Название | Belgische Finsternis |
---|---|
Автор произведения | Stephan Haas |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783960416487 |
Er blätterte in dem hellblauen Büchlein. Auf einer Seite am Ende des Buches legte er den behandschuhten Zeigefinger auf den Eintrag, der am 30. Juni 2003 mit kräftiger Bleistiftmine hineingeschrieben worden war. Sein Finger lenkte meinen Blick zu den Initialen GW.
»Nun stecken Sie das lächerliche Buch weg! Da hält uns doch wieder jemand zum Narren!«, blaffte Vanderhagen, bevor er sich mit verschränkten Armen zurück in den Stuhl lehnte.
»Wissen Sie, was ›konstruktiv‹ bedeutet?«, fragte ich Vanderhagen.
Er seufzte verächtlich und neigte seinen roten Kopf zu mir. »Natürlich, Herr Professor.«
Auf Lechats Hals trat eine Ader hervor. Sie zuckte. Seine Hände faltete er vor Schnauzer und Mund zusammen. Ich versuchte, die Lage zu entschärfen, und lenkte den Fokus wieder auf den Fall. »Sie glauben, dass Felix Riegen vor seinem Verschwinden noch Gregory Weeber gesehen hat?«
Lechat schaute mir ernst in die Augen und überlegte kurz, bevor er antwortete. »Der Eintrag ist keine Garantie dafür. Aber die Möglichkeit besteht, ja.«
»Vielleicht hat Gregory Felix bei seiner Flucht geholfen.« Ich musste zweimal hinsehen, bis ich glauben konnte, dass Bender gerade gesprochen hatte. Mit ängstlicher Stimme. Den Blick starr auf den Schülerkalender gerichtet.
Doch bevor ich etwas sagen konnte, schlug Vanderhagen mit seiner rot behaarten Faust auf den Tisch. »Ja, oder Felix hat die beiden umgebracht und sie dem Köpfchensammler untergejubelt. Mein Gott, wacht auf!«
Was mache ich nur mit diesem Idioten?
Am liebsten hätte ich ihn rausgeschmissen. Das hätte ihm sicherlich gefallen. Aber so schwer es mir auch fiel, ich blieb ruhig. Aus Erfahrung wusste ich, dass bewusstes Ignorieren in so einem Fall oftmals Wunder bewirkte. Ich kam also wieder auf den Fall zurück und versuchte, Lechat aus der Reserve zu locken. »Wenn Gregory Weeber und seine Mutter Marie tot sind, was ist die Spur dann wert?«
»Gute Frage, Professor«, lobte Vanderhagen mich und bewegte seinen roten Kopf mehrmals auf und ab, was wohl ein zustimmendes Nicken sein sollte. »Das ist doch alles sinnlos!«
Entweder hatte Vanderhagen zu viel Wodka getrunken, oder sein ohnehin rotes Gesicht hatte zu lange in der Sonne geschmort. Lechats Ader pulsierte nun schneller als vorhin. Die Glupschaugen zogen sich zusammen und zeigten tiefe Verachtung. Dann beugte er seinen Körper nach vorne und packte Vanderhagen am Kragen.
»Sie Trottel, hauen Sie bloß ab!«
Erst war ich zusammengezuckt, derart furchteinflößend hatte Lechats Stimme geklungen. Dann sprang ich auf, legte meine Arme um Lechats Schultern und zog ihn von Vanderhagen weg. Lechat schnaufte und tupfte mit einem Stofftaschentuch seine Stirn ab. Vanderhagen blieb schockiert stehen.
»Ella Weeber wird gleich hierherkommen«, wandte Lechat sich schwer atmend an mich. »Sie ist Gregorys Schwester. Damals durfte sie nicht verhört werden, weil ihr Therapeut dagegen war. Sie ist unsere Chance.«
Vanderhagen verzog sich zu seinem PC. Lechat sah ihm geringschätzig hinterher und seufzte. »Unsere letzte.«
»Die Menschen hier waren nicht immer so mürrisch, wie Sie sie heute vorfinden. Das kam erst mit dem Köpfchensammler«, erklärte Lechat, der sich inzwischen wieder beruhigt hatte. Er und ich hatten das Präsidium kurz verlassen, weil sein Zigarettenvorrat aufgefüllt werden musste, wie er sagte. Der wahre Grund war natürlich, dass er Vanderhagens Visage nicht mehr ertrug.
