Название | Devolution |
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Автор произведения | Ralph Denzel |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783941717190 |
Der Mann blieb stehen und drehte sich um, wobei er jedoch weiter auf der Stelle trabte. Mit der rechten Hand zog er sich die Kopfhörer aus den Ohren, mit der linken maß er, sich verrenkend, seinen Puls. Leise hörte man Eric Clapton aus den Kopfhörern singen. Er spielte gerade »Cocain«, wenn Noah sich nicht komplett irrte.
»Was ist denn?«, fragte sein Gegenüber ungeduldig, als hätte er irgendwo einen wichtigen Termin, zu dem er nun in aller Eile rennen musste. Aber niemand musste mehr irgendwo hin. Wir sind wandelnde Leichen, die dem Ende entgegensehen, ging es Noah durch den Kopf.
»Entschuldigung, aber«, Noah stockte kurz. Ein kleiner Schwindelanfall erfasste ihn. Entweder eine Nachwehe vom Nikotin, vom Kokain, oder einem anderen guten Stoff, der wahrscheinlich auf »in« endete. Das Bild des Joggers, der ihn mit einer Mischung aus Enervierung und aufkeimender Wut anblickte, verblich kurzzeitig wie ein Aquarell, bei dem der Maler zu viel Wasser benutzt hatte.
Noah presste die Augen zusammen, was ihm zu einiger Klarheit half und die Konturen des Mannes wieder schärfer machte.
»Was zur Hölle machst du hier?« Er hatte sich entschlossen, auf die Etikette zu pfeifen. Jetzt war es eh egal. Höflichkeit war eine Tugend derer, die einen fremden Menschen noch am nächsten Tag wieder sehen könnten. Alles, was von dem Mann gegenüber morgen noch übrig sein würde, könnte man höchstens unter einem Mikroskop untersuchen – wenn es noch Mikroskope geben würde.
»Wonach sieht es denn aus?«, antwortete der Jogger gereizt und wollte sich abwenden und weiterlaufen.
»Ich weiß, wonach es aussieht!«, erwiderte Noah im gleichen Tonfall. »Ich verstehe nur nicht – warum?« Er warf einen Blick zum Himmel.
Dort oben, irgendwo in diesem blauen Himmel stand er. »Bright Bob«. Noch konnte man ihn nicht sehen. Wie ein grausamer Attentäter versteckte er sich irgendwo hinter einer Baumkrone oder einer der Wolken, die wie Luftschiffe gemächlich über den Himmel zogen.
Der Jogger folgte seinem Blick und runzelte die Stirn, als würde er dort oben wirklich nichts sein. Nur ein blauer Himmel und einige Schäfchenwolken.
»Wo ist das Problem?«, fragte er achselzuckend.
»Vielleicht, dass uns in wenigen Stunden der Himmel auf den Kopf fällt?«, antwortete Noah, schockiert und auch gleichzeitig ein bisschen neidisch über so viel Gelassenheit.
»Quatsch«, antwortete der Mann.
»Wie bitte?« Noah blickte ihn irritiert an. »Da steht das Ding!« Er zeigte zum Himmel – irgendwo dort musste das »Ding« wirklich stehen. Sobald die Dunkelheit einsetzen würde, könnte man »das Ding« auch wirklich sehen, aber nun war der Himmel noch zu hell erleuchtet vom letzten Tageslicht, welches jemals auf die Stadt am Bodensee fallen würde.
»Es rast mit einer ungeheuren Geschwindigkeit auf uns zu! Beim Aufprall wird sich eine Hitze entwickeln, die alles in einem Umkreis von …« Wie groß war der Umkreis gleich wieder gewesen? Sein Gehirn war wohl noch nicht wieder auf volle Leistung hochgefahren.
»… in einem ziemlich großen Umkreis alles verbrennt. Was heißt also Quatsch?«
»Das ist Blödsinn, ok?«, erwiderte der Jogger. Seine Stimme klang etwas brüchiger, ängstlicher und hatte auch die grimmige Genervtheit verloren, die davor aus jeder Silbe getropft war. »Das ist absoluter Blödsinn!«, setzte er trotzig hinzu. Sein braunes Gesicht spannte sich zu einer seltsamen Maske, auf der mehrere Emotionen gleichzeitig wie auf einem Schlachtfeld um die Vorherrschaft kämpften. In der einen Sekunde hatte die Angst die Oberhand, in der nächsten war es Ignoranz und dann plötzlich wieder Zorn. »Man hat gezeigt, dass das »Ding« nicht groß genug ist, um durch unsere Atmosphäre zu dringen. Die Messungen von Henrys sind doch allesamt widerlegbar. Die Flugbahn des Asteroiden wird dazu führen, dass er genau an der Atmosphäre abprallen wird, und auch wenn er eintritt, so wird er verglühen! Die Größe von »dem Ding« ist völlig falsch berechnet worden!«, sagte er mit einer Sicherheit, die Noah kurzzeitig an ein Kleinkind erinnerte, während er jede mögliche Theorie aufzählte, die während der letzten Monate von ängstlichen Wissenschaftlern in die Welt hinausposaunt worden war. Alle hatten eines gemeinsam gehabt: In der blanken Hoffnung, dass das Ende der Welt vielleicht doch noch um einige Jahre verschoben worden war, hatten sie Daten bewusst oder unbewusst falsch gelesen, uminterpretiert, verschoben, so lange an ihnen geschraubt, bis ihre Theorien halbwegs glaubwürdig geworden waren.
