Globetrotter-Spirit: Reisen als Lebensschule. Группа авторов

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Название Globetrotter-Spirit: Reisen als Lebensschule
Автор произведения Группа авторов
Жанр Книги о Путешествиях
Серия
Издательство Книги о Путешествиях
Год выпуска 0
isbn 9783280090794



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Nun interessiert es mich natürlich, wie es sich in der Praxis verhält. Obwohl ich zehn Jahre in der Reisebranche gearbeitet habe und auf fast allen Kontinenten dieser Welt war, kann ich die Frage nach der Ursache unserer Reiselust nicht wirklich beantworten. Also bin ich umso gespannter, ob sich die Antworten, die mir die Bücher geliefert haben, bewahrheiten werden.

      Testament zum Abschied. «Hooray and up she rises» lautet die Textzeile eines Seefahrerliedes. Mit «she» ist das Schiff gemeint, und «to rise up» heisst in diesem Zusammenhang: losfahren, aufbrechen. Die Grundbedeutung von Reise ist also «Aufbruch». Ein wichtiger, aber auch schwieriger Teil der Reise. Die ersten Schritte von der Haustüre weg, die ersten Minuten im Zug an den Flughafen oder die Verabschiedung von nahestehenden Menschen erzeugen ein mulmiges Gefühl. Als ob etwas rückwärts ziehen würde.

      Früher muss den Reisenden der Aufbruch noch um einiges schwerer gefallen sein. Damals reiste man nicht zum Vergnügen, sondern, weil man oft keine andere Wahl hatte. Schon in der Steinzeit, etwa 2200 vor Christus, waren ganze Dorfgemeinschaften auf Reisen. Lange Trockenzeiten zwangen die Menschen, ihr Zuhause aufzugeben und an Moore und Seen zu ziehen. Später waren die Reiseursachen vorwiegend religiöser, beruflicher oder bildender Art. Aber Reisen galt weiterhin als gefährlich. Darum war es üblich, vor der Abreise jeweils sein Testament zu machen. Die Reise als Selbstzweck, zur Gewinnung persönlicher Erlebnisse, kam erst im 18. Jahrhundert auf.

      Ein sentimentaler Hollywoodstreifen lullte mich über Pakistan in den Schlaf. Um 2 Uhr morgens, beim Anflug auf Bombay, erwachte ich wieder. Eine gespenstische Szenerie tat sich unter mir auf. Rote, gelbe und orange Lichter zogen vorbei. Nicht die typische Grossstadtbeleuchtung. Es schien, als ob man über einen Friedhof mit Tausenden Kerzen in farbigen Bechern fliegen würde. Der Smog tauchte den Flughafen von Bombay in ein düsteres Licht. Jeder Tag in Bombay sei, wie wenn man 20 Zigaretten rauche, habe ich in meinem Reisehandbuch gelesen.

      Und nun sitze ich also im Taxi in diesem finsteren Hinterhof. Ich zahle dem Taxifahrer den ausgehandelten Preis. Immer noch mit einem flauen Gefühl im Magen steige ich aus dem Wagen. Jetzt sehe ich auch den stark vergilbten Schriftzug meines Hotels – gerettet.

      Fremden in der Fremde. Angst gehört zum Reisen. Angst vor Kriminalität, Krankheiten, Unfällen, vor dem, was auf einen zukommt – oder einfach die Angst vor dem Fremden. Man entwickelt ein Misstrauen gegenüber allem, was einem nicht vertraut ist. In seinem Buch Reisekultur bezeichnet Herausgeber Hermann Bausinger die Angst vor dem Fremden als eine der grossen Urängste der Menschheit. Ein Kind «fremdet», sagt man, und meint damit, dass es vor jemandem Angst hat, den es nicht kennt. Es klammert sich an den Vater oder die Mutter. Ähnlich verhält es sich auch mit dem Reisen. Wer mit seiner Angst nicht umgehen kann, der bleibt zuhause.

      Die Tourismusforschung hat herausgefunden, dass sich Touristen von der Fremde vor allem eines wünschen: dass sie nicht allzu fremd sei. Um diesem Bedürfnis zu entsprechen, hat die Tourismusbranche an vielen Orten die Fremde so eingerichtet, dass sich der Urlauber möglichst wie zuhause fühlt. Die deutsche Currywurst auf - Mallorca, die Schweizer Fonduestube in Guatemala oder ein indisches Hotel in Engelberg sind nur einige Beispiele dafür.

      Die Nacht in Bombay ist kurz. Nach nur vier Stunden Schlaf reise ich weiter im Flugzeug. Mein Ziel: Goa. Dort angekommen, nehme ich ein Taxi nach Vagator, einem kleinen Ort in Nord-Goa, «wo sich die Freaks und Travellers treffen», wie es im Reiseführer heisst. Vorbei an etlichen Restaurants und Guesthouses, fahre ich erst mal an den Strand. Die Strassen sind leer.

      Im «Mahalaxmi», dem einzigen Restaurant am Meer, treffe ich auf Travellers. Verschlafen nippen sie am Chai, ihrem Morgentee, rauchen einheimische Zigaretten und tauschen Reisegeschichten aus. Man erzählt, woher man kommt und wohin man noch gehen will. Als ich sie frage, warum sie eigentlich unterwegs sind, werden sie schlagartig wach. «One word: freedom», ruft ein Typ namens Nicolas. Er ist 29, Schauspieler, stammt aus Paris und ist eingekleidet, wie es sich für den richtigen Traveller hier gehört: in flatternde, staubige Stoffhosen, ein rot-weiss gefärbtes Batik-T-Shirt und das passende Stirnband. Was Freiheit denn bedeute, fragt ihn Yinon aus Israel. Nicolas: «Keine Verwandten und Bekannten um mich herum zu haben, nicht ständig ans Geld denken zu müssen. Und dass alles offen bleibt.»

