabei.
»Ja, aber wir gehen nachher an den See, da nehmen wir nur einen Ausweis mit, den man eventuell auch verlieren kann, sollte man beklaut werden, während wir baden«, konterte Mick gekonnt. Es war Noah, der diese Scharade verdarb, denn er warf Mick einen respektvollen Blick zu. Die Verkäuferin merkte dies, nahm die Flaschen vom Band und stellte sie zu ihren Füßen.
»Netter Versuch, Jungs. Netter Versuch«, gab sie kühl zurück.
»Kennen Sie das Wort Bigotterie?«, fragte Noah spitz. Die Frau blickte ihn verwundert an.
»Genau das machen Sie. Verkaufen uns, die alle alt genug sind und auch clever genug, um Alkohol zu trinken, keinen Alkohol. Wir machen alle Abitur und ja, wir wissen, dass es kein Garant ist, dass wir keinen Blödsinn machen. Aber überlegen Sie sich mal eines. Für wen ist der Alkohol wohl gefährlicher: Für uns vier, die aufeinander aufpassen, auch wenn wir etwas zu viel trinken, die am Montag wieder zur Schule gehen und für unser Abitur arbeiten? Oder für die beiden, die gerade hier waren?« Er zog die Nase hoch und verzog angewidert das Gesicht. Die Duftwolke der beiden klebte noch an dieser Kasse. »Man kann sie noch riechen. Die beiden werden sich wohl zu Hause irgendwann in den Tod saufen, sind irgendwo jenseits von Zurechnungsfähigkeit, aber die bekommen Alkohol. Meinen Sie nicht auch, dass das falsch ist?«
Die Frau funkelte ihn wütend an und stellte die Flaschen wieder auf das Fließband. Sie spuckte den Endbetrag geradezu aus und Noah gab ihr grinsend das Geld. Warum es geklappt hatte, wussten die Freunde nicht. Vielleicht hatte es daran gelegen, dass Noah gerade wieder Luft geholt hatte und weiter ausführen wollte, warum sie jetzt unbedingt Alkohol brauchten, vielleicht hatte er die Frau auch einfach überzeugt.
Es war wunderschöner Abend geworden. Sie hatten Noah hochleben lassen, als sie aus dem Laden gekommen waren und dann an den See gegangen, dorthin, wo sie auch heute sein würden. Auch hatten sie ein paar Mädchen kennengelernt, die vor allem an Noah Gefallen gefunden hatten. Er war irgendwann gegen zwei Uhr morgens mit einer von ihnen verschwunden und eine Stunde später mit offener Hose und einem breiten Grinsen zurückgekommen.
Schöne Erinnerungen.
Während die Jungs älter geworden waren, hatte es immer wieder aufs Neue Sechzehnjährige gegeben, die versucht hatten, die Verkäuferin davon zu überzeugen, dass sie alt genug waren für Alkohol. Aber keiner schien es jemals wieder so geschafft zu haben wie Noah. Meistens saßen sie dann vor dem Einkaufszentrum, grimmig dreinblickend, und ließen ihren Frust an Fußgängern aus, die sie anpöbelten und denen sie Obszönitäten nachriefen.
Auch Tom, Mick, Chris und Noah hatten oft dort am Einkaufszentrum auf einer kleinen Mauer gesessen, geraucht, Frauen nachgeschaut und überlegt, was sie am Abend machen sollten, ob sie mit dem Bus in die Innenstadt fahren sollten, der direkt davor gehalten hatte, oder ob sie an den See gehen sollten.
Es waren schöne Zeiten gewesen.
Gewesen.
Sie waren vorbei. Seit Monaten saßen hier nun keine Jugendlichen mehr, die meistens mehr Kinder als Erwachsene gewesen waren, aber dies nicht hatten wahrhaben wollen und mit Unverständnis und sogar Wut darauf reagiert hatten, wenn man sie so behandelt hatte.
Auch sie waren so gewesen, alle vier, dessen war sich Tom mittlerweile bewusst, als er nun über die Straße ging, vorbei an einem Kiosk und dann vor der Mauer stehenblieb, auf der auch er so oft gesessen hatte.
