Wiener Wohnwunder. Anatol Vitouch

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Название Wiener Wohnwunder
Автор произведения Anatol Vitouch
Жанр Изобразительное искусство, фотография
Серия
Издательство Изобразительное искусство, фотография
Год выпуска 0
isbn 9783710604997



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Nase gefallen.“

      Eine typische Geschichte für den Beginn des Engagements bei StoP – ein Projekt, das ganz aktiv die Idee eines Schneeballeffekts verfolgt, der immer mehr Aufmerksamkeit für das Thema schafft und auf diese Weise betroffene Frauen aus der Isolation holt: „Das Thema sollte selbstverständlich sein. Die Betroffenen sollten sich trauen zu reden, Vertrauenspersonen in der Nachbarschaft finden und sich Hilfe holen können“, so Rösslhumer.

      Der Gemeindebau eigne sich allein schon durch seine offene Bauweise sehr gut für das Projekt, weil man über den Hof viel aus den Nachbarwohnungen mitbekomme. Dadurch werde auch Gewalt mehr wahrgenommen und es gebe bessere Chancen auf Hilfe. „In einem Villenviertel würde da lange Zeit niemand was bemerken. Man hat als Betroffene also im Gemeindebau, wenn die Nachbarschaft funktioniert, eine bessere Chance, aus einer Gewaltbeziehung herauszukommen.“

      Rösslhumers Wünsche für die Zukunft? „Dass wir Anstoßgeber für eine Veränderung sind, auch nach Ablauf des offiziellen Projektzeitraums.“ Damit Margareten als Bezirk ohne Partnergewalt ein Vorbild für ganz Wien wird.

       ELLA-LINGENS-HOF

       Ein freundliches Gesicht

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      „Früher hat man gesagt ‚Grüß Gott‘, heute sagt man ‚Hi‘.“

      In dieser Kürze lassen sich nicht alle Veränderungen in den Nachbarschaftsbeziehungen im 23. Wiener Gemeindebezirk zusammenfassen, aber vielleicht ist es eine gute erste Spur.

      „Hier und da lernen die Leute das Grüßen“, sagt dann einer der Anwesenden hoffnungsvoll.

      Und mit diesen zwei Statements ist eigentlich schon die Richtung vorgegeben für ein Gespräch im Gemeinschaftsraum des Ella-Lingens-Hofes über Erfahrungen mit der Grußkultur im Gemeindebau im Allgemeinen und dem „Willkommen Nachbar“-Programm im Speziellen.

      Ein elegant gekleideter Herr mit Krawatte hat eine ganz klare Philosophie: „Ich grüße so oft, wie es notwendig ist.“ Der andere könne ja gedankenverloren sein und den Gruß einfach nicht bemerkt haben, daher müsse man eben öfter grüßen, um ihn aus seinen Gedanken zu reißen: Mit „Bei mir hüft eam des nix!“ sorgt er für zustimmendes Lachen. Aber Lachen hin oder her, seine Grußerfolgsquote gibt ihm Recht, meint er, geschätzt liege sie mittlerweile bei beachtlichen 90 Prozent.

      Auch eine ursprünglich aus St. Pölten stammende Mietervertreterin stimmt mit diesem durchaus rigorosen Ansatz überein: „Je unfreundlicher einer ist, umso freundlicher werde ich.“

      Ob es nun kulturelle Unterschiede sind oder ob es die individuelle schlechte Erziehung mancher Menschen ist, die sie heute am Grüßen hindert, darüber gehen die Meinungen im Ella-Lingens-Hof auseinander. Während manche meinen, viele Ausländer würden zumindest nicht von sich aus grüßen, ist einer der anwesenden Herren überzeugt, dass es vorwiegend die Eingeborenen sind, die die Höflichkeitsregeln missachten: „Es sind die Wiener, die nicht grüßen können!“

      In jedem Fall wird das „Willkommen Nachbar“-Programm, bei dem Neumieterinnen und Neumieter begrüßt und informiert werden, vielleicht gerade deshalb von einigen der Anwesenden durchaus mit Verve betrieben:

      „Wir können etwas beitragen, um eine Atmosphäre zu schaffen, das erzeugt einen Schneeball-Effekt. Mich grüßen die Kinder inzwischen schon aus 15 Metern Entfernung“, berichtet der Herr mit der hohen Grüßerfolgsquote.

