Praxis und Methoden der Heimerziehung. Katja Nowacki

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Название Praxis und Methoden der Heimerziehung
Автор произведения Katja Nowacki
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783784133041



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sind die Unterschiede der Heimerziehung in West und Ost zu bewerten? Die 1968er-Ereignisse hatten in der westdeutschen Heimerziehung zu deutlichen Reformen Anlass gegeben. Ansonsten aber gilt: „Im Ergebnis haben offenbar das christliche Menschenbild und das sozialistische Menschenbild die gleichen Erziehungsmethoden vorgebracht“ (Kappeler 2013, S. 28).

      Der Runde Tisch Heimerziehung

      In den letzten Jahren wurde in den Medien verstärkt über einzelne Erfahrungen ehemaliger „Heimkinder“ in den 1950er- und 1960er-Jahren berichtet. Die Betroffenen hatten während ihrer Heimaufenthalte massive Eingriffe in ihre Persönlichkeitsrechte erleiden müssen, sie wurden wie selbstverständlich zu unentgeltlichen Arbeiten angehalten, sie mussten drakonische Strafen über sich ergehen lassen und sie leiden noch heute unter den (sexuellen) Gewaltübergriffen ihrer ehemaligen Betreuer*innen. Die Verhältnisse, unter denen diese ehemaligen Heimkinder aufwuchsen, waren durch Lieblosigkeit und Machtherrlichkeit bzw. Machtmissbrauch gekennzeichnet. Gerade auch in christlichen Einrichtungen der damaligen Heimerziehung waren solche Zustände anzutreffen (Wensierski 2006), die keinesfalls nur mit Verweis auf die seinerzeit üblichen Erziehungsvorstellungen und Rahmenbedingungen zu erklären sind.

      Kappeler (2010) spricht in diesem Zusammenhang von unverantwortlichem Verhalten der Personen, die für und innerhalb der Heimerziehung Verantwortung tragen sollten.

      „Das geltende Jugendrecht und die in der Kinder- und Jugendhilfe auch damals schon entwickelten Standards wurden in der Praxis der Heimerziehung und der ‚Wege ins Heim‘ – von wenigen Ausnahmen abgesehen – nicht verwirklicht. An den entscheidenden Stellen des Jugendhilfesystems, bei öffentlichen und privaten Trägern fehlten die Einsicht und der politische Wille, die Kritik anzunehmen und fachlich qualifizierte Vorschläge zu realisieren“ (Kappeler 2010, S. 138).

      Berichte und Hinweise ehemaliger Heimkinder veranlassten den Leiter eines Kinderheims in evangelischer Trägerschaft in Nordrhein-Westfalen dazu, die Vergangenheit seiner Institution in den 1950er- und 1960er-Jahren durch den Erstautor wissenschaftlich aufarbeiten zu lassen. Man war sehr daran interessiert, mit betroffenen ehemaligen Heimkindern und mit früheren Betreuungspersonen in einen Dialog zu treten. Von der Heimleitung wurde die persönliche Begegnung mit den Betroffenen als sehr wichtig erachtet.

      Sowohl aus Interviews mit ehemaligen Betreuer*innen als auch mit ehemaligen Jugendlichen geht hervor, dass der Tagesablauf in der Heimeinrichtung sehr stark durchstrukturiert war. Diese Struktur wurde jedoch nicht als äußerer Halt, sondern eher als Einschränkung und als Unfreiheit verstanden und aufgefasst. Die Kinder und Jugendlichen mussten in Reih und Glied in Zweierreihen in den Speisesaal gehen. Gegessen wurde von Blechtellern, da Porzellan ohnehin nur kaputt gemacht worden wäre. Das Essen wurde als sehr eintönig, einfach und schlecht beurteilt. „Es gab jeden Tag einen Kessel Mehlsuppe“ (Aussage einer ehemaligen Mitarbeiterin). Beim Essen herrschte Schweigegebot. Die Minderjährigen besuchten die Heimschule auf dem Gelände. Die Möglichkeit zum Duschen und zum Kleiderwechsel wurde nur an Freitagen eingeräumt. Die Toiletten hatten keine Türen, einige der Interviewten empfanden dies als demütigend. An Samstagen mussten die Hände und Schuhe gezeigt werden, die Schlafsäle wurden kontrolliert. Insgesamt herrschten ausgeprägte Kontrollen vor. An Geburtstagen konnte zwar im kleinen Rahmen gefeiert werden, es gab aber keine Geschenke. Unter den Kindern und Jugendlichen entwickelten sich hierarchische Strukturen, gegenseitige Erpressungen waren an der Tagesordnung.

      Die Mitarbeiter*innen berichten übereinstimmend von einer „völligen Überforderung“. Dies wird z. B. begründet mit der großen Kinderanzahl und mit nicht vorhandenen Möglichkeiten einer Aussprache unter den Betreuer*innen. Es herrschte ein „Kasernenton“ vor, Emotionen waren nicht vorhanden, die Kinder wurden einfach nur „verwahrt“. Emotionale Zuwendungen unterblieben und die ehemaligen Heimkinder berichten, dass sie es vermisst haben „einfach einmal in den Arm genommen zu werden“ oder sonstige Streicheleinheiten zu erhalten.

