Der Dreißigjährige Krieg. Peter H. Wilson

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Название Der Dreißigjährige Krieg
Автор произведения Peter H. Wilson
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783806241372



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Trotz ihrer kaiserlichen Stellung fiel es den Habsburgern offenkundig schwer, kompetente und erfahrene Kräfte an sich zu binden. Dies überrascht jedoch kaum, stellt man ihren fürchterlichen Ruf als Dienstherren in Rechnung: Als Kaiser Rudolf II. 1612 starb, schuldete er seinen Beamten und Bediensteten sage und schreibe 2,5 Millionen Gulden an ausstehenden Lohnzahlungen.

      Auch blieben die Möglichkeiten der habsburgischen Zentralorgane, auf die Verhältnisse vor Ort einzuwirken, eng begrenzt. Zwar konnten die Habsburger für ihre Länder, sofern sie nicht von einem dort ansässigen Erzherzog regiert wurden, einen Statthalter ernennen, mussten jedoch die Landstände um ihre Zustimmung bitten, sobald es an die Berufung eines Landeshauptmanns (in Niederösterreich: Landmarschalls) nebst Stellvertreter ging, die gemeinsam das Landesaufgebot befehligten. Die habsburgischen Herren konnten in den Städten ihres Kronguts auch Vögte ernennen beziehungsweise auf ihrem ländlichen Besitz Verwalter zur Regelung ihrer wirtschaftlichen Angelegenheiten einsetzen – aber dieses Kammergut machte doch selten mehr als fünf Prozent der Landesfläche aus. Der weit überwiegende Anteil der örtlichen Verwaltung befand sich in der Hand des ansässigen Adels. In Böhmen zum Beispiel kontrollierte der Adel das Landgericht, das inneradlige Streitigkeiten schlichtete, Verordnungen erließ und die Gerichtsbarkeit über die gesamte Landbevölkerung ausübte. In Ungarn, wo gut die Hälfte aller Dörfer sich im Besitz von gerade einmal 50 Adelshäusern befand (während der Rest meist einer der 5000 niederadligen Familien gehörte), war die Situation noch extremer: Allein die königlichen Freistädte fielen unter habsburgische Jurisdiktion, aber selbst deren größte, Debrezin, hatte weniger als 20 000 Einwohner. Der König konnte nicht einmal einen Statthalter ernennen – der in Ungarn „Palatin“ genannt wurde –, sondern schlug den Ständen lediglich Kandidaten vor. Die Adelsvertreter trafen dann die Wahl, wer in der Abwesenheit des Monarchen dessen königliche Prärogative ausüben sollte.

      Da die Mehrzahl der habsburgischen Untertanen außerhalb der österreichischen Kernländer der Donaumonarchie lebte, wurden die Stände der umliegenden Territorien zu einem unverzichtbaren Bindeglied zwischen der Dynastie der Habsburger und ihrem großen, bevölkerungsstarken Reich. Ohne die Hilfe oder auch nur das Einverständnis der Stände ließ sich wenig bewirken. Insbesondere an die Erhebung von Steuern war ohne ihre Mithilfe kaum zu denken, und die Einkünfte aus dem habsburgischen Kammergut deckten nur einen Bruchteil der Gesamtausgaben der Monarchie. Im Mittelalter hatte man von Monarchen erwartet, dass sie „von ihrem Eigen leben“ und den Besitz ihrer Untertanen nur in Krisensituationen antasten würden, also etwa im Falle einer Invasion oder einer Naturkatastrophe. Das mitteleuropäische Ständesystem bildete sich im 15. Jahrhundert auch dazu heraus, die Bewilligung solcher (eigentlich „außerordentlichen“) Steuern zu erleichtern. Dies geschah zu einer Zeit, in der die Herrscher immer umfassendere Zuständigkeiten übernahmen, deren Erfüllung ja auch irgendwie finanziert werden musste. Die zunehmende Verstetigung der Königsherrschaft sowie die steigende Komplexität der Probleme, mit denen die Monarchen sich konfrontiert sahen, führten schließlich zu immer häufigeren Versammlungen, wodurch die unregelmäßige Besteuerung von einst Schritt für Schritt in eine regelmäßige, jährliche Steuererhebung verwandelt wurde. Die Stände sahen sich genötigt, ihre eigenen Institutionen zu schaffen: ständige Kommissionen etwa, die auch dann Kontakt zum Herrscher hielten, wenn die Ständeversammlung gerade nicht tagte, oder ein zentrales Sekretariat, das die Aufzeichnungen über alle Regierungsgeschäfte führte und aufbewahrte und die Steuererhebung und -vergabe verwaltete. Die Wiener Hofkammer empfing die Steuerzahlungen der Stände aus der ganzen Habsburgermonarchie, dazu die Erträge, die von den Verwaltern des königlichen Kammerguts überwiesen wurden. Der Umfang und die Regelmäßigkeit ihrer Steuerzahlungen bestimmten die Bonität der Stände; stand es um diese gut, konnten sie Kredite über weitere Summen erhalten und einen Teil der habsburgischen Schulden übernehmen. Im Gegenzug wurde ihnen dann die Erlaubnis erteilt, zusätzliche Steuern zu erheben, um beides abzubezahlen.

