Der Dreißigjährige Krieg. Peter H. Wilson

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Название Der Dreißigjährige Krieg
Автор произведения Peter H. Wilson
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783806241372



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all diesen Interpretationen steht die Frage, auf welche Weise sich die verschiedenen habsburgischen Länder am besten zu einem modernen Staat hätten integrieren lassen: als zentral geführte Monarchie – oder doch mithilfe des Ständesystems? Eine solch übertriebene Konzentration auf das Problem der „Modernisierung“ ist jedoch wenig hilfreich, denn die europäischen Zeitgenossen des 17. Jahrhunderts kümmerte es herzlich wenig. Fraglos leisteten die Stände einen positiven Beitrag zur Entwicklung der Habsburgermonarchie, boten sie der Dynastie doch ein Forum, um sich mit ihren einflussreichsten Untertanen zu treffen und auszutauschen. Die Fortentwicklung der habsburgischen Ständeordnung trug auch zur Abschwächung jener Gewalt bei, die das späte 15. Jahrhundert geprägt hatte – vor allem in Österreich, wo der ansässige Adel seinen Landesherrn 1461 sogar in dessen Familienresidenz, der Wiener Hofburg, belagerte. Wie schon bei der „Verrechtlichung“ der Reichspolitik durch eine Weiterentwicklung des Reichstages, so verlagerte sich nun das Gewicht in der inneren Politik der habsburgischen Länder weg von der bewaffneten Konfrontation und hin zu einer Diskussion der juristischen Details und genauen Bedeutung eines wachsenden Korpus von Privilegien, Stiftungsbriefen und anderen Verfassungsurkunden.

      Reichs- wie Landstände vertraten gesellschaftliche Gruppierungen, nicht Individuen, und spiegelten die hierarchische Gliederung der frühneuzeitlichen Gesellschaft wider, die sich entlang funktionaler Grenzen in drei große Geburtsstände aufteilte. Der Klerus, dessen Aufgabe darin bestand, für die Seelen aller Gläubigen zu beten, stand an erster Stelle, denn er war Gott am nächsten. Dann kamen der (kriegerische) Adel als zweiter sowie Bürger und Handwerker als dritter Stand; sie sorgten für den Schutz beziehungsweise den materiellen Wohlstand der Gesellschaft. Repräsentation erfolgte in der Regel indirekt: Bischöfe, Äbte und andere Vorsteher religiöser Einrichtungen vertraten die Masse des Klerus, der insgesamt kaum mehr als zwei Prozent der Bevölkerung ausmachte. Beim Adel bedurfte es eines bestimmten Herrschaftsbesitzes, der mit Sitz und Stimme in der Ständeversammlung, dem Landtag, verbunden war. Adlig war rund ein Prozent aller Österreicher, während der Anteil in Böhmen etwas höher lag und in Ungarn immerhin fünf Prozent erreichte. Dennoch sprachen und handelten diese Minderheiten kollektiv für „das Land“ und vertraten dabei auch ihre abhängigen Pachtbauern und Leibeigenen, denen jede direkte Partizipation verwehrt blieb. Zugang zum dritten Stand hatten nur die Einwohner der Kronstädte, die unmittelbar der habsburgischen Herrschaft unterstanden; die Bewohner all jener Städte und Dörfer hingegen, die sich im Hoheitsgebiet einer weltlichen oder geistlichen Zwischeninstanz befanden, waren davon ausgeschlossen. Nur in Tirol gab es ein etwas höheres Maß an politischer Repräsentation der breiten Bevölkerung, denn dort besaßen zahlreiche Dörfer das Recht, einen gewählten Vertreter zu den Tiroler Landständen zu entsenden (wahlberechtigt waren männliche Haushaltsvorstände, die einen bestimmten Besitz vorweisen konnten).

      Von allen habsburgischen Ständeversammlungen entsprach allein jene der Grafschaft Görz dem klassischen Dreikammermodell von Klerus, Adel und drittem Stand. Anderswo unterteilte sich der Adel in „Herren“ und „Ritter“. Diese saßen in den innerösterreichischen Ländern in einer gemeinsamen Kammer zu Rate, während sie in Ober- und Niederösterreich getrennt tagten, genauso in Ungarn und den Ländern der böhmischen Krone. Im Jahr 1618 hatten rund 200 Herren und 1000 Ritter Anrecht auf einen Platz im böhmischen Landtag – gegenüber 90 beziehungsweise 189 Anwärtern in Mähren. In Niederösterreich waren 87 standesherrliche und 128 ritterschaftliche Familien im Landtag vertreten, aber daneben gab es stets auch Adlige, denen es an dem erforderlichen Grundbesitz mangelte und die deshalb auch keinen Sitz im Landtag erhielten. In Oberösterreich standen 300 adligen Familien, die nicht im Landtag vertreten waren, gerade einmal 43 Standesherren und 114 Ritter gegenüber, die dort Sitz und Stimme hatten. In Schlesien wurde die Situation dadurch verkompliziert, dass die Fürsten und Herzöge von Jägerndorf, Troppau, Liegnitz und anderen Territorien zusammen über rund ein Drittel des Gesamtherzogtums herrschten. Sie beanspruchten den Vorrang vor allen Fürsten Böhmens und spekulierten darauf, dank einiger dynastischer Heiraten bald in den Rang von Reichsfürsten aufzurücken und somit auch in den Reichstag einzuziehen. Das Fortbestehen ihrer Herrschaften hielt den Niederadel und die Städte Schlesiens größtenteils aus der Politik fern; die schlesische Ständeversammlung zählte deshalb nur 40 Delegierte, darunter den Fürstbischof von Breslau.