»Erst waren die Leute verängstigt. Vor allem die Jungs aus dem Ort trauten sich nicht mehr vor die Tür. Öffentliche Partys wurden abgesagt. Ab und zu wurde privat gefeiert, auch das war aber eher selten. Einige kauften sich einen Hund, andere installierten Alarmanlagen oder legten sich nachts mit einem Baseballschläger auf die Lauer. Das Schlimmste aber war, dass die Leute sich gegenseitig verdächtigten. Die Presse spielte das Spielchen munter mit. Aus jedem Gerücht machte sie eine Story. Und wenn es sein musste, erfand sie eine«, erzählte Lechat, während er in periodischen Abständen sein Feuerzeug aufflammen ließ. »Die Menschen spielen verrückt, sobald sie mehr Aufmerksamkeit bekommen, als sie gewohnt sind. Und bei Verbrechen ist das ganz besonders so.«
Ich fragte mich, worum es hier eigentlich ging und wofür ich hierhergekommen war. Karls hatte verheißungsvoll von einer neuen Spur gesprochen. Ein Schülerkalendereintrag, der auf eine Person verwies, die seit Jahren tot war, fühlte sich jedoch eher an wie der Fund eines Kieselsteins in einem Steinbruch. Absolut nichts Besonderes. Und soeben hatte ich erfahren, dass die Schwester des Toten quasi die letzte Hoffnung auf weitere Informationen war. Was, wenn sie nichts wusste? Wenn sie nichts zu sagen hatte? Ich ballte die Fäuste in meinen Hosentaschen. Immer fester drückten meine Finger zu.
Wie naiv warst du, hierherzukommen? Und dafür Liv wieder einmal zu vernachlässigen?
Lechat schien von meinen Zweifeln nichts mitzubekommen. »Vor einigen Jahren, es müssen sieben oder acht sein, ging bei uns die Meldung einer alten Frau ein. Sie berichtete, ein Junge hätte vor ihr gestanden und behauptet, er wäre seit Jahren vermisst. Sie sollte ihm helfen, hatte er gebeten, war dann aber seltsamerweise losgelaufen. Die Frau sagte, sie hätte noch ›Halt!‹ geschrien, doch der Junge ging weiter. Die alte Frau, die einen Rollator benötigte, blieb hilflos zurück. Ehe sie weitere Fragen stellen konnte, war der Junge bereits um die nächste Ecke und für immer von dannen.«
»Felix«, sagte ich hoffnungsvoll.
»Wir ließen ein Phantombild anfertigen, das aber nicht aussagekräftig war. Die Alte war sich unsicher. Das Bild, das dabei rauskam, ähnelte eher Frankenstein als dem vermissten Felix.« Lechat lächelte zaghaft.
»Aber er könnte es doch trotzdem gewesen sein?«
»Nein.« Lechat überlegte lange, ehe er fortfuhr. »Vanderhagen ging damals der Spur nach und hielt es für eine gute Idee, die Presse in den Fall zu involvieren. So erhielten wir mehrere Hinweise. Dumm nur, dass der Junge bezahlt worden war, und zwar von der ›Klick‹. Die hatte ihre helle Freude, das können Sie mir glauben! Der Junge gestand letztendlich seine Schauspieleinlage und erhielt eine Verwarnung – das war’s. Davon hatte die Oma leider nichts mehr. Sie starb einige Wochen nach dem Zwischenfall. Nachdem ein Dutzend Presseteams sie über mehrere Tage hinweg tyrannisiert hatten.«
Lechat fuhr sich durch sein graues trockenes Haar, als gäbe er sich selbst die Schuld an dem Verlauf der Geschichte.
»Das heißt, Felix Riegen wurde nach seinem Verschwinden nie mehr gesehen«, resümierte ich.
»Richtig.«
Wir waren an einem Kiosk angekommen, der mit Graffiti von hässlichen schreienden Gesichtern besprüht war. Er wirkte etwas deplatziert direkt vor dem Eingang eines Spielplatzes. Lechat wollte gerade die Bestellung aufgeben, als er plötzlich erschrocken zur Seite trat. Ein schneeweißer Husky suchte etwas zwischen seinen Schuhen. Die Leine verhedderte sich dabei in Lechats Beinen. Ein hübsches braunhaariges Mädchen, ungefähr zwölf Jahre alt, eilte herbei.
»Zeno, sitz!«
Sie stampfte mit einem Fuß auf den Teerboden.
Lechat versuchte währenddessen umständlich, sich zu befreien.
»Was machst du hier, Kleine? Kannst du deinen Hund nicht an der Leine halten?«
Das Mädchen blinzelte gegen die Sonne zu uns herauf. »Ich bin nicht klein«, bemerkte sie und machte eine kurze Pause, bevor sie fortfuhr. »Ich dressiere Zeno und warte auf meine Mutter.«
»Na gut, dann nimm den Hund mal wieder mit.«
Lechats Blick richtete sich sehnsüchtig auf den Kiosk, wo seine Zigaretten auf ihn warteten.
»Kann man dich denn keine zwei Minuten aus den Augen lassen? Lass den Kommissar arbeiten. Der hat einen schweren Fall zu lösen.«
Die Stimme kam vom Spielplatz und klang fürchterlich