Devolution. Ralph Denzel

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Название Devolution
Автор произведения Ralph Denzel
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783941717190



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allen viel Glück.« Eine Pause. Gefasst fuhr er fort. »Es sind nun noch sieben Stunden bis zum Aufschlag.«

      Damit wurde das Bild schwarz. Sie spielten nicht die typische Erkennungsmelodie am Schluss, und es schlossen sich auch keine Wetterberichte an. Stattdessen zeigte der Fernsehbildschirm nur einen Countdown, der nun bei 7:12:03 stand.

      Sieben Stunden, zwölf Minuten, drei Sekunden, eine ungefähre Schätzung, nicht mehr.

      Noah schaltete den Fernseher aus und streckte sich mit knackenden Knochen. Aus seinem Schlafzimmer war ein leises Röcheln zu hören. Er kannte den Namen der Frau nicht, die dort auf seinem Bett lag und sich gerade eine Überdosis gesetzt hatte.

      Vielleicht hätte er irgendwie versuchen sollen, ihr zu helfen, aber er konnte es nicht. Er wusste nicht, wie viel Gras er geraucht hatte. Vor knapp vier Stunden hatte er sich überlegt, ob er ebenfalls Heroin ausprobieren sollte, aber war beim Gras und beim Koks geblieben. Seine Begleiterin hatte er auf einer Drogenparty in der Innenstadt von Konstanz getroffen und sie mitgenommen. Es war nicht mehr schwer.

      In den letzten Monaten hatte er eine Art von Devolution erlebt. Von einer funktionierenden, halbwegs friedlichen Gesellschaft hatte sich Deutschland innerhalb von wenigen Monaten zu einem panischen, anarchischen und brutalen Haufen entwickelt, der wie die Tiere nur noch auf primitive Urinstinkte reduziert war.

      In seinem Schlafzimmer lag gerade das perfekte Beispiel für eben diese Entwicklung. Die Frau war Doktorandin an der Universität gewesen. Sie wäre kurz vor der Vollendung ihrer Arbeit gewesen, hatte sie ihm gesagt. Eine strahlende wissenschaftliche Karriere hatte vor ihr gelegen, ein Leben zwischen Vorlesungssälen, Seminaren und akademischen Würden in aller Welt. Aber jetzt würde ihr Leben mit einer Nadel im Arm enden, im Schlafzimmer eines Mannes, dessen Namen sie wahrscheinlich nicht kannte.

      Wie ein Feuerwehrmann, der sich seine Sauerstoffmaske über das Gesicht gezogen hatte, klang es aus seinem Schlafzimmer. Ein rasselndes, quietschendes Geräusch, welches immer leiser wurde, bis es irgendwann verstummte.

      Noah wollte schlafen. Mühsam kämpfte er gegen die Müdigkeit an, die sich als ein fast übermächtiger Feind erwies. Die Drogen in seiner Blutbahn ließen seine Glieder sich anfühlen, als wären sie mit einem bisher nicht entdeckten Schwermetall gefüllt. Torkelnd versuchte er sein Badezimmer zu erreichen, was er nach einer halben Ewigkeit auch endlich schaffte. Sein Schädel wummerte in unkontrollierten Schwindelanfällen, die ihm den Boden unter den Füßen wegzuziehen versuchten.

      Er hämmerte auf den Lichtschalter direkt neben der Eingangstüre und die kleine Lampe, die unter einem alten Glasschirm versteckt war, flackerte ohne zu murren auf.

      Es wunderte ihn, dass der Strom noch floss. Ebenso, dass das Wasser noch lief, als er den Hahn aufdrehte und eiskaltes Wasser in das Waschbecken laufen ließ. Er stellte sich vor, dass irgendein Mensch noch in den Stadtwerken saß und verzweifelt versuchte, alles am Laufen zu halten, einsam wie der Mann auf dem Mond. Irgendwie machte ihn dieser Gedanke wehmütig, auch wenn sein benebelter Verstand nicht ergründen konnte, warum.

      »Ich habe diesen Job geliebt. Darum bin ich hier.« Die Worte des Moderators klangen noch leise in seinem Kopf nach und genügten ihm in dieser Sekunde als mögliche Erklärung.

      Er steckte seinen Kopf ins Waschbecken. Wieder diese Müdigkeit, die ihn sogar jetzt fast einschlafen ließ, während sein Körper gegen die brutale Behandlung mit eiskaltem Wasser rebellierte.

      Sein Gesicht begann erst zu kribbeln, bevor die Blutgefäße im Gesicht sich zusammenzogen und der typische, stechende Schmerz einsetzte, den man empfand, wenn eine Unterkühlung drohte. Sein ganzer Körper fühlte sich an, als wäre er in Watte eingepackt und ihm in den letzten Stunden fremd geworden.

      Nach einer Weile begannen seine in den letzten Wochen stark malträtierten Lungen zu protestieren und mit einer kompromisslosen Beständigkeit nach Luft zu fordern. Irgendwann musste er diesem Drang nachgeben und tauchte prustend wieder auf.