      Flucht in die Freiheit. «Eine vergebliche Flucht aus den Zwängen der Gesellschaft» nennt Hans Magnus Enzensberger das Reisen in seiner Theorie des Tourismus. Und führt weiter aus: In die vermeintliche Freiheit müsse nur jener flüchten, der sich zuhause nicht frei fühle. Oder anders gesagt: Der freie Mensch reist nicht. Aber wie frei der Mensch daheim auch ist – will er nicht nur die Alltagsabenteuer erleben, muss er raus.

      Unterwegssein heisst: vieles dem Zufall zu überlassen. Man darf Risiken eingehen, denn auf Reisen fühlt man sich nur sich selbst verantwortlich. Unannehmlichkeiten und Ausnahmesituationen, die bewältigt werden müssen, verströmen den Geruch des Abenteuers. Und sie sind als Lebenserfahrungen, als Lernfelder zur Entwicklung von Lösungsstrategien, wichtig. Wenn Freunde von ihrer Reise, ihrem Urlaub erzählen, hört man meistens von den Widrigkeiten, von gefährlichen Situationen, die sie erlebt haben. Der Schriftsteller Paul Theroux beschreibt die Erwartungen an seine Reise durch Südamerika so: «Und wenn ich grosses Glück hätte, würde mir etwas Schreckliches widerfahren.»

      Eine entsprechende Geschichte hat Nicolas auf Lager. Der junge Franzose erzählt, wie er sich vor drei Wochen in Nepal alleine mit der billigsten Landkarte im Gepäck auf eine Wanderung begeben habe. Zwei Tage lang sei er über die Hügel und durch die Wälder Nepals getrekkt – und dann habe er nicht mehr die geringste Ahnung gehabt, wo er sei. «Keine Siedlung, keine Leute weit und breit!» Er sei schliesslich auf einen alten Bauern gestossen, der ihn in die nächste Ortschaft gebracht habe. Ein breites Grinsen und funkelnde Augen verraten Nicolas’ Stolz.

      Mittlerweile weicht die kühle Morgenluft einer warmen Brise, und statt Chai trinken wir jetzt Fresh Lemon Soda: frisch gepressten Limettensaft mit Mineralwasser. Esther, eine 36-jährige Designerin aus London, bringt den meistgenannten Grund für die Reiselust auf den Tisch. In London sei alles sehr geschäftig. Immer busy, busy, busy – stete Stimulation. «Hier in Indien lerne ich die Kontrolle abzugeben, ‹just to let it flow› – es einfach fliessen zu lassen.»

      Ferien vom Ich. Reisen, um dem Alltag zu entfliehen. Um Stress und Hektik hinter sich zu lassen, um vom sozialen Umfeld, der Arbeit, den Erwartungen und Verantwortungen wegzukommen. Jochen K. Schütze schreibt im Buch Gefährliche Geographie: «Die Reise ist eine besondere Zeit des Aufschubs und der Verantwortungslosigkeit. Für die Dauer einer Reise ist das Subjekt niemandem rechenschaftspflichtig, es bricht den Alltag ab und lässt allen Anstand hinter sich.» In der Fremde ist man anonym, man darf die Sau rauslassen, sich aus dem eigenen «Ich» pellen und in Rollen schlüpfen, die zuhause nicht möglich wären. Im Urlaub bietet sich die Möglichkeit, aus der Alltagsmonotonie auszubrechen.

      Mein Glas mit Lime Soda ist leer. Mittagszeit: Die Sonne brennt, langsam tauchen immer mehr Leute am Strand auf und ziehen vorbei. Ich folge ihnen. Vorbei am Hauptstrand, wo sich Massen von indischen Tagesausflüglern tummeln, laufe ich einen halben Kilometer weiter südlich. Hier liegen die westlichen Travellers und die Freaks, die mir im Reisehandbuch versprochen wurden. Ganzkörper-Tätowierungen, Rasta-Frisuren, Piercings, Tangaslips und Kahlköpfe reihen sich aneinander.

      In einem Beach Shack, einer Hütte aus Bambusrohren und Palmblättern, schaue ich bei einem scharfen Fischcurry dem Treiben zu. Momentan sei es noch ruhig, sagt man mir. Ab Dezember kriege man nur noch mit Glück einen Platz am Strand. Trotzdem finde ich meine Ruhe nicht. Denn fast pausenlos wird man von jungen indischen Mädchen belagert. Strandverkäuferinnen, die einem Zöpfchen ins Haar flechten, Henna-Tattoos zeichnen oder ihren Schmuck verkaufen wollen. «Hello …, how’s your name …, where are you from …, wanna see my jewellery?»

      Ich flüchte vor den Belästigungen aus der Strandhütte und gehe wieder den Strand entlang zurück – mit einem Henna-Tattoo auf dem Arm. Nebst den Touristen trifft man immer wieder Kühe, die für die Hindus heilig sind. Gemütlich liegen sie im Sand und gönnen sich ein Sonnenbad. Kurz vor dem Hauptstrand treffe ich ein junges indisches Paar, Sumita und Falguni. Die beiden sind innert zwei Tagen von Kalkutta per Zug und Bus