      In Tirol existierte neben den Städten der bereits erwähnte vierte Stand von Bauerngemeinden; Klerus und Adel waren hier vergleichsweise schwach. In Vorarlberg fehlten die letztgenannten beiden völlig, die kleinen Vorarlberger Landstände setzten sich allein aus Bürgern und Bauern zusammen. In den anderen Ländern der Tiroler Habsburger besaß der dritte Stand großen Einfluss, was den in sich gekehrten Charakter der dortigen Ständeversammlungen, die sich für die „große Politik“ jenseits ihrer beschaulichen Täler kaum interessierten, noch verstärkte. Überall sonst waren Klerus und Städte mit eigenen Ständen vertreten, außer in Böhmen, wo der Klerus sein Mitspracherecht im Hussitenaufstand verwirkt hatte. Allerdings mangelte es den geistlichen Ständen an Zusammenhalt, was auch am Fehlen starker Bischöfe jenseits von Wien, Prag, Breslau, Olmütz und Gran lag. Durch ein päpstliches Konkordat sicherten sich die Habsburger im 15. Jahrhundert weitreichende Macht über den österreichischen Klerus; 1568 richtete Maximilian II. ein Aufsichtsgremium für die Klöster in den habsburgischen Territorien ein, den fünfköpfigen Klosterrat. Der Klerus in den betroffenen Gebieten saß also gewissermaßen in der Klemme – zwischen der politischen Aufsicht der Habsburger auf der einen Seite und der geistlichen Jurisdiktion von Bischöfen, die in der Regel zur Reichskirche gehörten und jenseits der österreichischen Grenze in Passau, Freising, Bamberg, Regensburg oder Salzburg residierten, auf der anderen. Die Position der Städte in den Ständeversammlungen war sogar noch schwächer, da allein die Städte im unmittelbaren Besitz der Habsburger (Kammergut) dort vertreten waren. Patrimonialstädten, die sich auf dem Territorium weltlicher oder geistlicher Herren befanden, blieb die Standschaft verwehrt. In Mähren etwa waren 100 Städte von der Ständeversammlung ausgeschlossen; ganze sechs „königliche Städte“ waren darin vertreten. In Böhmen spielten die Städte noch eine größere Rolle, und 32 von ihnen waren im böhmischen Landtag vertreten (darunter die vier selbstständigen Städte, die zusammen die Stadt Prag bildeten). Nur in Ungarn tagten die Vertreter der königlichen Freistädte und der freien Bergstädte zusammen mit den Vertretern des niederen Adels. Ihnen stand ein Oberhaus aus Angehörigen des höheren Adels und hohen Klerus gegenüber, sodass die Ständeversammlung des Königreichs Ungarn eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Zweikammersystem des britischen Parlaments aufwies. Überall im habsburgischen Herrschaftsbereich jedoch blickte der Adel auf die Stadtbewohner hinab – nicht nur aufgrund des gesellschaftlichen Rangunterschieds, sondern auch, weil die adligen Standesherren den Städtern mit ihrem engen Verhältnis zum Haus Habsburg misstrauten.

      Die habsburgische Verwaltung Wie in den deutschen Ländern bildeten sich auch die Landstände der habsburgischen Territorien im 15. Jahrhundert heraus, um ihren Herrschern beratend zur Seite zu stehen. Als Vertreter begüterter und körperschaftlich organisierter Gruppen sprachen sie in Fragen von allgemeinem Interesse für das ganze Land und nahmen dabei für sich in Anspruch, zugleich unvoreingenommener und besonnener zu urteilen als unterwürfige Höflinge oder auswärtige Berater. Jedoch waren es die Habsburger bald leid, sich von den Vertretern der Stände unbequeme Wahrheiten sagen zu lassen, und richteten eigene Beratergremien ein, mit deren Hilfe sie die Regierung ihrer zahlreichen Territorien besser koordinieren konnten. Den grundlegenden Verwaltungsrahmen hierfür schuf Ferdinand I., dem sein abwesender älterer Bruder Karl V. bereits 1522 die Regierung Österreichs übertragen hatte. Ferdinand richtete 1527 einen neuen „Geheimen Rat“ ein, dessen Mitglieder er nach Begabung und Abstammung berief, und gründete zudem eine böhmische und eine österreichische Hofkanzlei, die den Schriftverkehr und sonstige Verwaltungsangelegenheiten zwischen Wien und den diversen Provinzen bestreiten sollten. Daneben entstanden noch weitere Fachstellen, namentlich die Hofkammer – eine zentrale Finanzbehörde – und der Hofkriegsrat. Diese sollten in ihren jeweiligen Zuständigkeitsbereichen die Detailfragen behandeln und dem Geheimen Rat darüber hinaus mit fachkundigem Rat zur Seite stehen. Jedoch darf man sich nicht täuschen: Die habsburgische Verwaltung kennzeichnete auch weiterhin eine geradezu atemberaubende Lässigkeit. Im August 1620 ernannte Ferdinand II. den 40-jährigen Gundaker von Liechtenstein zum Hofkammerpräsidenten, der sich einige Tage darauf über Post wundern musste, die