Helmut Schön. Bernd-M. Beyer

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Название Helmut Schön
Автор произведения Bernd-M. Beyer
Жанр Сделай Сам
Серия
Издательство Сделай Сам
Год выпуска 0
isbn 9783730703175



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Redaktionschef der Fachzeitung, griff die neuerlichen Vorwürfe auf, der DSC habe von der großzügigen Freistellung seiner Spieler profitiert: »Das 4:0 im Schlußakt duldet kein Wenn und Aber. Wir hören das Wenn aus Schalke, das Aber aus Nürnberg, das Wenn aus Wien, das Aber von hier und dort: daß der DSC das Glück habe, nahezu mit einer Friedenself zu spielen, daß seine Spieler nicht in dem Maße wie Kameraden anderer Gebiete dem Luftterror zu trotzen haben, daß…« Becker setzte die klaren Ergebnisse des DSC in der Endrunde dagegen und schloss: »28 Tore in 5 Spielen! Solche Serie verwischt alle Wenns.«

      Allerdings: Selbst die »Dresdner Zeitung«, kriegsbedingter gemeinsamer Nachfolger des »Anzeigers« und der »Neuesten Nachrichten« und ansonsten lokalpatriotisch gefärbt, konnte sich zu dieser Thematik einen kleinen ironischen Hieb nicht verkneifen: »Wie es die DSC.-Leitung fertiggebracht hat, diese Fülle von Spitzenkönnern auf den Rasen zu stellen, mag ihr Geheimnis bleiben, und wir wollen auch nicht neugierig sein.«

      Die Titelverteidigung war sicherlich ein sportlicher Erfolg und auch verdient, denn der Dresdner SC hatte in den vergangenen sechs Saisons fast immer oben mitgespielt: 1939 Dritter in der Meisterschaft, 1940 Vizemeister und Pokalsieger, 1941 erneut Pokalsieger und Meisterschaftsdritter, 1943 Meister und Pokalhalbfinalist, 1944 erneut Meister.

      Zugleich aber war der Triumph von 1944 die trostloseste aller Deutschen Meisterschaften. Nicht nur, weil alle Meisterschaftsrunden unter dem Hakenkreuz mit dem Makel behaftet waren, dass die NS-Diktatur einen Teil der Bevölkerung vom aktiven Sport ausschloss: Juden vor allem und politische Widerständler. Nun kamen auch noch die Umstände der letzten Kriegsphase hinzu. Aus Sorge vor Fliegerangriffen wohnten die Mannschaften außerhalb Berlins und hatte man den Spieltermin vorher nicht angekündigt. Das Olympiastadion bevölkerten dann vornehmlich Soldaten, Verwundete und Rüstungsarbeiter, ausverkauft war es dennoch nicht. Vom Stadion aus wurde ständig Kontakt zum Luftgaukommando Berlin gehalten, um notfalls evakuieren zu können. Laut Schöns Erinnerungen von 1970 hatten die Nazis das Gerücht gestreut, die englische Luftwaffe wolle das Stadion während des Spiels bombardieren. Die Spieler allerdings waren »der Meinung, daß die Engländer dem Fußballsport viel zu sehr verbunden wären, um ein gefülltes Stadion mit Bomben zu belegen«.

      Die Schlagzeilen der Zeitungen am folgenden Tag gehörten nicht dem Spiel, sondern dem Kriegsgeschehen: »Harte Kämpfe in der Normandie«, »London-Bombardement fortgesetzt«, »Erbitterte Kämpfe in Italien«.

      An einen großen Bahnhof in der Heimatstadt wie noch im Vorjahr war unter diesen Umständen nicht mehr zu denken. Die »Dresdner Zeitung« wusste: »Die Dresdner Fußballgemeinde beglückwünscht unseren Meister von ganzem Herzen, auch wenn sie sich diesmal (siehe Optik des Krieges) nicht mit Fahnen und Trompeten zum Empfang am Bahnhof einfinden wird.«

      Immerhin gab es einen Empfang im Rathaus, auf dem Oberbürgermeister Nieland versprach, die zweifachen Deutschen Meister mit dem »neugeschaffenen Sportring« zu ehren. Einige Monate später musste er den Spielern mitteilen, »dass durch die kriegsbedingten Verhältnisse die Herstellung des Ehrenringes bislang nicht möglich gewesen ist«.

      Nicht nur der Krieg entwertete die beiden Meistertitel des Dresdner SC. Alle anderen Klubs, die zwischen 1920 und 1944 die Meisterschaft errungen haben, bestehen heute noch als große Traditionsvereine: der Nürnberger »Club«, der Hamburger SV, Bayern München, Fortuna Düsseldorf, Hannover 96, die SpVgg Fürth, Hertha BSC, Rapid Wien und natürlich Schalke 04. Sie alle spielen aktuell zumindest in der 2. Bundesliga. Allein der Dresdner SC ist die große Ausnahme – eine Folge der DDR-Sportpolitik, die ein Wiederaufleben des Klubs nach dem Krieg nicht zuließ (wie im nächsten Kapitel zu lesen ist). Die großen Erfolge des DSC sind damit zu einer fast vergessenen historischen Episode geworden.

