Skotom. Moira Dawkins

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Название Skotom
Автор произведения Moira Dawkins
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783991072478



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durchführen konnte. Zum einen die „Tresor-Übung“, die sie schon zum Thema Augenflackern angesprochen hatte; zum anderen die „Lichtstrom-Übung“. Hierbei sollte ich der Belastung eine Gestalt geben. Dieser Gestalt sollte ich dann einer Form, Farbe, Größe oder Temperatur zuweisen, damit daraus etwas Greifbares werden konnte. Wäre dies erreicht, sollte ich mir ein Licht in einer angenehmen Farbe (in meinem Fall Blau) denken. Dieses sollte ich über meinen Scheitel in meinen Körper strömen lassen. So würde beim Einatmen das mir angenehme Licht angezogen werden und sich in meinem Körper verteilen. Beim Ausatmen hingegen würden die Schmerzen oder eine anderweitige Belastung aus dem Körper hinausgeleitet werden.

      Als sie mir dieses Vorgehen erläuterte, konnte ich nicht umhin, nur eines zu denken: Wann soll ich diese Übung ausprobieren, wenn ich doch nie zulasse, dass mich ein Gefühl bzw. ein belastendes Erlebnis derart überwältigt und erdrückt? Gleichzeitig kam ich wieder nicht umhin, der offensichtlichen Schwachsinnigkeit dieses Vorgehens keine Aufmerksamkeit zu schenken.

      Inzwischen hatte ich meine Therapeutin ein Jahr lang regelmäßig aufgesucht. Durch die durch EMDR erforderlichen allwöchentlichen Sitzungen (davor war es ein 2-Wochen-Rhythmus) war die Anzahl der genehmigten Sitzungen rasch erreicht. Nun musste eine Weiterführung beantragt werden, die von uns beiden Einsatz verlangte, dessen Erfolg aber ziemlich sicher war. Um also weitere Sitzungen genehmigt zu bekommen, war es nötig, dass meine Therapeutin einen umfassenden Bericht über mich erstellte, den ein Gutachter bewerten sollte, um dann eine Zu- oder Absage erteilen zu können. Meine Therapeutin war sich allerdings sicher, dass unserer weiteren Zusammenarbeit nichts im Wege stehen würde.

      Sie übergab mir daher einen Anamnesefragebogen, der über mehrere Seiten Fragen zu meiner Person und meiner Familie beinhaltete. Bei diesen wurden mein bisheriger Lebensweg, Fähigkeiten, Hobbys und das soziale Umfeld abgefragt. Da ich großen Spaß am Ausfüllen von Fragebögen habe, machte ich mich am gleichen Abend motiviert an die Beantwortung der Fragen. Ich verfasste auf dem Laptop zehn Seiten und hoffte, meiner Therapeutin damit das Erstellen des Gutachtens etwas leichter machen zu können.

      Meinen „Roman“ nahm sie auch dankbar entgegen und schon in der nächsten Sitzung gab sie mir Rückmeldung dazu. Tatsächlich hatte ich mir dies auch erhofft, da ich sie schon lange fragen wollte, was ihr Eindruck von mir war. Mich interessierte brennend, was ein Experte zu meiner Person zu sagen hatte.

      Kaum saß ich ihr also gegenüber, eröffnete sie mir, dass sie meine Antworten mit großem Interesse gelesen habe und ich wirklich gut schreiben könne. Diese Feststellung führte sie zu einer Frage, die mich doch sehr überraschte. So sehr, dass ich in verlegenes Gelächter ausbrach. Meine Therapeutin fragte mich grinsend und mit großer Neugier: „Sind Sie schon einmal auf Hochbegabung getestet worden?“

      Nachdem ich meinen Lachflash überwunden hatte, brachte ich glucksend ein stotterndes „Nein“ hervor. Ich gab ihr gegenüber zu, dass ich schon oft darüber nachgedacht hatte, da mir mein Anderssein natürlich nicht entgangen war. Doch ich war vorerst bei der Feststellung geblieben, dass ich zwar nicht dumm sei, aber wohl nicht so weit gehen konnte, von einer Hochbegabung zu sprechen.

      Auch wenn ich es als Lächerlichkeit abgetan hatte, so machte ich mir seitdem Gedanken über die Vermutung meiner Therapeutin. Ich fing an zu recherchieren, zuerst bei meiner Familie und dann im Internet. Dazu berücksichtigte ich meine eigenen Beobachtungen, die ich über die Jahre an mir selbst gemacht hatte, und führte alles zusammen. Ich kam irgendwann zu dem Schluss, dass ich zwar gerne Gewissheit hätte, ich mir aber neben den Kosten den Aufwand sparen konnte. Schließlich hielt meine Familie die Idee für absurd, und selbst wenn ich hochbegabt wäre, würde es mir für meine Zukunft kaum etwas bringen.

      In der nächsten Therapiesitzung sprach ich diese Gedanken auch an. Schlussendlich einigten wir uns darauf, dass ich zumindest überdurchschnittlich intelligent sei, was mir zwar bereits klar war, aber ich fand es trotzdem schmeichelhaft, es zumindest grob bestätigt zu bekommen.

