Название | Praxis und Methoden der Heimerziehung |
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Автор произведения | Katja Nowacki |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783784133041 |
Die besondere Situation unbegleiteter minderjähriger geflüchteter Kinder und Jugendliche (UMF) in der stationären Erziehungshilfe
Ein erhöhter Anteil von traumatischen Erfahrungen und psychischen Belastungen trifft auch auf unbegleitete minderjährige Geflüchtete in der stationären Erziehungshilfe zu, die in den Jahren 2015/2016 verstärkt nach Deutschland gekommen sind. In dieser Zeit erreichten mehr als 65.000 UMF die Bundesrepublik Deutschland, wovon über 80 % männlich und zwischen 15 und 17 Jahre alt waren (Ministerium für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport des Landes Nordrhein-Westfalen 2017). Unbegleiteten Minderjährigen wird im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe Schutz gewährt im Rahmen einer Inobhutnahme durch das Jugendamt gemäß §42 KJHG. Sie bekommen in der Regel einen Amtsvormund (nach § 55 KJHG) an die Seite gestellt, der die rechtliche Stellung eines Erziehungsberechtigten vertritt. Häufig erfolgt dann eine Unterbringung der jungen Menschen im Rahmen der stationären Jugendhilfe in Heimgruppen oder in Pflegefamilien. Durch die hohe Anzahl ankommender Geflüchteter und damit auch unbegleiteter Minderjähriger, nahm die Zahl der Unterbringungen in stationären Einrichtungen der Erziehungshilfe in den Jahren 2015/2016 deutlich zu. Im Jahr 2015 wurden 42.309 unbegleitete minderjährige Geflüchtete (davon 91% männlich) im Rahmen der Jugendhilfe in Obhut genommen (Statistisches Bundesamt 2016). Die Einrichtungen mussten sich auf eine hohe Nachfrage nach stationären Plätze einrichten, was zu einer Neugründung von Gruppen, aber auch freien Trägern führte und teilweise Übergangslösungen und Notgruppen notwendig machte (Muss 2019, S. 49). Neben der quantitativ gestiegenen Zahl an Plätzen musste außerdem den besonderen Bedarfen der UMF gerecht werden. So waren z. B. Sprachbarrieren zu überwinden, aber auch die Eingewöhnung in das Leben in Deutschland zu erleichtern. Besondere rechtliche Kenntnisse z. B. im Bereich von Asylrecht wurden notwendig, um die UMF entsprechend beraten bzw. an entsprechende Stellen verweisen zu können. Inzwischen ist die Zahl der UMF zwar wieder deutlich zurückgegangen (im Jahr 2017 wurden ca. 20.910 Jugendliche aufgrund unbegleiteter Einreise nach Deutschland in Obhut genommen, s. Statistisches Bundesamt 2018), da sich die Politik gegenüber geflüchteten Menschen wieder verschärft hat, dennoch ist es sinnvoll, die Bedarfe dieser speziellen Gruppe einmal aus ihrer Sicht genauer zu betrachten und Fachkräfte in der (stationären) Kinder und Jugendhilfe im Hinblick auf die Notwendigkeit interkultureller Schlüsselkompetenzen zu sensibilisieren.
Im Rahmen eines transdisziplinären Praxisforschungsprojektes zur Situation von UMF in stationärer Jugendhilfe (Nowacki/Remiorz/Muss 2018) wurden 44 männliche Jugendliche im Alter von durchschnittlich 17,05 Jahren (min 15 max 18), die ohne familiäre Begleitung nach Deutschland geflüchtet waren, zu ihrer Lebenssituation in der Jugendhilfe befragt. Es konnten insbesondere eine hohe Bildungsaffinität und der Wille, sich in die deutsche Gesellschaft einzufügen, festgestellt werden (Nowacki/Remiorz/Mielke 2019).
„Ich möchte was in meinem Leben erreichen. Ausbildung, Weiterbildung vielleicht und … Ja, es gibt viele Dinge, an die ich mich nicht erinnern möchte. Aber als ich hier nach Deutschland kam, dachte ich, dass alles gut für mich wird. Ich möchte hier bleiben und leben“ (Nowacki et al. 2019, S. 98).
Auch der Wunsch selber etwas für andere zu tun wurde deutlich: „Ich gehe regelmäßig in die Schule, dann gehe ich auch dreimal in der Woche zum Sport. Dann habe ich aber auch noch selber ein Projekt ‚Flüchtlinge für Flüchtlinge‘“ (Nowacki et al., 2019, S. 97).
Es konnte eine positive Einstellung der jungen Menschen insbesondere zu ihren Betreuer*innen festgestellt werden. So betont ein junger Mann im Hinblick auf die Betreuerin in seiner Gruppe: „Sie (meine Mentorin) betreut mich, wenn ich Probleme habe … Sie hilft mir überall und beschützt mich, wie meine Eltern mich beschützen würden“ (Nowacki et al. 2019, S. 99).