Seufzend ließ er sich nieder und kramte in seiner Tasche nach einer Schachtel Zigaretten, nur um dann leise fluchend festzustellen, dass er keine mehr hatte. Eigentlich hatte er vor einem Jahr mit dem Rauchen aufgehört, zur Fastenzeit, aber er sah darin keinen Sinn mehr. An Lungenkrebs konnte er nun definitiv nicht mehr sterben.
Enttäuscht warf er die Packung in Richtung eines Mülleimers neben sich und blickte auf seine Uhr. Es würde noch dauern, bis Chris hier auftauchte und sie dann zum See gehen könnten.
Die Hitze war in der Zwischenzeit etwas erträglicher geworden. Wahrscheinlich war ihm der Temperaturschock so extrem vorgekommen, nachdem er aus der kühlen Kirche getreten war und dann in den Backofen, in dem Konstanz derzeit gegart wurde.
»Wenn ich jetzt schon schwitze …«, murmelte er leise und lachte auf. Es würde noch viel, viel heißer werden. Ein paar Millionen Grad ungefähr, wenn die Wissenschaftler recht behalten sollten.
Er blickte sich um, ob vielleicht Chris irgendwo in der Nähe war, aber es war weit und breit nichts von ihm zu sehen oder von sonst einem Menschen, die zu normalen Zeiten hier über die Bürgersteige flaniert waren.
Seufzend blickte er zu seiner weggeworfenen Schachtel Zigaretten, die zusammengeknüllt auf dem grauen Asphaltboden lag. Ein Nichtraucher könnte nie verstehen, was gerade in ihm vorging. Alan Carr, der Nichtraucherguru, hatte es immer als ein »kleines hungriges Monster« bezeichnet, das sich von Nikotin ernährte. Wenn es Hunger bekam, dann kreischte es umso lauter nach seinem Futter und gab erst wieder Ruhe, wenn es was zu fressen bekommen hatte.
Tom musste grinsen, denn diese Metapher schien wie die Faust aufs Auge zu passen. Nur schien das Monster nicht in seinem Kopf zu sitzen, vielmehr spürte er es in seiner Magengrube, wo es mürrisch auf und ab ging und genervt auf die anstehende Fütterung wartete.
»Gibt ja gleich was«, sagte Tom und stand stöhnend auf. Sein Hintern war sehr heiß geworden von den wenigen Sekunden auf den aufgeheizten Steinen, und er klopfte sich etwas gegen die Hose, um sie abzukühlen.
Wahrscheinlich würde er zum letzten Mal in seinem Leben in den Supermarkt im Keller des Einkaufszentrums gehen. Er erwartete nicht, dass er dort Glück haben und Zigaretten finden würde. Viel wahrscheinlicher war, dass alles, was auch nur irgendwie von Wert war, schon längst geplündert war und nun nur noch leere Regalskelette auf ihn warten würden.
Aber er wollte es versuchen.
Daher ging er die gefliesten Stufen des Centers hoch, um für sein Monster Futter zu suchen.
Immer wieder kreisten die Worte von Pfarrer Wutknecht in seinem Kopf. Ich hätte es ihm sagen müssen. Er hätte gewusst, was ich tun soll.
Nein, es ist richtig so. Der Herr wird mir verziehen haben. Ich habe meine Schuld abgearbeitet, sprach er beruhigend auf sich ein, konnte jedoch nicht sagen, ob dies blanker Selbstbetrug oder feste Überzeugung war. Manchmal lag zwischen diesen beiden Dingen nur ein papierdicker Grad, dachte er grimmig.
Das Kaufhaus war etwas kühler als draußen, aber dafür um einiges stickiger. Nach wenigen Metern musste er das erste Mal laut husten, was wie ein wütendes Bellen durch die leeren Räume hallte.
Die Geschäfte zu seiner Linken wie auch zu seiner Rechten waren komplett verwüstet und geplündert worden. Auf dem Boden lagen Zettel und zertrampelte Lebensmittel, die wohl beim Abtransport runtergefallen und in der Eile des Augenblicks dann zurückgelassen worden waren.
Eine Bäckerei war so verwüstet, dass man sich nur mit viel Fantasie vorstellen konnte, was hier mal verkauft worden war. Die Auslage war zertrümmert und teilweise waren sogar die Bleche rausgerissen worden. Der Ofen war weit