Wiener Wohnwunder. Anatol Vitouch

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Название Wiener Wohnwunder
Автор произведения Anatol Vitouch
Жанр Изобразительное искусство, фотография
Серия
Издательство Изобразительное искусство, фотография
Год выпуска 0
isbn 9783710604997



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nicht. Und wenn man Vorurteile gegen andere hat, dann braucht man’s gar nicht machen. Wichtig wär, dass wir alle an einem Strang ziehen, gerade im Gemeindebau. Ich wohn da seit 1983, da bin ich als Erste in den Bau eingezogen. Und ich find’s ganz wichtig zu wissen, wer is mein Nachbar. Weil wenn du was brauchst, wenn was passiert, wenn du in Urlaub fährst, sollst du mutig genug sein, anzuklopfen. Und ich glaub, grad in Zeiten wie diesen sollten wir wieder enger zusammenrücken und einer für den anderen da sein.“

      An diesem Beispiel wird deutlich, dass es Menschen wie Frau Schrammel braucht, um das Konzept Gemeindebau mit Leben zu füllen. Alles Gute für die nächsten 350 „Willkommen Nachbar“-Besuche, Frau Schrammel!

       MUHRHOFERWEG

       „Am Muhrhoferweg hilft man zusammen“

      Frau Fleck ist ein Phänomen: Auf einem Auge fast blind, kümmert sich die rüstige ältere Dame trotzdem jeden Tag selbst um das Blumenbeet, das zur Zier des Muhrhoferweges geworden ist, seit sie es betreut. Und das ist noch nicht alles: Da Frau Fleck offenbar einen grünen Daumen hat, züchtet sie auch Zitronenbäumchen. Wobei das Wort Bäumchen angesichts der prachtvollen Pflanze, die sie den Besuchern präsentiert, geradezu eine freche Untertreibung ist: „Der Stock ist vier Jahre alt und aus einem Kern gezogen“, erzählt Frau Fleck. „Ich hab noch einen anderen, der hat hundert Blüten!“ Solche Erfolge kommen freilich nicht von ungefähr, Frau Fleck ist täglich schon in aller Früh für ihre Blumen und Pflanzen da – und ihre Tiere versorgt sie auch: „Wenn ich aufsteh, ist der erste Weg das Fenster aufmachen, die Zeitung holen und zu den Blumen gehen. Dann schau ich, wer braucht ein Wasser. Dann kommen meine Vogerln dran. Wei waun meinen sieben Wellensittichen was ned passt, dann gibt’s an Wirbel. Dene g’hert des Wohnzimmer allein“, lacht Frau Fleck. Und fügt lebenslustig hinzu: „Mir mocht des ois so an Spaß!“

      Frau Fleck wohnt seit 44 Jahren am Muhrhoferweg in Simmering, noch länger aber ist Frau Kainz hier zu Hause. Sie hat sich ebenso wie Herr Bugdajci zu Frau Fleck auf das sonnige Bankerl gesellt, von wo aus man einen guten Blick auf die Blumenbeete hat.

      „Ich bin schon 1974, bei Fertigstellung hier eingezogen“, berichtet Frau Kainz. „Ursprünglich komm ich aus Bruck an der Leitha und hab für die Postsparkasse gearbeitet. Mein Mann war Kranführer und hat die Wohnungen hier schon während des Baus sehen dürfen. Für die fünf Kinder, die wir hatten, war’s klein, aber wir haben zwei Kinderzimmer aus der Wohnung gemacht und als Eltern im französischen Doppelbett im Wohnzimmer geschlafen. Jetzt, wo die Kinder ausgezogen sind, samma froh, dass wir keine größere Wohnung haben, weil was würden wir jetzt damit machen?“ Frau Fleck und Frau Kainz kennen sich schon „eine Ewigkeit“, wie Letztere erzählt. „Wir machen auch ununterbrochen Fotos von ihren Blumen, und die stell ich dann auf Facebook, um zu zeigen, wie schön die Blumenkastln hier bei uns sind. Oft sicht ma die Frau Fleck gor ned, weil sie auf allen Vieren sich um ihre Blumen kümmert“, lacht Frau Kainz, und Frau Fleck und Herr Bugdajci lachen mit.

