Название | Für ein Ende der Halbwahrheiten |
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Автор произведения | Edelbert Richter |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783948075811 |
2. Politische Religion und Mord an den Juden
2.1. Geistesgeschichtlich: durch Nietzsche vorbereitet?
2.2. Realgeschichtlich: aus Vernichtungsfurcht
VORWORT
Nachdem ich so emphatisch von der deutschen Vernunft gesprochen habe1, drängte sich mir die Frage nach der abgründigen Unvernunft auf, die die Deutschen unter nationalsozialistischer Herrschaft demonstriert haben. Viele Geisteswissenschaftler sind gar der Meinung, durch diese Praxis sei die Vernunft insgesamt in Frage gestellt und im Grunde widerlegt, so dass man sich auf sie gar nicht mehr berufen könne. Angesichts der nationalsozialistischen Verbrechen könne von einer »guten deutschen Geistestradition« gar keine Rede mehr sein. Diese Meinung ist jedoch schon deshalb unsinnig, weil man Unvernunft nun einmal nicht verurteilen kann, ohne die Vernunft als Maßstab vorauszusetzen. Gerade die deutsche Vernunfttradition des 18. und 19. Jahrhunderts war ja keineswegs nur »deutsch«, am wenigsten in einem national bornierten Sinne, sondern zutiefst universalistisch, die Stimmen anderer Völker und Kulturen »vernehmend«, ja für die Menschheit gedacht. Sie ist von anderen Nationen auch durchaus so verstanden und aufgegriffen worden. Soll das alles nur ein Missverständnis gewesen sein, gar eine Vorbereitung des Dritten Reichs? Wer so quasi-teleologisch argumentiert, gerät leicht selbst in die Nähe des Nationalsozialismus, der die Geschichte ja auch eindimensional auf sich hinzulaufen ließ. Folglich muss man bei der Verwunderung und dem Entsetzen darüber stehen bleiben und ausharren, dass eben genau das Land, von dem einst so bedeutende geistige Impulse ausgingen, im vergangenen Jahrhundert zu einer so brutalen Politik fähig war.
Diese Gefühle steigern sich noch, wenn man sich daran erinnert, dass die große Zeit des deutschen Geistes zugleich den Höhepunkt einer einzigartigen Symbiose mit dem Geist des Judentums darstellte! Man möchte im Boden versinken, wenn man daran denkt, was unsere damalige politische Elite jüdischen Menschen angetan oder an jüdischem Leid zugelassen hat.
Eine umfassende Erklärung ist ebenfalls unmöglich, denn alles zu verstehen, was vorgefallen ist, hieße ja bekanntlich, auch alles zu verzeihen. Oder es hieße, über die Ursachen genau Bescheid zu wissen, das Verbrechen gewissermaßen als Naturvorgang und die Schuldigen als bloße Objekte zu betrachten. Gleichwohl besteht das Bedürfnis nach Erklärung und Entlastung, wovon die Flut der Literatur zum Thema zeugt. Schon um die Schuld genau zu benennen, muss man ja ermitteln, was auf das Konto innerer und was auf das Konto äußerer Ursachen geht. Gegen sie könnte man dann heute etwas tun, um nicht wieder schuldig zu werden.
Auch ich folge diesem Bedürfnis und kann mich weder mit pauschaler Entlastung noch mit pauschaler Schuldzuweisung abfinden. Sich kurzerhand auf die Seite der »Gerechten« zu schlagen, wie es weithin geschieht, setzt aber erstens sehr viel an eigener moralischer Leistungsfähigkeit voraus. Zweitens hat dieses eilige Bekenntnis ja doch bemerkenswert geringe praktische Konsequenzen – es ist den Deutschen in vielerlei Hinsicht wohl noch nie so gut gegangen wie nach diesem Menschheitsverbrechen! Und drittens wird dabei offenbar angenommen, wir hätten nach 1945 in moralisch-rechtlicher Hinsicht gewaltige Fortschritte gemacht. Gewiss hat es zahlreiche Prozesse gegen einzelne Täter gegeben. Doch haben wir es im Kern mit einem Problem des Völkerrechts zu tun und wo wären die in dieser Sache autorisierten Richter? Die Nachfahren der Opfer können Kläger sein, aber nicht Richter, wenn es gerecht zugehen soll. Der heutige Staat Israel ist nicht dadurch gerecht, dass viele seiner Bürger Opfer waren. Der Schuld der Deutschen entspricht auf seiner Seite kein »Guthaben«, über das er verfügen könnte, denn Schuld und Unschuld sind keine Frage der Ökonomie. Kurz: Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind zwar geächtet, aber das Völkerrecht besitzt nicht die notwendige institutionelle Macht, um auch durchsetzbar zu sein. Nach wie vor kann dagegen verstoßen werden, ohne dass Sanktionen zu befürchten wären. Insbesondere die mächtigste Nation der Welt braucht sie nicht zu fürchten und hält den Internationalen Strafgerichtshof entsprechend für eine Farce.