       Kriegsende

      Helmut Schön musste sich Schmähungen gefallen lassen. In der Partie gegen den Lokalrivalen Guts Muts Dresden, einer der letzten vor der endgültigen Einstellung des Spielbetriebs, hörte er Sprechchöre der gegnerischen Fans: »Schön k.v.! Schön k.v.!« Gemeint war: Schön sei »kriegsverwendungsfähig«. Eine deftige Anspielung auf sein Zivilistendasein mitten im »totalen Krieg«.

      Schön hatte, wie er selbst bekannte, »nicht das Zeug zum Helden«: »Ich wollte nicht zu denen gehören, deren Namen jetzt, mit einem Eisernen Kreuz verziert, Seiten um Seiten der Zeitungen füllten«, in den Todesanzeigen nämlich. Im Oktober 1944 wurde er dann doch noch eingezogen, als Grenadier zur motorisierten Artillerie in Chemnitz; dort lernte er »so nützliche Dinge wie Autofahren und den Deutschen Gruß im Vorbeigehen am Vorgesetzten«. Allerdings, so Schön, habe sein Arbeitgeber Madaus nach drei Wochen seine Freistellung erwirkt, denn er hätte den Versand lebenswichtiger Medikamente zu organisieren. Fortan beschränkten sich seine militärischen Aktivitäten darauf, manches Mal als »Luftschutzleiter« die Nacht über im Radebeuler Werk zu bleiben.

      Mittlerweile war Sohn Stephan geboren worden, die junge Familie wohnte noch immer am Münchner Platz 16. Von den ersten Luftangriffen im Herbst 1944 blieb das Gebäude verschont. Und glücklicherweise überstand es auch die Nacht vom 13. auf den 14. Februar 1945, als schwere Bomberangriffe und ein anschließender Feuersturm nahezu das gesamte alte Dresden auslöschten. Fast 25.000 Menschen starben, die meisten verbrannten oder erstickten in ihren Häusern und Luftschutzkellern. Die Wohnung in der Struvestraße, in der Helmut Schön aufgewachsen war, existierte nicht mehr; die ganze Struvestraße existierte nicht mehr, ebenso fast die gesamte Altstadt. Stark betroffen war auch der Stadtteil Südvorstadt, zu dem der Münchner Platz gehörte, doch Annelies, Helmut und Stephan Schön hatten Glück: Sie selbst und ihre Wohnung blieben unversehrt. Im folgenden Exkurs wird ausführlicher davon berichtet.

      Auch Schöns Vater und Annelies’ Eltern überlebten das Inferno; sie blieben nach dem Krieg in Dresden wohnen. Anton Schön lebte dort bis zu seinem Tod 1949, als fast 92-Jähriger. Enkel Stephan erinnert sich: »Ich habe mit ihm noch ein paar schöne Spaziergänge gemacht und durfte dabei seinen Spazierstock hinter mir herziehen.«

      Das Kunst- und Antiquitätengeschäft, das bei den Luftangriffen ebenfalls stark zerstört worden war, übernahm der ältere Sohn, Helmuts Bruder Walter. Er übersiedelte nach dem Tod des Vaters nach Düsseldorf, wo er das Geschäft weiterführte. Walter Schön starb 1982.

      Auch Helmut Schöns Schwester Helene überstand den Krieg. Sie arbeitete danach als Sekretärin eines Physikinstituts in Dresden, später in der Akademie der Wissenschaften in Berlin-Adlershof. Als Rentnerin übersiedelte sie Anfang der siebziger Jahre nach Wiesbaden in die Nähe von Helmuts Familie. Helene Schön starb im Jahr 1987.

      Das Ostragehege hatte den alliierten Bomberpiloten als Orientierungspunkt beim Anflug auf die Innenstadt gedient. Das Stadion wurde getroffen, aber nicht zerstört. Die Steintribüne war lädiert, das Spielfeld eine Kraterlandschaft, die Holztribüne von mehreren Brandbomben durchschlagen; in den kommenden strengen Wintern würde sie manchem Anwohner als Brennholz-Ressource dienen. »Hier kann kein Fußball mehr gespielt werden«, dachte damals Helmut Schön, als er die schweren Beschädigungen betrachtete. Doch der Fußball kam schneller zurück als gedacht.

      Die sowjetischen Truppen besetzten Dresden am 8. Mai 1945, am gleichen Tag, an dem Nazi-Deutschland endgültig kapitulierte. Schon wenige Wochen später ordnete der sowjetische Stadtkommandant, Oberst Gorochow, ein offizielles Fußballspiel an: Auswahlmannschaften der Altstadt und der Neustadt sollten am 17. Juni gegeneinander spielen. Die vier »Zivilisten« des alten DSC, Schön, Hofmann, Hempel und Pohl, traten an für eine »Altstadt«, die es nicht mehr gab.

      EXKURS

       Helmut Schön und der Untergang des alten Dresden

      »Es war geradezu ein schwebendes Stadtgebilde, eine prachtvolle Komposition vor allem des Barock und Rokoko, aber auch klassizistischer Bauten und der Konstruktionsformen des industriellen Zeitalters, alles miteinander versöhnt und verbunden in einem Stadt-Organismus aus Kirchen und Palästen, Brücken und Terrassen, Parks und Alleen, Gassen und Gärten, ein Gemeinwesen voll alter Kunst und neuem Leben, wie man es sich harmonischer nicht denken konnte.«