Название | Praxis und Methoden der Heimerziehung |
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Автор произведения | Katja Nowacki |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783784133041 |
In der Praxis führt dies teilweise dazu, dass junge Menschen in einer Wohngruppe, die durch verschiedene Jugendämter zugewiesen wurden, unterschiedlich lange Zeit für die Verselbstständigung haben. Natürlich liegen hier individuelle Hilfepläne zugrunde, die sich ausschließlich an den Ressourcen und Bedarfen der jungen Menschen orientieren sollten, aber in der Praxis der Jugendhilfe kommt es eben auch darauf an, wie die Bewilligungspraxis der örtlichen Träger für junge Volljährige aussieht (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2017). Diese Aspekte gelten auch bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen, u. U. sogar noch verstärkt, da ihnen aufgrund der gelungen Flucht nach Deutschland von vorneherein eine stärkere Selbstständigkeit zugesprochen wird (Nowacki/Remiorz/Muss 2018). Bei diesem Argument wird wenig berücksichtigt, dass die Flucht mit potenziell traumatischen Erlebnissen einhergeht und die jungen Menschen ohne familiäre Unterstützung in einem für sie fremden Land zurechtkommen müssen. Hier muss eine selbstverständliche Unterstützung mit Erreichen der Volljährigkeit möglich sein und wird teilweise auch umgesetzt. Allerdings zeigen die politischen Debatten eher eine Verschärfung der Unterstützung der jungen Menschen und die Bleibeperspektive ist häufig unklar (Graebsch 2019, S. 8). Aus Sicht eines freien Trägers der Jugendhilfe stellen sich teilweise folgende Probleme:
„Wir haben erlebt, dass ein gerade volljährig gewordener afghanischer Flüchtling in eine Sammelunterkunft des Sozialamtes ziehen musste und sein Zimmer in der Wohngruppe von einem 19-jährigen afghanischen Flüchtling bezogen wurde, der eine weitere stationäre Hilfe erhalten hatte, obwohl die Hilfebedarfe vergleichbar waren. Dies war den jungen Menschen gegenüber kaum darstellbar und sie konnten nicht verstehen, dass der entscheidende Faktor zur Weiterführung einer Hilfe davon abhängig sein kann, welches Jugendamt zuständig ist“ (Muss 2019, S. 60).
Die finanziellen Engpässe diverser Kommunen sind sicherlich Realität, allerdings sind die Hilfen gerade auch in Hinsicht auf einen Ausgleich prekärer Lebensbedingungen verschiedener Gruppen von jungen Menschen zu sehen, die auf die Unterstützung der Gemeinschaft angewiesen sind. In diesem Zusammenhang wird auch argumentiert, dass Kinder, die in ihren Herkunftsfamilien aufwachsen, im Schnitt erst mit 23,7 Jahren den elterlichen Haushalt verlassen (Statista 2018). Dies ist deutlich über dem Alter, in dem von jungen Menschen mit schwierigen Startbedingungen eine Selbstständigkeit erwartet wird. Eine Verlängerung des Hilfeprozesses böte eine größere Chance zur psychischen Stabilisierung und positiven Entwicklung. Dies zeigt sich auch in einer Analyse von Macsenaere und Arnold (2015), die herausstellen, dass Hilfen, bei denen Verselbstständigung gelingt, durchschnittlich doppelt so lange andauerten als solche, in denen dies nicht gelungen ist (S. 18). Im Hinblick auf weitere Wirkfaktoren einer gelungenen Verselbstständigung zeigt sich, dass sich insbesondere höhere Ressourcen im Lernbereich einerseits und keine dissozialen Probleme sowie Straffälligkeit oder Suchtgefährdung andererseits als förderlich für eine gelungene Verselbstständigung herauskristallisierten. Gerade die förderlichen Faktoren wurden häufiger bei Mädchen bzw. jungen Frauen gefunden, während die Schwierigkeiten stärker bei den Jungen und jungen Männern auftraten (S. 18). Wenn die Weitergewährung von Hilfen also an strengen Auflagen, wie dem regelmäßigen Schul- bzw. Ausbildungsbesuch hängt, haben Jugendliche mit psychischen Schwierigkeiten, die aufgrund ihrer Geschichte deutlich häufiger zu erwarten sind, eine geringere Chance auf ein gelungenes selbstständiges Leben. Dies findet sich auch in weiteren, zum Teil internationalen Studien, die deutlich machen, dass die Bildungssysteme im jungen Erwachsenenalter wenig auf diverse Biographien eingestellt sind. Die Notwendigkeit der Aufarbeitung von schwierigen Lebenserfahrungen und der Ausgleich eines geringeren finanziellen und kulturellen Kapitals für junge Menschen, die stationäre Erziehungshilfen verlassen, wird oft nicht ausreichend zur Verfügung gestellt (Schroer/Köngeter/Zeller 2012, S. 274).
