Название | Eine Geschichte der Menschen mit Behinderung Dis/abled in 500-1620 |
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Автор произведения | Robert Ralf Keintzel |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783969870006 |
12. Behinderung im Wandel
13. Fazit
14. Abbildungsverzeichnis
15. Quellen- und Literaturverzeichnis
EINLEITUNG
Eine Geschichte der Menschen mit Behinderung Dis/abled in 500-1620. Ein Titel, welcher hohe Erwartungen weckt, die erfüllt werden wollen. Die Intentionen, weshalb man zu diesem Buch greift, können sehr vielfältig sein. Ein Leser möchte vielleicht die eine einfache Wahrheit erfahren, der andere eine wissenschaftliche Erfassung der Geschichte der Menschen mit Beeinträchtigung und ein anderer einfach eine Mischung aus Unterhaltung und Wissenszuwachs. Dieses Buch versucht, mehrere Zielgruppen anzusprechen; Personen, die nach wissenschaftlichem Input suchen, um später im wissenschaftlichen Diskurs die Thematik weiterzutragen, zu unterhalten sowie mit lebensnahen Geschichten zu sensibilisieren und ein Geschichtsbewusstsein zu schaffen respektive zu schärfen.
Geschichte erzählt uns, wie etwas war und wie etwas zu dem wurde, wie es heute ist. Die Geschichte ist nicht Vergangenheit, sie ist relevant für unser Leben. Wir können daraus lernen und gegenwärtige Zusammenhänge besser verstehen.
Eine Geschichte für Menschen mit Behinderung ist daher zwingend notwendig, diese darf aber nicht einseitig erzählt werden, da Behinderung nicht homogen, sondern vielfältig ist. Sie kann sich auf unterschiedlichster Weise ausdrücken, betrifft verschiedene Personengruppen in spezifischer Weise und ist dem zeitlichen Wandel unterworfen. Im Zentrum der Fragestellung steht daher die Frage, was Normalität in verschiedenen Kontexten und zu welcher Zeit ist.
Dabei sind besonders das Mittelalter und die Renaissance zu betrachten. Dieses sogenannte Dunkle Mittelalter, das in der dunklen Mitte zwischen Antike und Renaissance steht und die Renaissance als Wiedergeburt des antiken Wissens. Inwieweit das antike Wissen beziehungsweise die Hinterfragung des antiken Wissens eine Rolle für die Festlegung der Norm gespielt hat und wie Menschen ausgegrenzt wurden, bleibt zu hinterfragen.
Dieses Buch möchte einen Beitrag leisten für die Fragestellung nach der Geschichte von Menschen mit Behinderung, es greift neben Aspekten der Disability History auch Aspekte aus der Medizingeschichte auf. Behinderung ist so viel mehr als beispielsweise ein fehlender Arm. Es spielen hier vielfältige Faktoren mit hinein, die in diesem Buche aufgezeigt und untersucht werden. Die Gesellschaft von 500-1620 war eine ganz eigene mit spezifischem Sinn und System, was erfasst werden muss, um Behinderung zu verstehen. Hierbei tut sich ein System von wechselseitigen Beziehungen auf, die im Verhältnis miteinander stehen und diese Zeit prägen. So lassen sich unter anderem das Geschlecht, der Stand, die geographischen Faktoren wie auch das Alter anführen.
Dieses Buch versucht dabei, nicht getrennt in einzelnen Formen von Beeinträchtigung zu arbeiten, sondern vielmehr chronologisch einen Überblick sowie auch relevantes Detailwissen zu liefern. Dies erscheint zunächst als eine Sache der Unmöglichkeit, da eine Vielzahl von Quellen und Literatur vorherrscht, die gesichtet, eingeschätzt und bearbeitet werden will.
Diese Form der Geschichte hat den Vorteil, einen chronologischen Prozess besser zu erfassen, dennoch kann an dieser Form berechtigter Weise auch Kritik geübt werden. Der Autor hat sich dennoch für dieses Format entschieden, da so eine Geschichte entsteht, welche interessiert gelesen werden kann, nicht nur von ausgebildeten Wissenschaftlern, sondern auch von Personen, die sich für die Thematik interessieren.
Behinderung ist ein gesellschaftlich relevantes Thema und benötigt daher ein Publikum in der Mitte der Gesellschaft, eine Geschichte, die nicht nur Fakten liefert, sondern vielmehr eine Geschichte, die ein Geschichtsbewusstsein vermittelt. Mit einem Geschichtsbewusstsein können historische Prozesse erst erfasst sowie verstanden werden und eine Innovationsfähigkeit kann daraus entstehen.
Diese Innovationsfähigkeit führt im, vom Autor erwünschten Fall, in ein besseres Verständnis als auch die Praxis der Inklusion von Menschen mit Beeinträchtigung.
