Название | Belgische Finsternis |
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Автор произведения | Stephan Haas |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783960416487 |
»Bender kommt frisch von der Polizeischule. Von ihm können Sie nicht viel erwarten.«
Unweigerlich musste ich daran denken, wie der lange, blasse Schlaks bei meiner Frau zu Hause die Treppe heraufgelugt hatte. Wenn man das Wort »Unerfahrenheit« googelte, müsste einem sofort der Ausdruck dieses Jungen angezeigt werden.
»Und Vanderhagen«, stöhnte Lechat. »Er ist gut, wenn alles nach seinem Kopf geht. Passiert das nicht, ist er schwierig.«
Damit bestätigte Lechat den Eindruck, den ich von dem meckernden Rotschopf gewonnen hatte.
»Er hat wahrscheinlich zu viel verkehrt gemacht in der Vergangenheit. Speziell in diesem Fall«, sagte Lechat.
»Wieso, was war denn?« Ich richtete mich kurz auf, um dann doch wieder zurück in den Sitz zu rutschen.
»Typisch Vanderhagen halt. Es wurde eine vermeintliche Spur gefunden, und er hat nicht angemessen reagiert. Vanderhagen glaubte, den Täter unter Druck setzen zu müssen. Gleichzeitig spielte er mit der Presse. Als die Spur sich schließlich als Dummejungenstreich herausstellte, hatte die Presse ihre helle Freude.« Während er erzählte, fuhr Lechat mit dem Zeigefinger über seinen Schnauzer, so als spürte er selbst, dass die orangegelben Haare seine Oberlippe längst erreicht hatten.
Vielleicht waren diese schlechten Erfahrungen, die die Raaffburger Polizei durchlebt hatte, eine Erklärung für die eindringlichen Warnungen vor der Presse.
Trotz meiner weiterhin bestehenden Skepsis unterschrieb ich und legte das Formular wieder auf die Rückbank.
Unmittelbar danach begann Lechat mit ruhiger Stimme von dem Fall zu erzählen und reichte mir ein Foto, das einen Jugendlichen zeigte. »Felix Riegen war sechzehn Jahre alt, als er am 30. Juni 2003 zum letzten Mal gesehen wurde.«
Für sein Alter war er recht muskulös gebaut gewesen. Aus dem Kapuzenpulli mit Camouflagemuster ragte ein kräftiger Hals. Akne zeichnete die Stirn, die Haut auf den Wangen war gereizt. Die braunen, leicht gewellten Haare glänzten durch das etwas übertrieben aufgetragene Gel. Die ebenfalls braunen Augen waren leicht zugekniffen, doch der Blick war eindeutig: voller Sehnsucht nach Zuneigung und Anerkennung.
Ich hatte das Bild schon einmal gesehen. Damals, als es in der Presse herumgegangen war.
»Seine Eltern gaben ihr Bestes, waren aber letztlich mit dem Jungen überfordert. In der Schule lief es schlecht. Er stand kurz vor dem Verweis. Zudem ging in Raaffburg in dieser Zeit der Köpfchensammler um«, zählte Lechat auf, während er ein Papier aus dem Seitenfach seiner Tür zog und es mir hinhielt.
»Das ist der Abschiedsbrief des Jungen. Wir haben ihn nach seinem Verschwinden in seiner Tasche gefunden.«
Ich begann zu lesen:
Viel zu tief ist der Morast,
ein Ausweg nicht in Sicht,
Wie verlassen diesen Knast?
Die Mauern sind zu dicht.
Lange Listen alter Klagelieder,
kein Tag ohne Mord,
Wann kommt das Böse wieder,
oder ist es gar schon fort?
Träumend in der Wiese,
mit Füller und Papier,
helfen flinke Diebe,
zu verschwinden hier.
Palmenzweige hängen tief,
versprechen Duft von Kokosnüssen,
auch wenn es laufen sollte schief,
wird meine Rückkehr warten müssen.
Zwar assoziierte ich mit Kokosnüssen nicht unbedingt Afrika, sondern eher karibische Inseln, im Grunde bestätigte das Gedicht aber Vanderhagens Vermutung, dass der Junge sich abgesetzt hatte. Hätte ich nur auf Basis dessen urteilen müssen, was Lechat mir bisher vorgelegt hatte, wäre ich zum gleichen Schluss gekommen. Was ließ Karls also daran zweifeln?
»Was ist das Problem in diesem Fall, Herr Lechat?« Ich sprach absichtlich förmlich, in Erwartung einer präzisen Antwort.
