Praxis und Methoden der Heimerziehung. Katja Nowacki

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Название Praxis und Methoden der Heimerziehung
Автор произведения Katja Nowacki
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783784133041



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Kinder und Jugendliche aufgenommen werden, benötigt die entsprechenden Voraussetzungen und personellen Rahmenbedingungen, damit erzieherische und therapeutische Prozesse erfolgreich verlaufen können und eine Integration als Zielsetzung realistisch bleibt.

      „Der psychisch auffällige junge Mensch benötigt demnach Schutz auch innerhalb der Einrichtung vor Übergriffen, unnötiger Ablehnung, Abwertung und Ausgrenzung durch in Betreuungsverantwortung stehende Fachkräfte, Eltern, Schule etc.“ (Mueller 2000, S. 128).

      Fegert gibt in einer Abhandlung zum § 35a zu bedenken, dass die Anwendung des Begriffs „Seelische Behinderung“ im Kindes- und Jugendalter sehr problematisch sei, da beim Behinderungsbegriff die Chronizität des Leidens immer eine große Rolle spiele. Er legt daher sein Hauptaugenmerk auf den Bedrohungsgedanken.

      „Dies bedeutet, dass eine umfassende Diagnostik, die neben der Feststellung der jeweiligen psychopathologischen Symptomatik auch eine differenzierte Einschätzung des Entwicklungsstandes, des Intelligenzniveaus, körperlicher Begleiterkrankungen oder Grunderkrankungen, und unterschiedlicher psychosozialer Risiken beinhaltet, eine Feststellung zulässt, ob die Kinder bei Unterbleiben geeigneter Hilfs- und Entwicklungsmaßnahmen von einer Entwicklung bedroht sind, die sie in ihren Beziehungen beeinträchtigt, die ihr Leistungsniveau herabsetzen, die ihre spätere Teilnahme am regulären Arbeitsprozess infrage stellt, und die sie subjektiv mehr oder weniger erheblich beeinträchtigt (je nach Krankheitsbild teilweise schweregradunabhängiger, völlig unterschiedlicher Leidensdruck)“ (Fegert 2004, S. 210).

      Außerdem weist er darauf hin, dass viele bestehende Behinderungen wie beispielsweise Körperbehinderung, Sprachbehinderung, Lernbehinderung und geistige Behinderung sehr häufig mit sekundären psychischen Beeinträchtigungen einhergehen, auf deren Grundlage sich eine psychische Behinderung entwickeln kann (Fegert 2004, S. 212 f.). Die zuletzt genannten Behinderungsformen werden jedoch vom § 35a nicht erfasst, da dieser Personenkreis der Eingliederungshilfe gemäß dem BSHG unterliegt. Dennoch muss zumindest die Einbeziehung seelisch behinderter Kinder und Jugendlicher in das Leistungsangebot des KJHG als zu begrüßender Fortschritt gewertet werden, da im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention ihnen alle Rechte und Freiheiten vergleichbar zu Kindern ohne Behinderung garantiert werden müssen (Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen 2017a). Eine Einbeziehung aller Kinder und Jugendlichen mit Behinderung in das Kinder- und Jugendhilfegesetz, also die sogenannte „Inklusive Lösung“, ist bisher aber noch nicht umgesetzt worden (Beauftragter der Bundesregierung für Belange von Menschen mit Behinderungen 2017b), obwohl damit eine Ungleichbehandlung aufgrund unterschiedlicher Zuständigkeiten und Hilfesysteme vorliegt.

      Das neue Bundesteilhabegesetz macht deutlich, dass Behinderung als Wechselwirkung zwischen Beeinträchtigung und umwelt- oder einstellungsbedingten Barrieren zu verstehen ist. Hilfen zur Erziehung für alle Kinder und Jugendlichen könnten hier ansetzen, insbesondere um umweltbedingte Barrieren abzubauen. Allerdings müssen dafür die öffentlichen und freien Träger der Erziehungshilfe ihre personellen, räumlichen und fachlichen Standards erweitern und benötigen eine gute Lösung, die allen Schnittstellenproblematiken gerecht wird, um den hohen Verwaltungsaufwand zu rechtfertigen, der mit der Umstellung der Systeme verbunden ist (Finke 2019, S. 14).

      Sozialdatenschutz

      Grundsätzlich ist die Praxis der Hilfen zur Erziehung auf Kooperation und Vertraulichkeit mit Familien und Minderjährigen angelegt, die solche Leistungen erhalten. Entsprechend gelten die strengen Vorschriften des Sozialdatenschutzes für die Mitarbeiter*innen freier Träger ebenso wie im öffentlichen Trägerbereich. Soziale Daten und Tatbestände, die im Rahmen der Inanspruchnahme erzieherischer Hilfen bekannt und gesammelt werden, dürfen nur mit dem Einverständnis der Betroffenen weitergegeben werden (§ 65 KJHG). Auch betroffene Minderjährige, die über eine entsprechende Einsicht verfügen, müssen vor der Offenbarung ihrer Sozialdaten um ihre Einwilligung gefragt werden (Frankfurter Kommentar 2019, S. 791 ff.). Eine Weitergabe von geschützten Sozialdaten kann beispielsweise bei Hilfeplangesprächen fachlich notwendig sein. Entsprechend der Sozialdatenschutzvorschriften müssen daher die Betroffenen über die Teilnehmer*innen eines Hilfeplangesprächs im Vorhinein informiert werden, damit sie ihre Ablehnung oder Zustimmung äußern können. Bei der Weitergabe von Berichten zwischen öffentlichem und freiem Träger müssen die Vorschriften des Datenschutzes nach §§ 61 ff. SGB VIII genau geprüft werden. Insbesondere die Einwilligung der Betroffenen ist hierbei eine wesentliche Voraussetzung, ein weiterer Rechtfertigungsgrund ist die Gefährdung des Kindeswohls und die Anweisung durch das Familiengericht (s. § 65 SGB VIII).