      Nachdem dieses Thema also geklärt war, sprachen wir noch einmal über das Gutachten. Meine Therapeutin hatte sich zu meinen Antworten des Fragebogens noch ein paar Notizen gemacht und stellte mir dazu ein paar Fragen, um das Gutachten so präzise wie möglich formulieren zu können. Bevor die Stunde vorüber war, verdeutlichte sie mir, dass sie gern eine weitere EMDR-Sitzung durchführen würde. Diesmal wäre diese allerdings nicht als Übung gedacht, sondern sollte die erste richtig durchgeführte und hoffentlich erfolgreiche Sitzung darstellen. Sie würde hierbei mit einer „Affektbrücke“ arbeiten, die mir den Zugang zu verdrängten bzw. schwachen Erinnerungen erleichtern sollte. Allerdings müssten wir dafür die Ferien abwarten, da sie nach der Sitzung rund um die Uhr erreichbar sein wollte, sollte irgendetwas mit mir sein.

      Bei unserem letzten Wiedersehen vor ihrem Urlaub berichtete mir meine Therapeutin, dass sie mein Gutachten erstellt und ganze sechs Seiten an den Gutachter übermittelt hatte. Verwundert erkundigte ich mich, was sie denn so geschrieben habe. Zu meinem noch größeren Erstaunen bot sie mir an, mir eine Kopie des Gutachtens mitzugeben, was ich natürlich neugierig und dankbar annahm. Zu Hause las ich es mehrmals durch und fand viele Aspekte wieder, die ich auch selbst an mir beobachtet hatte. Ich war zwar etwas erschüttert, dass es wohl doch so offensichtlich war, gleichzeitig machte es mich stolz, dass ich nicht nur andere, sondern auch mich selbst sehr gut beobachten kann.

      Das sagte ich ihr auch nach ihrem Urlaub. Inzwischen hatte ich auch Post von meiner Krankenkasse bekommen, die eine Fortsetzung der Therapie bewilligt hatte.

      Nun sollte es also losgehen: die erste EMDR-Sitzung, die es mir ermöglichen könnte, mehr Details aus meiner Vergangenheit zu erhalten. Gespannt nahmen wir beide unsere Positionen ein und schon konnte es losgehen.

      Zuerst erklärte mir meine Therapeutin noch einmal in knappen Worten, dass die EMDR-Sitzung wie zuvor geübt ablaufen würde, nur dass wir diesmal mit einer Affektbrücke arbeiten würden.

      Bei der Affektbrücke wird über eine aktuell belastende Situation eine Brücke zu einer früheren belastenden Situation geschaffen. Für diesen ersten Versuch wollte sie daher meine Abscheu gegenüber Alkohol nutzen. Da ich schon bei dem bloßen Geruch dieser widerlichen Substanz jegliche gute Laune verliere, schien ihr dies als ein geeigneter Start. Das Prozedere unterschied sich trotzdem kaum von den vorherigen. Wieder sollte ich den Belastungsgrad angeben, wenn ich den Geruch von Alkohol im Atem einer Person wahrnahm (ich nannte eine Drei). Danach war es wieder Zeit für eine geeignete Beschreibung meiner selbst. Passend fand ich hierfür die negative Beschreibung: „Ich habe keine Kontrolle“, die ich mit einer Sieben als ziemlich zutreffend bezeichnete. Den positive Satz: „Ich habe die Kontrolle“ versah ich allerdings mit einer Drei. Wie immer spürte ich nichts im Körper und auch gefühlsmäßig zeigte sich keine Reaktion.

      Nachdem ich mich in eine Situation versetzt hatte, in der mir plötzlich dieser grauenvolle Geruch in die Nase stieg, erhob meine Therapeutin auf mein Signal ihre Hand und bewegte ihre Finger vor meinen Augen, die ihnen brav folgten. Auf die Nachfrage, ob ich irgendetwas Bestimmtes gesehen oder gefühlt hätte, konnte ich leider nur mit den Schultern zucken. Nach zwei weiteren Runden fiel mir allerdings auf, dass ich immer wieder in der gleichen Szene landete und auch nicht mehr aus dieser hinauswollte. Meine Gedanken hefteten sich zunehmend an eine Erinnerung, die eigentlich gar nichts mit dem Geruch von Alkohol zu tun hatten. Genau das sagte ich auch meiner Therapeutin, die mir sofort auftrug, bei dieser Erinnerung zu bleiben und mir zu erzählen, was genau ich dort sah:

      Als ich noch klein war, wurden mein Bruder und ich oft eingesperrt. In meinem Geburtsort gab es ein Schlafzimmer, das spärlich eingerichtet war und Platz für einen Schrank, ein Gitterbett und ein normales Bett bot. Ich saß auf dem Bett, während mein Bruder in dem Gitterbett stand und gerade noch so über den Rand schauen konnte. Mein Blick fiel sofort auf ein Nachttöpfchen, das randvoll gefüllt war mit meinen Hinterlassenschaften. Mein Bruder trug zu dieser Zeit noch Windeln, was bestätigte, dass nur ich für das Füllen des Töpfchens verantwortlich war. Ich schlussfolgerte weiter, dass wir vermutlich lange eingesperrt worden waren.