Globetrotter-Spirit: Reisen als Lebensschule. Группа авторов

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Название Globetrotter-Spirit: Reisen als Lebensschule
Автор произведения Группа авторов
Жанр Книги о Путешествиях
Серия
Издательство Книги о Путешествиях
Год выпуска 0
isbn 9783280090794



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hier.»

      Sun, fun, and … Ein deutsches Freizeitforschungsinstitut hat die Gründe der Reiselust erfragt. Oft genannt wurde von den Touristen eben der Wunsch nach Sonne, Wärme und viel Natur. Triviale Bedürfnisse, aber für jemanden wie mich, der eben erst aus der kalten, nebligen Schweiz kam, nur zu verständlich.

      «Nine» heisst die Bar, wo sich die Insider aus Vagator und Umgebung zum Sonnenuntergang und gemeinsamen Chillum-Rauchen treffen. Die Open-Air-Bar liegt auf einer von Palmen bewachsenen Anhöhe über dem Strand. Ein idealer Ort, um in die immer oranger werdende Sonne zu sinnieren und sich vom allabendlichen kühlen Wind erfrischen zu lassen, mit dem obligaten Goa Trance Sound im Nacken. Dieser Technostil wurde hier Mitte der 1980er-Jahre entwickelt und ist seit Längerem auch in Europa populär.

      Es wird nicht viel geredet. Ist die Sonne im Dunst verschwunden, schliessen sich viele Augen, und die Körper wiegen im Takt der Musik. Wüsste man es nicht besser, könnte man meinen, an einer Gruppenmeditation teilzunehmen. Packt einen der Hunger, geht man am späteren Abend beispielsweise ein Chicken Tandoori im «Chinese Garden» essen. Natürlich mit Goa Trance im Hintergrund.

      Gegen elf Uhr folgt dann der Gang in die «Primrose Bar», den endgültigen Party-Spot von Nord-Goa. Die Stühle im Garten und unter dem Vordach sind alle schon besetzt. Nur die Tanzfläche ist noch leer. Der DJ aus Frankreich gibt sich alle Mühe, mit seinen Mini-Discs die Gäste aus ihrer Lethargie zu rütteln. Mit welchem Sound wohl? Ich kann noch einen wackelnden Plastikstuhl ergattern und setze mich zu drei Frauen aus Deutschland. Die 20-jährige Nadine stammt aus Rheinfelden und ist eben aus Nordindien angekommen. «Ich habe gerade das Abi hinter mir und dachte, dass ich nun lange genug an einem Ort angebunden war.» Sie will noch acht Monate lang weiterreisen. Welches ihr nächstes Ziel sein wird, weiss sie nicht. Vielleicht Vietnam, Nepal? «Ist egal.»

      Ziellos in die Ferne. «Wohin reitest du, Herr? Ich weiss es nicht, sagte ich, nur weg von hier … nur so kann ich mein Ziel erreichen. – Du kennst also dein Ziel?, fragte er. Ja, antwortete ich, ich sagte es doch: Weg-von-hier, das ist mein Ziel.» So schreibt Franz Kafka in seinem Roman Der Aufbruch.

      Der Weg ist das Ziel: ein abgedroschener Satz, den man schon 1000-mal gehört hat. Und doch beinhaltet er das Wesentliche. Die Bewegung ist des Reisenden Ziel, und zwar vor allem die Bewegung von etwas weg. Weg vom Vorhersehbaren, vom Bekannten. Wer in die Fremde geht, will Neues sehen, Neues erleben. Deshalb wird ein Land oft gerade nur einmal bereist. In der bereits erwähnten deutschen Studie ist nachzulesen, dass am Ende einer gerade durchgeführten Reise schon ein neues Ziel ins Auge gefasst werde, da es «überall ganz anders» sei. Oder wie es Jochen K. Schütze in Gefährliche Geographie ausdrückt: «Mit jeder Ankunft ist das Reisen umsonst. Das Dort wird zum Hier.»