      Betroffenenbeteiligung bei der Hilfeauswahl

      Im Gegensatz zum alten JWG, in dem Jugendhilfemaßnahmen überwiegend als Eingriffsmaßnahmen galten, die mehr oder weniger „von oben“ angeordnet wurden, geht das KJHG von Leistungen aus, welche in partnerschaftlicher Kooperation mit den Betroffenen zu klären, abzuwägen und abzustimmen sind. Diese grundsätzlich neue und verbindliche Leitidee findet ihren Niederschlag an verschiedenen Stellen des KJHG: Nach § 5 KJHG haben die Leistungsberechtigten, in der Regel also die Eltern, ein Wunsch- und Wahlrecht hinsichtlich der Einrichtungen und Dienste verschiedener Träger und bezüglich der Gestaltung der Hilfe. Auf dieses Recht müssen die Betroffenen ausdrücklich hingewiesen werden. Das Wunsch- und Wahlrecht findet dann seine Begrenzung, wenn es mit unverhältnismäßigen Mehrkosten verbunden wäre. In § 8 KJHG wird geregelt, dass Kinder und Jugendliche an allen sie betreffenden Entscheidungen der öffentlichen Jugendhilfe zu beteiligen sind. Gemäß ihrem Entwicklungsstand sind ihre Vorstellungen, Meinungen, Ängste und Wünsche ernst zu nehmen, es soll nicht über sie entschieden werden, sondern in partnerschaftlicher Abwägung sollen gemeinsam zu akzeptierende Lösungen und Perspektiven entwickelt werden.

      Nach § 36 KJHG sind die Personensorgeberechtigten und das Kind oder der Jugendliche vor der Entscheidung über die Inanspruchnahme einer Hilfe zu beraten, wobei auf mögliche Folgen für die Entwicklung des Kindes oder Jugendlichen hinzuweisen ist.

      Wenn Hilfe für einen voraussichtlich längeren Zeitraum zu leisten ist, soll in Zusammenarbeit mit den Personensorgeberechtigten und im Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte (also im Team) über die im Einzelfall angezeigte Hilfeart entschieden werden. Dies gilt insbesondere bei Erziehungshilfen, die außerhalb der eigenen Familie stattfinden, so z. B. bei der Heimerziehung.

      Partizipation von Kindern und Jugendlichen im gesamten Hilfeprozess

      Jugendhilfe kann im eigentlichen Sinne nur dann lebenswelt- und ressourcenorientiert sein, wenn die aktive Beteiligung – die Partizipation – der betroffenen jungen Menschen nicht nur gefordert, sondern innerhalb der Praxis systematisch und kontinuierlich realisiert wird.

      In den Hilfen zur Erziehung ist die Partizipation von Kindern und Jugendlichen zwar gesetzlich normiert, die praktizierte Wirklichkeit des Kinder- und Jugendhilfegesetzes zeigt allerdings auf, dass trotz der eindeutigen gesetzlichen Regelungen eine erhebliche Diskrepanz zwischen Forderungen und der Beachtung sowie der Realisierung einer Partizipation besteht. Verschiedene empirische Studien zur Betroffenenbeteiligung im Rahmen der Hilfeplanung belegen jeweils äußerst geringe Quoten der Beteiligung von Kindern oder Jugendlichen am Hilfeplanungsprozess. In einer Befragung von Kindern und Jugendlichen zu ihrer Aufnahme in eine Einrichtung der stationären Erziehungshilfe beschrieben viele Kinder und Jugendliche ein Gefühl der Hilflosigkeit, da sie sich nicht genügend in den Prozess der Entscheidung über die Hilfe einbezogen fühlten. Ihnen fehlten nach ihren Aussagen sogar genügend Informationen zum Hintergrund und Ziel der Unterbringung (Nowacki/Remiorz, 2014, S. 127).

      Eine deutliche Erhöhung der Beteiligungsquote wäre alleine nicht ausreichend, wenn die Fachkräfte nicht Haltungen einnehmen und für Rahmenbedingungen sorgen, welche die echte innere Beteiligung eines betroffenen jungen Menschen in vielen Fällen erst ermöglicht. Alles andere wäre nur eine Quasi-Beteiligung oder anders ausgedrückt, eine Alibi-Funktion.

      „Für die Kinder- und Jugendhilfe gelten Mitwirkung und Aushandlung