      Das Wasserbad hatte etwas Wirkung gezeigt. Während er laut schnaufend nach Luft schnappte, merkte er, wie sich das Blei in seinen Gliedern verflüssigte und er wieder etwas wacher wurde. Auch die tumbe Taubheit in seinen Gliedern wich einem wachsenden Gefühl, dass sein Arm wirklich zu ihm gehörte.

      Er wiederholte diese Prozedur noch mehrmals, bis er sich fitter fühlte. Eigentlich war er immer noch weit davon entfernt, nüchtern oder überhaupt auch nur ansatzweise zurechnungsfähig zu sein, aber es würde wohl reichen, um zu seiner Verabredung zu gehen.

      »Miau.«

      Sein schwarzer, dicklicher Kater stand in der Badezimmertür und betrachte neugierig sein Herrchen. Müde gähnte die Katze und machte einen Buckel, bevor sie sich langsam und graziös auf Noah zubewegte. Laut schnurrend strich er um die Beine seines Herren und presste seinen Körper mit aller Kraft dagegen.

      Er beugte sich hinunter und streichelte das Kinn des Tieres, welches genüsslich die Augen schloss und die Streicheleinheiten genoss.

      »Hast du Hunger?«, fragte Noah mit undeutlicher Stimme. Seine Stimmbänder waren immer noch etwas von den Drogen gelähmt. Er musste sich mehrmals an der Wand abstützen, als er aus dem Badezimmer über seinen kahlen Flur in Richtung Wohnzimmer schwankte. Es wunderte ihn, dass sein Kater verstanden hatte, was er gerade gesagt hatte. Die Worte waren ihm wie ein undefinierbarer Buchstabenbrei vorgekommen, den er wie einen Kloß im Hals hochgewürgt hatte. Seine Katze jedoch, nun in freudiger Erwartung auf ihr Fressen, trippelte ihm zwischen den Beinen durch und miaute immer wieder hektisch.

      »Gleich, gleich, mein Schatz«, murmelte Noah, als er endlich im Wohnzimmer war. Aus einem kleinen Futtermittelschrank, den er an seiner linken Wand direkt neben dem Katzenklo hingestellt hatte, holte er eine Dose Nassfutter heraus.

      Das Tier wusste nun nicht mehr so richtig, wo es zuerst hinrennen sollte. Immer wieder raste der Kater zu seinem Fressnapf, welcher an der anderen Wand neben seinem deckenhohen Kratzbaum stand, nur um dann festzustellen, dass er noch immer leer war.

      In seiner Unsicherheit, warum es noch kein Futter hatte, sprang das Tier in seinen Kratzbaum, legte sich kurz in seine Kuschelhöhle, sprang wieder heraus, rannte wieder zu Noah, miaute mürrisch, weil er es nicht schaffte, die Dose zu öffnen, rannte wieder zu seinem Fressnapf und zurück zu seinem Kratzbaum.

      Als Noah endlich die Dose geöffnet und den Inhalt in den Napf geleert hatte, gab es für das Tier kein Halten mehr. Als hätte er die letzten Monate nichts zu fressen bekommen, stürzte er sich auf das Futter, verschlang es mit einer Gier, die ans Obsessive grenzte. Laut schmatzend schlang er alles bis auf den letzten Bissen hinunter.

      Noah beobachte das Tier und fühlte sich auf einmal traurig, nur wusste er nun genau, woher diese Emotion kam. Es waren diese Abschiede, die einem so unendlich schwer fielen. In diesem Moment war er fast schon glücklich, dass er seit Jahren keinen Kontakt mehr mit seinen Eltern gehabt hatte und auch nicht das Bedürfnis empfand, dies zu ändern.

      Aber sein Tier war seit fast vier Jahren sein ständiger Begleiter. Ein Begleiter, der immer da war, nie verurteilte und nie Vorwürfe machte. Eine bedingungslose Liebe, die er mit seinem Herren geteilt hatte.

      Noah wandte sich ab, bevor er anfing zu weinen.

      Er musste sich anziehen. Nackt wollte er nicht an den See gehen. Der letzte Ort in seinem Leben. Zum Glück hatte er noch ein paar Kleider in seinem Badezimmer, sonst hätte er jetzt ins Schlafzimmer gehen und dort die Leiche seiner Kurzzeitbekanntschaft sehen müssen. Sofern der »goldene Schuss« seine Wirkung nicht verfehlt hatte. Dies war ein Anblick, den er sich gern ersparen wollte.

      Er brauchte wieder eine halbe Ewigkeit, bis er im Badezimmer war, auch wenn es dieses Mal ein bisschen schneller und koordinierter ging. Er zog aus seinem Rattanwäschekorb ein vergilbtes T-Shirt und eine dreckige Hose, ebenso wie eine Unterhose und ein Paar Socken. Für eine Sekunde schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf, der ihn erzittern ließ in seiner Endgültigkeit.

      Die letzte Kleidung, die ich je tragen werde. Diese Socken und diese Unterhose, dieses T-Shirt und diese Hose. Er würde in diesen Kleidungsstücken sterben. Wie viele andere »letzte Male« würde