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       Um zu zeigen, wie schön die Blumenbeete am Murhoferweg sind, teilt Frau Kainz oft Fotos auf Facebook

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       Täglich ist Frau Fleck schon in aller Früh für ihre Blumen und Pflanzen da

      Herr Bugdajci, der Dritte im Bunde, ist 1999 mit seiner Frau und zwei Kindern in eine Drei-Zimmer-Wohnung am Muhrhoferweg gezogen, vorher lebte er in Favoriten. Nach Wien kam er als Kind mit seinen Eltern aus der Türkei. „Ich bin hier wunschlos glücklich“, strahlt er, „von einem Zimmer in eine Drei-Zimmer-Wohnung zu kommen, das ist schon was. Wir schauen immer gegenseitig rüber, mit der Frau Kainz und der Frau Fleck, ob eh das Licht brennt und alles in Ordnung ist, sonst rufen wir an.“

       „Waun meinen sieben Wellensittichen was ned passt, dann gibt’s an Wirbel.“

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      Überhaupt, am Muhrhoferweg hilft man zusammen: Herr Bugdajci hat Frau Fleck erst kürzlich das Schlafzimmer ausgemalt und einen neuen Boden gelegt, und auch bei der Gartenarbeit geht er ihr gerne zur Hand.

      Einer allerdings fehlt heute in der Runde der Nachbarn, und die ursprünglich aus der Wachau stammende Frau Fleck, die am Muhrhoferweg ganze acht Kinder großgezogen hat, wird ein bisschen traurig, wenn sie von Herrn Werner erzählt, der ebenso lange hier gelebt habe wie sie und vergangenes Jahr verstorben ist: „Er war krank, und ich hab ihn gepflegt. Ich hab ihn gewaschen, auf die Toilette getragen, ihm Suppe gekocht – aber er wollt nix mehr essen. Dann hab ich ihn ins Spital führen lassen, und bald darauf is er verstorben.“

      Dürfte sich die Runde der Bewohnerinnen und Bewohner des Muhrhoferwegs etwas wünschen, so wäre es mehr Ruhe, die es hier am Stadtrand früher in Hülle und Fülle gegeben habe – die auch während des Gespräches regelmäßig über die Köpfe ziehenden Flugzeuge aus Schwechat sind in den letzten Jahrzehnten naturgemäß nicht weniger geworden. Und auch die kleinteilige Infrastruktur sei hier früher besser gewesen, erzählt Frau Fleck: „Der Autobus is weg, die Bank hat zugesperrt und das Röntgenzentrum hat zugesperrt.“

      Der Eindruck, der bleibt, ist dennoch der einer funktionierenden Nachbarschaft auf einem ziemlich grünen Flecken Erde – und natürlich Frau Flecks wunderbare Blumenbeete.

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       Herr Bugdajci schaut auf seine Nachbarn und hilft auch gerne bei der Gartenarbeit

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       MURHOFERWEG

       Murhoferweg 1–5

       1110 Wien

       Errichtet 1971–1973

       495 Wohnungen

       Geplant von Franz A. Bayer, Anton Holtermann, Franz Kahrer, Karl Musil, Otmar Patak, Walter Schneider

       ENGERTHSTRASSE

       Kochen öffnet das Herz

      Es ist ein regnerischer Tag Ende März, an dem die kleine Kochgruppe im wohnpartner-Lokal in der Engerthstraße 230 wieder einmal zusammengefunden hat. Das vorläufig letzte Treffen soll es sein, deshalb steht auch eine Frage vor allen anderen im Raum:

      War’s das? Oder wollen wir weiterkochen?

      Die wohnpartner-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter wollen die Antwort darauf ganz den Köchinnen und Köchen überlassen, die aus den umliegenden Gemeindebauten hierhergekommen sind; die meisten davon haben sich erst in dieser Gruppe kennengelernt.

       „Aber beim gemeinsamen Kochen lernt man was dazu.“

      Von Pariser Schnitzel über Bananenbrot bis hin zu Börek und Hong-Kong-Nudeln ist hier in den vergangenen Monaten ausgesprochen international gekocht worden, ein Ausdruck der unterschiedlichen Herkunftsländer der versammelten Hobbyköche.

      Mit dem Gemeindebau sind sie heute alle verbunden, aber alle in unterschiedlicher Weise.

      Frau Kaplan aus der Türkei etwa lebt seit 1998 in einer Gemeindewohnung, mit der