»Sein Vater«, sagte Lechat und drehte das Blatt um, das ich in den Händen hielt.
Zum Vorschein kam das Abbild eines gebrochenen Mannes, der regelrecht zu verschwinden schien. Dem Aussehen nach zu urteilen aß und trank dieser Mann nicht einmal die Mindestmengen dessen, was man zum Überleben benötigte. Tief eingefallene Wangen, trockene Lippen, krause Haare. Auf der Stirn traten die Adern deutlich hervor. Sein Blick, voller Leere, ging an der Linse vorbei.
»Ich weiß, kein schöner Anblick«, bemerkte Lechat und machte einen Schlenker nach links auf eine Straße, die durch einen Wald führte. »René Riegen ist überzeugt davon, dass Felix nicht freiwillig gegangen ist. Er sucht ihn bis heute. Vierundzwanzig Stunden. Jeden Tag.«
Ich erinnerte mich an das Plakat mit der schlechten Alterungssimulation, das vor dem Bistro hing. Trotzdem verstand ich immer noch nicht, warum ich hier war und was wir in diesem Fall tun sollten. Oder, besser gesagt, was wir tun konnten.
»Wenn Sie jetzt gleich zu Ihrer Rechten schauen, sehen Sie den größten Arbeitgeber von Raaffburg«, unterbrach Lechat meine Gedanken mit sanfter, aber bestimmter Stimme.
Hinter einer lang gezogenen, etwa zwei Meter hohen Mauer aus Bruchstein ragte ein riesiges Gebäude aus roten Ziegeln auf, das eine leicht verblichene grüne Aufschrift trug: »Rehnhof Fertigkost«.
Wir mussten anhalten, weil vor uns ein Lkw Probleme beim Einbiegen in die kleine Toröffnung hatte. Das gab mir Gelegenheit, einen Blick in das Firmeninnere zu werfen. Ich sah vier Männer in Anzügen, die miteinander redeten. Zwei von ihnen waren mir zugewandt, sodass ich ihre Gesichter erkennen konnte. Der Mann links war der Alte aus dem Bistro. Er hörte seinem Gegenüber bedächtig zu. Neben ihm stand mit breiter Brust der Mann mit den behaarten Unterarmen, der im Bistro hinter dem Alten gestanden hatte.
»Die beiden dort waren doch auch im Bistro zum Essen«, sagte ich.
»Das sind Alvin Rehnhof und sein Sohn Frank. Ich glaube aber nicht, dass die beiden dort gegessen haben. Den Rehnhofs gehört halb Raaffburg, auch das Bistro. Die haben Geld bis zum Abwinken«, sagte Lechat.
»Ein Kontrollgang also«, sagte ich in Erwartung einer weiterführenden Erklärung.
»Soviel ich weiß, vermietet Alvin Rehnhof das Bistro schon seit Ewigkeiten. Es liegt nah an der Tiefkühlfabrik, sodass die Belegschaft hier oft zu Mittag isst. Ein wesentlicher Grund für Rehnhof, dass das Ding weiter existiert«, erklärte Lechat und schaltete einen Gang hoch.
Mein Hemd war durch die Klimaanlage beinahe ganz getrocknet, meine Haut fühlte sich an, als wäre sie mit einer dünnen Schicht Zuckerguss überzogen. Am liebsten wäre ich kurz unter die Dusche gesprungen. Aber wo? Ich hatte ja noch nicht mal einen Plan, wo ich heute schlafen würde. Außerdem hatte ich in der Eile am Morgen, nachdem mich Bender abgeholt hatte, völlig vergessen, Wechselklamotten mitzunehmen.
»Übrigens, das Hotel ist voll. Ich werde aber gleich bei Wilma Ersfeld in der Schule nachfragen. Sie ist ein guter Mensch, der öfter Hilfsbedürftige aufnimmt«, sagte Lechat, der meine Gedanken gelesen haben musste. Hilfsbedürftig – wahrscheinlich passte die Beschreibung ganz gut zu mir.
»Das ist sehr freundlich«, antwortete ich. »Können Sie mir auch sagen, wo man hier günstig Kleidung kaufen kann?«
Er musterte mich von oben bis unten.
»Haben Sie nichts dabei?«
Glaubt er etwa, ich bin zum Shoppen nach Raaffburg gekommen?
»Nein.«
Er überlegte kurz, bevor er entschlossen weitersprach. »Ich bringe Ihnen was bei Wilma vorbei, falls Sie dort schlafen können. Brauchen Sie sonst noch was?«
»Nein,