2. VERSTÄNDNIS VON BEHINDERUNG
Unser Verständnis von Behinderung ist über die Zeit gewachsen, es ist dabei keine isolierte Geschichte der Medizin, des Rechts, der Philosophie oder der Religion, vielmehr zeigt die Begrifflichkeit der Behinderung unsere Gesellschaft, wie sie miteinander umgeht, sich voneinander abgrenzt und wie unsere Gesellschaft Normalität definiert. Es ist daher falsch, Behinderung nur aus einer Perspektive zu betrachten. Behinderung als Begriff mit einer technischen Definition, welche eine Wesenseigenschaft und Minderwertigkeit beschreibt, trifft nicht die sozialen Prozesse dahinter. Etikettierung, Stigmatisierung und Ausgrenzung gehen mit der Abweichung von der Norm einher.
Howard S. Becker formulierte im Jahr 1973 den Prozess der Etikettierung wie folgt:
„Ich meine, dass gesellschaftliche Gruppen abweichendes Verhalten dadurch schaffen, dass sie Regeln aufstellen, deren Verletzung abweichendes Verhalten konstituiert, und dass sie diese Regeln auf bestimmte Menschen anwenden, die sie zu Außenseitern abstempeln.
Von diesem Standpunkt aus ist abweichendes Verhalten keine Qualität der Handlung, die eine Person begeht, sondern vielmehr eine Konsequenz der
Anwendung von Regeln durch andere und der Sanktionen gegenüber einem
,Missetäter‘. Der Mensch mit abweichendem Verhalten ist ein Mensch, auf den
diese Bezeichnung erfolgreich angewendet worden ist; abweichendes Verhalten ist Verhalten, das Menschen so bezeichnen.“1
Danach beschreibt Waldschmidt im Hinblick auf die Disability History, dass „Behinderung keine ontologische Tatsache ist, sondern eine soziale Konstruktion […]. Ihr geht es darum zu zeigen, dass nicht beeinträchtigungsspezifische Aspekte für unser Verständnis von Behinderung entscheidend sind, sondern die gesellschaftlichen Deutungs-, Thematisierungs- und Regulierungsweisen.“2
Dagegen wird das „soziale Modell“ von verschiedenen Seiten, auch wenn nicht im Zusammenhang mit der Disability History, zunehmend kritisiert. So aus einer interaktionistischen beziehungsweise kritisch-realistischen Perspektive, der phänomenologischen Perspektive sowie beispielsweise aus einer sozialkonstruktivistischen Perspektive.3 Zusätzlich ist auch die Theorie der „Normalitätsdispositiven“ von Waldschmidt anzuführen.4
Die Gesellschaft, oder auch eine Minderheit beispielsweise aus Experten, erstellt Regeln, welche das Unnormale technisch definieren, diese technischen Definitionen wiederum wirken auf die Gesellschaft zurück, sodass bei einer historischen Geschichte über Behinderung beide Sichtweisen angemessen erzählt werden müssen. Eine wissenschaftliche Betrachtung rückt darüber hinaus nur an die Realität heran, kann diese aber niemals vollständig erfassen, da Geschichte nach Rüsen keine Meistererzählung ist. Das Fach Geschichte ist ein Spiegelbild unserer heterogenen Gesellschaft und besitzt eine Vielfalt an Perspektiven sowie daraus resultierenden Erzählungen.5
„Man sieht nur, was man weiß.“6
Die Beschränkung auf eine „medizinische“ oder eine „soziale Sichtweise“ erscheint daher nicht angemessen, da beides reziprok miteinander wirkt.
Behinderung ist einerseits eine spezifische Unfähigkeit, welche aufgrund von sozialen Prozessen zugeschrieben sowie erzeugt wird und anderseits auch eine Beeinträchtigung, welche aus medizinischer Sicht besteht und einer Rehabilitation legitimiert beziehungsweise aus dieser Sicht bedarf.
Zusätzlich ist zu sehen, dass Behinderung kein universelles, sondern ein zeitlich gebundenes Phänomen ist.7 Was richtig oder falsch, schön oder hässlich respektive normal oder unnormal ist, ist nicht pauschal zu beantworten. Dagegen muss Normalität im zeitlichen Verlauf immer wieder neu definiert und hinterfragt werden. Aus diesem Wandel entsteht eine neue gesellschaftliche Wechselwirkung, welche in verschiedenen Bereichen erfasst werden will. Durch den Wandel der gesellschaftlichen Wechselwirkungen verändern sich auch die Etikettierung, Stigmatisierung und die Aussonderung beziehungsweise der Umgang mit Menschen, welche nicht als Normal angesehen werden, sodass die Mehrheitsgesellschaft der „Normalen“ mit in den Fokus der wissenschaftlichen Betrachtung rückt.8
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