Selig die, die sich in Selbstbetrug wiegen können, hatte sein Priesterfreund Tom dies einst zynisch kommentiert.
»Wir werden alle sterben!«, entgegnete Noah so kühl, dass er vor seinen eigenen Worten zurückweichen musste. Er zog eine neue Zigarette aus der Tasche und zündete sie an, während diese Worte in seinem Schädel nachhallten und sich langsam zu all ihrer grausamen Bedeutung entfalteten.
»Das ist Blödsinn! Warum glaubt jeder diesen Blödsinn?« Der Mann sprach sich in Rage. »Keiner wird sterben. Und ich muss jetzt weiterlaufen. Ich muss fit bleiben. Morgen muss ich meine Mutter besuchen. Sie wohnt in der Rosenau. Sie wartet immer auf meinen Besuch.«
Noah wollte den Mann anbrüllen, ihn schlagen, ihm klarmachen, dass er verrückt war, aber er ließ es. Eine Erkenntnis erfasste ihn. Nicht die letzte in seinem Leben.
Er drehte sich um und ging, sagte nichts mehr. Der Jogger lief weiter, immer weiter.
Irgendwann, es war schon lange dunkel geworden und »Bright Bob« stand hell und unübersehbar am Firmament, ungefähr zu der Zeit, als sein iPod den Jogger immer wieder mit einer mechanischen Frauenstimme »Battery low« gewarnt hatte, war der Mann zusammengebrochen. Er war zu diesem Zeitpunkt fast auf der anderen Seite des Sees angekommen und seit zehn Stunden nur am Rennen gewesen. Unbewusst hatte er versucht, vor seiner eigenen Angst davonzulaufen, aber diese war immer schneller gewesen, wie das Rennen "Igel gegen Hase".
Er hatte nicht gespürt, wie es gekommen war. Sein Herz, kräftig und mit starken Muskeln, hatte der Belastung jedoch irgendwann nicht mehr standhalten können und aufgehört zu schlagen. Wie ein gefällter Baum war der Mann auf einem Schotterweg nach vorne gekippt, hatte sein Gesicht in den Dreck gegraben und war tot gewesen. Den Asteroid, »das Ding«, hatte er nie gesehen.
Was wäre jedoch passiert, wenn Noah diesem Mann gesagt hätte, dass die meisten Patienten in den Pflegeheimen »euthanisiert« worden waren? Er wollte nicht das Wort »eingeschläfert« benutzen, irgendwie empfand er den Ausdruck sogar in diesen Zeiten für Menschen als respektlos. Es war ein letzter Gnadenakt für diese Patienten gewesen. Genauso wie für die auf den Intensivstationen. Wenigstens war dies die Geschichte im Fernsehen gewesen. Dann hatten Ärzte tapfer in die Kamera geblickt und ihren dankbaren Patienten ein Schlafmittel injiziert, manche hatten die Dreistigkeit besessen »Schlafen Sie schön!« zu sagen. Ein Arzt hatte doch sogar wirklich die Frechheit besessen zu sagen: »Einer muss den Job ja machen.«
Noah wusste jedoch, dass die Menschen mehr als einmal einfach sich selbst überlassen worden waren. Chris hatte ihm gegenüber etwas in diese Richtung angedeutet, dann jedoch das Thema sehr schnell wieder gewechselt, so wie er es in den letzten Monaten immer getan hatte, wenn sie über irgendwas gesprochen hatten, das Leid oder Tod beinhaltete.
Es waren die heimlichen Geschichten, die immer die Runde machen. Der Pizzabäcker spuckt in den Teig, der Schuhverkäufer trägt am liebsten die Damenschuhe selber, der Sohn von einem Geschäftsführer ist in der Psychiatrie, weil er kleine Tiere foltert. Bösartige, kleine Geschichten, die sich wie Tumore ausbreiten und ganze Leben zerstören konnten. Auch der Weltuntergang war kein Heilmittel gegen solche Arten von Klatsch gewesen, wie Noah hatte feststellen müssen.
In dem Altenheim, in dem die Schwester meines Freundes gearbeitet hat, haben sie die Patienten einfach zurückgelassen. Diese Geschichte hatte ihm ein zugedröhnter Rastafari erzählt, den er vor einigen Wochen in der Innenstadt getroffen hatte. Die Alten haben wochenlang nach einer Schwester gebrüllt, aber nie ist jemand gekommen. Er hatte dabei einen leichten schwäbischen Akzent gehabt, was Noah damals, trotz der ernsthaften Thematik, zu einem Lachen gebracht hatte.
Jetzt war ihm jedoch nicht nach Lachen zumute.