Aufgrund der erläuterten Probleme müssen neben der Forderung nach einer verstärkten Förderpraxis für junge Volljährige weitere Konzepte für die jungen Menschen überdacht werden.
So gibt es mittlerweile neben dem Einzelengagement von Mitarbeitenden der Jugendhilfe mehr und mehr Angebote und Programme für junge Menschen, die in stationärer Erziehungshilfe aufgewachsen sind. Dies können z. B. regelmäßige stattfindende Treffen in Räumlichkeiten des Trägers sein, die von Mitarbeitenden begleitet werden. Aber auch Sprechstunden für praktische Fragen, z. B. im Hinblick auf Antragsstellungen etc., sind möglich. Der Einbezug bereits bekannter Bezugspersonen aus der Einrichtung (Betreuer*innen, aber auch Peers) ist ein wichtiger Aspekt für das Gelingen einer solchen fortgesetzten Hilfe (Thomas 2017). Hilfen für die stärkere Verortung in den Sozialraum sind ebenfalls sinnvoll, um die soziale Anbindung der jungen Menschen außerhalb der eigenen Institution zu stärken.
Diese Möglichkeiten der weiteren, informellen Unterstützung und persönlichen Ansprachen sind wichtige Elemente, um die jungen Menschen nicht vollkommen alleine zu lassen. Auch junge Menschen, die in Herkunftsfamilien aufgewachsen sind, haben in der Regel noch erwachsene Ansprechpersonen und einen Ort, der für sie ein Zuhause ist. Junge Menschen, die über viele Jahre in einer Wohngruppe aufgewachsen sind, betrachten diesen Ort mit hoher Wahrscheinlichkeit auch als ihr Zuhause, mit dem sie viele emotionale Erlebnisse verbinden und das in gewisser Weise Halt und Ansprache gegeben hat (Remiorz/Nowacki 2018). Natürlich wird dies von den jungen Menschen unterschiedlich empfunden und ggf. spielen die Herkunftsfamilien auch noch wichtige Rollen, aber das darf nicht über die Bedeutsamkeit von Wohngruppen hinwegtäuschen, auch wenn es sich um professionelle Einrichtungen mit darin arbeitenden Fachkräften handelt. Das menschliche Bedürfnis nach sozialer Zugehörigkeit und Wichtigkeit für andere Personen ist hoch und muss in der Sozialen Arbeit berücksichtigt werden.
1Nationalsozialistische Volkswohlfahrt
2Reichsjugendwohlfahrtsgesetz
Kapitel 2
Heimerziehung im Kontext des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (KJHG)
Die generelle Zielsetzung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (KJHG)
Das Sozialgesetzbuch (SGB) VIII trat am 3. Oktober 1990 in den neuen und am 1. Januar 1991 in den alten Bundesländern in Kraft. In der Praxis der Kinder- und Jugendhilfe ist die Bezeichnung Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) gebräuchlich.
Das Kinder- und Jugendhilfegesetz folgt den Erkenntnissen der Sozialisationsforschung sowie neueren Ansätzen der Pädagogik und anderer Sozialwissenschaften. Der im Verhältnis zum alten Jugendwohlfahrtsgesetz (JWG) aufgetretene Perspektivenwechsel wird schon in § 1 des neuen Gesetzes deutlich:
Unter der Überschrift „Recht auf Erziehung, Elternverantwortung, Jugendhilfe“ werden die Grundlagen und Zielsetzungen der Jugendhilfe zusammengefasst:
„(1) Jeder junge Mensch hat ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit.
(2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.
(3) Jugendhilfe soll zur Verwirklichung des Rechts nach Absatz 1 insbesondere
1.junge Menschen in ihrer individuellen und sozialen Entwicklung fördern und dazu beitragen, Benachteiligungen zu vermeiden oder abzubauen,
2.Eltern und andere Erziehungsberechtigte bei der Erziehung