Angesichts dieser Situation ist es gewiss lobenswert, wenn die Deutschen aus eigener Initiative versuchen, für ihre Schuld zu haften, indem sie Israel unterstützen und den Antisemitismus bekämpfen. Das Dumme ist nur, dass Israel es sich als Verbündeter der USA leisten kann, ebenfalls das Völkerrecht zu missachten. Zudem bekämpft es den Antisemitismus in einer Weise, die selbst rassistische Züge trägt. Indem wir Deutschen etwas gegen das vergangene Unrecht tun wollen, sorgen wir also dafür, dass neues Unrecht gedeihen kann. Und indem wir den Antisemitismus bekämpfen, fördern wir zugleich den neuen Rassismus, der in Israel seit den 1970er Jahren zu registrieren ist. So werden wir, gerade indem wir Schuld abtragen wollen, erneut schuldig.
Das ist das Dilemma, in dem wir uns befinden. Da wir uns aus Gründen der »Staatsräson« dieses Dilemma aber nicht eingestehen dürfen, verkünden wir meistens nur Halbwahrheiten über Israel und die jüdische Geschichte und lassen Irritationen unter den Tisch fallen. Diese selektive Wahrnehmung ist zwar auch bei anderen Themen eine verbreitete Methode und wahrscheinlich ist es überhaupt unvermeidlich, dass wir immer nur Ausschnitte der Realität sehen und vieles ausblenden. Hier jedoch ist die selektive Erfassung so offensichtlich und so forciert, dass sie nicht als naiv und zufällig gelten kann.
Im Folgenden möchte ich daher versuchen, den Blick zu erweitern und so der ganzen Wahrheit wenigstens auf die Spur zu kommen. Weil dabei vorwiegend unerfreuliche Seiten der jüdischen Geschichte benannt werden, ziehe ich mir wahrscheinlich den Vorwurf des Antisemitismus zu. Dagegen wird meine Beteuerung, dass ich um ihre erfreulichen Seiten sehr wohl weiß und dass es nur um eine ergänzende Korrektur des offiziellen Geschichtsbilds gehe, wohl nicht helfen. Vielleicht hilft aber der Hinweis, dass der heute vorherrschende Umgang mit dieser Geschichte nun wirklich nichts mit dem nüchtern-kritischen Geist zu tun hat, aus dem heraus im Alten Testament Geschichte dargestellt wird und auch heutige jüdische Autoren schreiben! Auf sie habe ich mich daher auch oft stützen können.
Zudem habe ich mir schon mit meinem letzten Buch den Vorwurf des Nationalismus eingehandelt und er dürfte dieses Mal noch lauter erhoben werden. Aber man kommt als Person wie als Nation aus einer Verfehlung nicht dadurch heraus, dass man kurzerhand behauptet, gar nicht mehr da zu sein, oder gar bekundet, nicht mehr existieren zu wollen. Vielmehr muss eine inhaltliche Umorientierung erfolgen, und die deutsche Tradition ist Gott sei Dank so reich, dass dies auch gelingen kann. Wir sollten also nicht abstrakt von Nation reden, sondern inhaltlich bestimmt: Wozu können und wollen wir uns bekennen und wozu nicht? Damit ist auch schon gesagt, dass nationale Identität nicht als Gegebenheit, sondern besser als Aufgabe zu verstehen ist. Ohne gemeinsame Aufgaben und Ziele lässt man sich treiben, von den jeweiligen Umständen oder von anderen bestimmen. Wer nicht weiß, was er will, dem wird man vorschreiben, was er zu wollen hat, oder er wird zum Spielball irgendeines »Schicksals«.
Das vorliegende Buch formuliert in diesem Sinn auch eine Kritik an der Abhängigkeit des Denkens und politischen Handelns der Deutschen von den USA. Vielleicht trägt der neue amerikanische Präsident dazu bei, dass uns ihre Fragwürdigkeit stärker bewußt wird! Ich erinnere nur an den Kosovo-Krieg, an Afghanistan, aber auch an den NSA-Skandal. Aber diese Kritik ist wiederum keineswegs nationalistisch gefärbt, sondern internationalistisch, da sie von vielen geteilt wird und gegen einen übermächtigen Nationalismus gerichtet ist. Die globale Hegemonie der USA kann nicht ernsthaft mit einer globalen Rechtsordnung verwechselt werden. Um diese aber geht es, für sie sollten die Deutschen sich einsetzen. Denn es ist ein böser Widerspruch, wenn der am meisten Gerüstete und Kriegsbereite den Frieden sichert; wenn der einst entschiedenste und erfolgreichste Protektionist für den freien Handel eintritt; oder wenn das Land mit der stärksten rassistischen Tradition die weltweite Durchsetzung