Gleichzeitig wurden aber auch erhöhte psychische Belastungen und Traumatisierungen aufgrund der Fluchtgeschichte deutlich, mit gleichzeitig deutlich erhöhtem Bedarf an entsprechend geschultem Personal mit einschlägigen und weiteren kulturellen Kenntnissen und einem Mangel an Therapieplätzen (Nowacki/Remiorz/Nyrabia 2019, S. 83).
Die Ergebnisse zeigten sich vergleichbar in einer weiteren Untersuchung. Auch Bohn und Rada (2019) betonen, dass geflüchtete Kinder und Jugendliche zentrale Kompetenzen mitbringen, die für ihre Integration in Deutschland wichtig sind (S. 109 ff.). Auch sie haben eine hohe Freude der Jugendlichen gefunden, zur Schule zu gehen und sich z. B. in Sportvereinen zu engagieren. Gleichzeitig stellen sie aber auch heraus, dass es Barrieren für die jungen Menschen gibt, die ein Einleben erschweren. Dies betrifft auch junge Geflüchtete, die mit ihren Eltern eingereist sind und in Notunterkünften leben. Diese erführen häufig Diskriminierung seitens der Ämter und das Gefühl der Nichtbeachtung, Ablehnung und Rechtlosigkeit. Die Kinder fühlten sich isoliert, teilweise aggressiv und sehr unglücklich (S. 116).
Auch in einer aktuellen Umfrage des Bundesfachverbandes unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (2019) zeigt sich eine vermehrte Angst vor Abschiebungen, eine Zunahme des Erlebens von Rassismus und Angst vor der Zukunft.
Die positiven Ergebnisse der Studien im Hinblick auf Bildungsaffinität und Integrationswillen der jungen Menschen mit Fluchtgeschichte stehen im Gegensatz zu den geschilderten negativen Erfahrungen von Diskriminierungen und unklaren Zukunftsperspektiven. Insbesondere bei den jungen Männern mit Fluchtgeschichte wird häufig eine erhöhte Kriminalität vermutet und ihnen werden häufig mit Erreichen des Erwachsenenalters viele Möglichkeiten der Integration erschwert (Graebsch 2019). Konkrete Zahlen zur Kriminalität von Menschen mit Migrations- und Fluchtgeschichte müssen im Gesamtzusammenhang verstanden werden. So ergibt sich zwar ein höherer Anteil von Straftaten auch bei den jungen Menschen mit Fluchtgeschichte, dies ist zum einen aber vergleichbar mit den Alters- und Geschlechtsgenossen ohne Migrationshintergrund (junge Männer sind überzufällig häufig vertreten), zum anderen ist die Anzeigebereitschaft gegenüber Menschen mit Migrationshintergrund deutlich größer. Hinzu kommen Straftaten im Rahmen des Migrationsrechts, die für Menschen ohne Migrationshintergrund gar nicht gelten. Pfeiffer, Baier, Kliem et al. (2018, S. 82 ff.) betonen, dass insbesondere junge Männer aus Bürgerkriegsländern wie Syrien oder Afghanistan einen deutlich geringeren Anteil an Straftaten junger Männer insgesamt ausmachen. Dies liegt u. a. an der besseren Bleibeperspektive, die junge Menschen mit Flucht- und Migrationsgeschichte seltener in die Illegalität drängt.
Den jungen Menschen mit Fluchtgeschichte sollte also individuell und abgewogen begegnet und ihre humanitären Bedürfnisse unabhängig von ihrer Herkunft berücksichtigt werden. Eine Integration in die Mehrheitsgesellschaft ist eine Bereicherung im Hinblick auf Vielfältigkeit.
Insgesamt kann für die Betreuung von unbegleiteten, aber auch begleitet nach Deutschland eingereisten Kindern und Jugendlichen festgehalten werden:
•Berücksichtigung der individuellen Geschichte im Hinblick auf die Familie, Fluchtgründe und Fluchtgeschichte,
•erhöhte Wahrscheinlichkeit traumatischer Erfahrungen bedenken und ggf. weitere therapeutische Hilfe vermitteln,
•Beachtung von Sprachbarrieren und einer schnellen Unterstützung, die deutsche Sprache zu erlernen,
•Hilfe und Unterstützung beim Zurechtfinden in der deutschen Mehrheitsgesellschaft,
•Unterstützung bei Schule und Ausbildung,
•Hilfe und Vorbereitung auf die Zeit nach der stationären Erziehungshilfe (Wohnungssuche, Beantragung weiterer Hilfe nach §41 KJHG).
Hilfen für junge Volljährige und „Care Leaver“
Junge Menschen, die einen wesentlichen Teil ihres Lebens in Heimerziehung aufgewachsen sind und deren Herkunftsfamilien keine große Unterstützung darstellen können, sind mit dem Erreichen der Volljährigkeit u.U. sehr stark auf sich alleine gestellt. Das Kinder- und Jugendhilfegesetz sieht zwar eine Möglichkeit vor, nach dem 18. bis zum 21. Lebensjahr „Hilfe für junge Volljährige“ und in begründeten Einzelfällen sogar darüber hinaus nach §41 KJHG zu beantragen, eine Bewilligung hängt allerdings von vielen Faktoren ab. Häufig werden zum einen Bedingungen