      Ein ehemaliges Heimkind erinnert sich folgendermaßen: „Wenn kein Gehorsam im Schlafsaal herrschte, mussten alle unter die ‚kalte Dusche’, diese Prozedur dauerte manchmal bis 2 Uhr nachts.“ Die Gewalt aufseiten der Erzieher*innen und unter den Kindern sei sehr hoch gewesen. Es hätten definitiv Demütigungen und sexuelle Misshandlungen stattgefunden. Es habe auch Räumlichkeiten gegeben, in denen die Jungen eingeschlossen wurden, wenn sie nicht gehorchten. Diese Isolation dauerte zwischen einem Tag und einer Woche. Auch Spalierläufe mit nassen Bettlaken habe es gegeben. Der ehemalige Hausvater habe von morgens bis abends nur geschrien.

      „Man musste im Büro des Anstaltsleiters ‚antanzen’, seine Hosen runter ziehen und es gab drei Schläge mit dem Rohrstock.“ Auch ein anderes ehemaliges Heimkind erinnert sich daran, mehrfach geschlagen worden zu sein. Einmal wurde er mit dem Schlauch geschlagen.

       „Der Hausvater bestrafte die Kinder in seinem Büro durch Schläge mit dem Rohrstock auf das Gesäß und Schläge mit der Hand ins Gesicht. Schläge standen an der Tagesordnung. Im Speisesaal wurden Kinder von den Betreuern vor allen anderen geschlagen.“

      Von den sechs befragten ehemaligen Heimkindern geht nur bei einem aus den Aussagen hervor, dass er den Aufenthalt unbeschadet überstanden habe. Ein weiterer Betroffener beurteilte die Zeit im Heim als belastend, er habe aber etwas gelernt. Ein anderer erlebte den Heimaufenthalt offensichtlich als sehr belastend. „Es ging damals nicht um Kindererziehung, sondern um Geld und Politik.“

      Aufgrund der Äußerungen von drei weiteren Befragten kann man von lang andauernden Traumatisierungen ausgehen. Einer von ihnen hat nach seiner Heimerfahrung nie wieder Weihnachten gefeiert und hätte über seine Kindheit nicht sprechen können, wenn er nicht eine Therapie gemacht hätte. Ein anderer spricht von Angstzuständen, wenn er durch bestimmte äußere Situationen an das Heim erinnert wird. Er vermeidet z. B. Restaurants wegen der großen Räume mit vielen Menschen und wegen des Geschirrklapperns. Auch er unterzog sich einer Therapie. Ein weiterer Ehemaliger äußerte sich folgendermaßen: „Man fing an, das Leid zu ertragen, weil der Wille gebrochen wurde. Man wurde verwahrt und nicht mit Liebe erzogen.“ Er hätte gerne eine Therapie gemacht, weil er die Erinnerungen nicht alleine verarbeiten konnte. Aus finanziellen Gründen sei dies aber nicht möglich gewesen. Es habe bei ihm lange gedauert, sich im Leben nach dem Heim auf Menschen einzulassen. Selbstwertgefühl und Urvertrauen seien verloren gegangen und nicht wieder zu erlangen. Insbesondere sind die betroffenen Personen deshalb verbittert, weil es nur in geringen Einzelfällen zu Entschuldigungen kam und sie ansonsten auf eine Mauer des Verschweigens, Verdrängens und Leugnens stießen. Nur wenige Institutionen hatten bislang ihre jüngere „Geschichte“ aufgearbeitet.

      Eine der ersten positiven Ausnahmen stellte die Resolution des Landeswohlfahrtsverbands Hessen dar:

      „Der Landeswohlfahrtsverband Hessen erkennt an, dass bis in die 70er Jahre auch in seinen Kinder- und Jugendheimen eine Erziehungspraxis stattgefunden hat, die aber aus heutiger Sicht erschütternd ist. Der LWV bedauert, dass vornehmlich in den 50er und 60er Jahren Kinder und Jugendliche in seinen Heimen alltäglicher physischer und psychischer Gewalt ausgesetzt waren“ (Landeswohlfahrtsverband Hessen 2006).

      Nach anfänglichem Zögern reagierten auch die kirchlichen Spitzenverbände. Der Bundesverband Evangelischer Einrichtungen und Dienste e. V. erklärte in einem Positionspapier:

      „Das erlittene Unrecht der Opfer in der Heimerziehung der 50er und 60er Jahre ist anzuerkennen, und das Leid ist nicht zu relativieren“ (EREV-Positionspapier 2008, S. 160).

      Die Caritas und ihr Erziehungshilfe-Fachverband BVkE nahmen wie folgt Stellung:

      „Was die Vergangenheit und ganz konkret die Vorwürfe aus der Zeit der 50er und 60er Jahre betrifft, können die heute Verantwortlichen nur mit aller Aufrichtigkeit bedauern, was Kindern und Jugendlichen an Leid und Schaden zugefügt worden ist“ (Breul 2009, S. 21).

      Im Jahre 2004 gründeten Betroffene den „Verein ehemaliger Heimkinder“. Zielsetzungen des Vereins sind z. B.:

      •Mitglieder bei der Suche nach Therapieplätzen und der Förderung