      Auf diese Weise entstand parallel zum Herrschaftssystem der Habsburgermonarchie eine zweite Regierungs- und Verwaltungsstruktur, wobei die Stände nur geringes Verlangen danach trugen, die politische Macht für sich zu reklamieren. Ihre Vorstellung einer monarchia mixta beließ die Regierungsinitiative in der Hand des Monarchen, insbesondere was die Außen- und die Krisenpolitik anging. Sich selbst sahen die Stände in der Rolle von Hütern der bestehenden Ordnung, die dem Gemeinwohl am besten dienten, wenn sie den Herrscher davon abhielten, sich auf allzu halsbrecherische oder gar unrechtmäßige Abenteuer einzulassen. Ihre Rechte und Freiheiten hatten sie über Jahrhunderte hinweg mit einer ganzen Reihe von Herrschern ausgehandelt; nun betrachteten die Stände es als ihre Pflicht, diese Rechte und Freiheiten zu verteidigen und zu mehren. Gegen neue Gesetze, die mit der angestammten Rechtsüberlieferung brachen, erhoben sie bitteren Widerspruch. Wenn bestimmte Maßnahmen nicht auf ihre Zustimmung stießen, taten sie alles, um deren Umsetzung zu behindern. Und doch ergab das alles in der Summe noch kein modernes parlamentarisches System, da die Stände letztlich nur Vehikel für Partikular-, ja sogar Individualinteressen darstellten. Nirgends wird dies deutlicher als in der Kampagne für Religionsfreiheit, mit der die Ausbreitung der Reformation auf das Territorium der Habsburger einherging: Da wurde der Protestantismus nämlich am Ende zur Chiffre für ständische Privilegien – und nicht für individuelle Freiheit.

      Der Protestantismus breitet sich aus Allen protestantischen Hoffnungen zum Trotz, dieser oder jener Erzherzog könnte den neuen Glauben annehmen, blieben die Habsburger ausnahmslos katholisch. Dem Protestantismus fehlte auf habsburgischem Boden deshalb jener politische Rückhalt, der in den anderen Gebieten des Heiligen Römischen Reiches protestantische Landeskirchen hervorgebracht hatte. Die Anhänger der Reformation im Habsburgerreich sahen sich gezwungen, mit dem Aufbau ihrer kirchlichen Strukturen gewissermaßen bei null anzufangen, wodurch nicht dem Herrscherhaus, sondern dem Adel die führende Rolle zukam. Der Adel war es schließlich, der in weiten Teilen der Habsburgermonarchie die niedere Gerichtsbarkeit ausübte, und dazu gehörte eben oft das Recht, als Patron und „Kirchherr“ die Gemeindepfarrer und Lehrer für seine ansässigen Pachtbauern zu „präsentieren“ (vorzuschlagen) beziehungsweise zu berufen. Die geistliche Gerichtsbarkeit lag zwar noch immer bei dem jeweiligen Ortsbischof; nur residierte der in der Regel weit entfernt und war sogar darauf angewiesen, dass die Grundbesitzer ihre Geistlichen selbst bezahlten. Diese Schwäche der Kirche spiegelte sich auch in den Ständeversammlungen wider, wo der Klerus sich dem Adel unterordnete. In Anbetracht der wichtigen Rolle, die den Ständen bei der Durchsetzung moralischer und gesellschaftlicher Normen zukam, befand sich der Adel also in einer hervorragenden Position, um nicht allein die Reformation des Wortes, sondern auch die „zweite Reformation“ der Besserung des Lebens voranzutreiben. Ganz unabhängig von den persönlichen Überzeugungen einzelner Adliger war der Protestantismus zudem geeignet, bestehende Herrschaftsstrukturen zu festigen, indem er das (geistliche) Patronatsrecht mit anderen (weltlichen) Eigentumsrechten verschmolz. In den Worten eines prominenten niederösterreichischen Adligen: „Alles Geistliche ist unser, so haben wir beschlossen: Wir sind auf unseren Gütern Herren und Bischöfe zugleich. Wir setzen die Pfaffen ein und ab und sind alleinige Herren, denen sie zu gehorchen haben.“41 Waren lutherische Adlige in einer bestimmten Provinz vertreten, führte dies bald zu einem Phänomen, das als „Auslauf“ bezeichnet wurde: Bauern und Bürger der benachbarten katholischen Landgüter und Städte strömten über die Grenzen, um an den protestantischen Gottesdiensten teilzunehmen. Die entscheidende Rolle des Adels zeigt sich auch am Beispiel Tirols, wo der neue Glaube in der allgemeinen Wahrnehmung stark mit der Erfahrung seiner radikalen Spielarten im frühen 16. Jahrhundert verbunden blieb, während die Attraktivität des Katholizismus nach der Entsendung von Kapuzinermissionaren durch Kardinal Borromäus eher wieder zunahm. Der Tiroler Adel jedenfalls blieb stramm katholisch, und die Tiroler Landstände stellten sich geschlossen hinter den Erzherzog, als dieser 1585 die Tiroler Protestanten vor die Wahl stellte, entweder zu konvertieren oder das Land zu verlassen.

      Zu jener Zeit war der Katholizismus in den anderen Ländern des Habsburgerreiches bereits stark unter Druck geraten. Neun von zehn Angehörigen des niederösterreichischen Adels hatten sich dem Luthertum angeschlossen, ebenso 85 Prozent des Adels von Oberösterreich, wo zudem drei Viertel der Stadtbevölkerung und gut die Hälfte der Bauern protestantisch geworden waren. Auch in Innerösterreich hatten sich rund 70 Prozent der Bevölkerung von Rom losgesagt; im Herzogtum Steiermark waren nur fünf von 135 Adligen katholisch