      Außer gezieltem Erstgrüßen tut er allerdings noch einiges anderes für die Mieterinnen und Mieter in seinem Bau: Einer neu eingezogenen albanischen Familie mit vier Kindern schenkte er etwa zwei von ihm nicht mehr benötigte Kindersessel – eine von vielen kleinen Aktionen, die das Klima verbessern und Freundschaften entstehen lassen: „I glaub, des waß do eh a jeder: Wenn sie die Leut verstehen, dann gibt’s weniger Streit. ‚Strebe eine Win-Win-Situation an‘, hat man uns bei wohnpartner gelehrt.“

      Das tun augenscheinlich alle, die sich für „Willkommen Nachbar“, „Hallo Du“, im Mieterbeirat oder beim alltäglichen Grüßen auf der Stiege engagieren.

      „Meine Motivation ist ein freundliches Gesicht“, sagt der elegante Herr zum Abschluss. Es geht also doch nicht ausschließlich ums Grüßen.

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       BACKBONE

       „Es fühlt sich zusammen an“

      „Backbone“ heißt der Verein für mobile Jugendarbeit im 20. Bezirk, in dem die beiden jungen Frauen Valona und Habibe einander kennengelernt haben, als sie ungefähr 13 Jahre alt waren. Damals gab es am Freitagnachmittag hier jede Woche den Mädchentag, „und das war für mich immer ein Tag, wo ich hier meine zweite Familie treffe. Ich wusste jahrelang nicht, was man an einem Freitag anderes machen soll als das“, sagt Habibe lachend. „Wir haben hier gemeinsam gekocht, uns unterhalten, Tanzsessions gemacht und über das Leben gelacht. Das war wichtig für uns“, erzählt sie von den glücklichen Zeiten, die sie mit Valona und einer Handvoll anderer Mädchen hier zugebracht hat.

      „Die Betreuer waren dabei, aber irgendwie ein Teil von uns. Und irgendwann hatten wir uns so viel Vertrauen verdient, dass wir auch den Schlüssel bekommen haben“, ergänzt Valona, die inzwischen selber als Streetworkerin des „Fairplay“-Programmes für Backbone aktiv ist.

      Habibe kam mit ihren Eltern und Geschwistern mit zehn Jahren aus Bulgarien nach Österreich, in der Anfangszeit schliefen sie zu fünft in einem Zimmer. „Als wir dann eine Gemeindebauwohnung bekommen haben, war das eine extreme Erleichterung, denn im Vergleich zu unserer ersten Wohnung ist sie uns riesengroß vorgekommen.“

      Zehn Jahre lang hat Habibe mit ihrer Familie im Gemeindebau gewohnt, vor einem Jahr ist sie in ihre erste eigene Wohnung, eine SMART-Wohnung der Stadt Wien, umgezogen. Nach der Schule hat die 25-Jährige eine Lehre als Zahntechnikerin gemacht, studiert jetzt nach einer Berufsmatura aber auch noch Europäische Wirtschafts- und Unternehmensführung.

      Valona wiederum wohnt in einer eigenen Gemeindebauwohnung, seit sie 19 ist; bereits mit 16 hat sie sich dafür angemeldet. „Das war damals ganz neu, dass man sich schon so früh anmelden kann und dafür dann fix eine Wohnung bekommt, wenn man alt genug ist. Für mich war immer klar, dass ich in eine Gemeindewohnung will, jetzt wohne ich seit sechs Jahren im Goethehof. Die allererste Wohnung, die mir angeboten wurde, wäre eine Kategorie D in der Brigittenau gewesen, aber da hätte man zu viel investieren müssen.“

      Dass gutes Wohnen keine Selbstverständlichkeit ist, lernte Valona schon in ihrer Kindheit: „Ich bin in Oberwart aufgewachsen und musste alle paar Jahre umziehen, weil meine Eltern nicht so gut Deutsch konnten und immer nur befristete Mietverträge bekommen haben. Deshalb war die Wohnsicherheit, die der Gemeindebau bietet, für mich ganz wichtig.“

      Einig sind sich Valona, die neben ihrer Arbeit bei Backbone an der PH Wien studiert, und Habibe darüber, dass es das Soziale ist, das den Gemeindebau von anderen Wohnformen unterscheidet: „Die Leute schauen aufeinander. Es fühlt sich einfach zusammen an“, sagt Valona. „Ich verstehe mich am besten mit meinem Nachbarn, der Pensionist ist“, ergänzt Habibe. Sie meint damit aber nicht ihren derzeitigen Nachbarn, sondern einen aus dem Gemeindebau, in dem sie ihre Jugend verbrachte.

      Beiden ist es aufgrund ihrer Kindheitserfahrungen besonders wichtig, dass angemessener Wohnraum für alle erschwinglich ist. „Ich wünsche mir wirklich sehr, dass es das weiterhin gibt und dass es leistbar bleibt. Es darf nicht wie in München enden, dass man sein halbes Gehalt für die Miete ausgeben muss“, bringt es Valona auf den Punkt.

      Und als Besucher denkt man: Wenn die Jugendlichen bei Backbone lernen,