      Noch spitzer formulierte es Michel de Montaigne, ein Literat und erfahrener Reisender aus dem 16. Jahrhundert: «Reisen bedeutet weder ans Ziel zu gelangen noch zurückzukehren.» Wäre dies die Definition vom Reisen, wäre von uns noch niemand wirklich gereist. Unsere Ausflüge in die Fremde, so lange sie auch dauern, enden schliesslich immer wieder daheim. Wir sind lediglich auf einem Umweg nach Hause. Oft geht es beim Reisen aber auch gar nicht um das geografische Wegkommen, sondern um ein geistiges. Man glaubt, an einem anderen Ort leichter ein anderer oder eine andere werden zu können. Weil dort die Scherben einer eben in die Brüche gegangenen Beziehung nicht herumliegen. Oder weil man den Leuten, die einen zu kennen glauben, nicht mehr begegnet, sondern unbelastet neue Freundschaften knüpfen kann.

      In der «Primrose Bar» sind die Gäste aufgewacht, die Tanzfläche ist inzwischen voll und der Sound um einige Dezibel lauter. Auffallend bleibt, dass hier niemand auf Aufriss ist. Jeder bewegt sich in der Gruppe, aber amüsiert sich mit sich selbst, lebt seinen Egotrip aus.

      Auch Julia aus Essen kommt in Fahrt. Nur der gelegentliche Schluck aus der Kingfisher-Bierflasche unterbricht ihren Redefluss. Ansonsten springt ihr Kinn-Piercing stetig auf und ab. «Zuhause bist du immer mit den akuten Problemen beschäftigt. Hier, wenn du 22 Stunden im Zug unterwegs bist, hast du plötzlich Zeit, über dich und dein Leben nachzudenken.»

      Auf der Fährte des eigenen Ichs. Julia sucht also nicht die Ferien vom Ich, sondern das Gegenteil: Es geht ihr darum, Zeit zu haben, um sich mit sich selbst intensiv auseinanderzusetzen. «Der kürzeste Weg zu sich selbst führt um die Welt», sagte der Reisephilosoph Hermann Keyserling anfangs des 20. Jahrhunderts.

      Der Sound bricht abrupt ab. Ein Blick auf die Uhr zeigt: Es ist 1.30 Uhr. Eine letzte Runde Kingfisher, und dann begibt sich die Party-Horde auf den Heimweg. Es ist auch nachts noch angenehm warm. Ich bin der Einzige, der zu Fuss unterwegs ist, der Rest steigt auf Motorräder. Deren Miete ist hier günstig, und nach einem Führerschein fragt niemand. Da ist es kein Wunder, dass ab und zu eine Maschine im Gebüsch neben der Kurve landet. Nach zehn Minuten komme ich in meinem Guesthouse an, der «Villa Sapna», Villa der Träume.

      Am nächsten Morgen reise ich weiter nach Anjuna. Auch dieser Ort, etwa 5 Kilometer weiter südlich von Vagator, ist ein Treffpunkt für die Traveller- und Freak-Szene. Am kilometerlangen Strand hat es noch weniger Leute als in Vagator. Auch hier fehlen die charmanten, aber aufsässigen Strandverkäuferinnen nicht: «Remember me, yesterday, you promised to buy …» Ich verspreche gar nichts mehr und mache mich auf den Weg.

      In einem Strandrestaurant treffe ich den jungen Japaner Masaki aus Osaka. Für Japaner ist es nicht einfach, Urlaub zu bekommen. Und mehr als eine Woche am Stück liegt vom Job her meistens nicht drin. Masaki ist schon seit einem Monat unterwegs. Seinen Job hat er gekündigt. Ich frage ihn nach seinen Reisegründen. «Ich weiss es nicht. Warte, lass mich mal überlegen. Nein, sorry, ich weiss nicht, warum ich abgereist bin. Einfach so halt.»

      Katalysator Langeweile. Etlichen Leuten, mit denen ich gesprochen habe, ging es ähnlich. Sie mussten lange überlegen, warum sie eigentlich auf Reisen sind. Wie der Spiegel schon vor zehn Jahren schrieb: «Jenseits der Zwecke, jenseits der Ziele und unter Verachtung des Weges: Reisen als Droge. Bewegung als Kampf gegen Langeweile.»

      Dass man gerade hier in Goa viele Leute trifft, die den eigentlichen Zweck ihrer Reise kaum nennen können, verwundert nicht. Etliche dieser sogenannten und von sich selbst als Freaks definierten Travellers kommen für die ganze von November bis März dauernde Saison nach Goa. Sie bewegen sich in einem Radius von vielleicht 30 Kilometern und tun vor allem eines: nichts. Sie liegen am Strand herum, jonglieren, baden und begeben sich abends auf die Suche nach der besten Party, den schärfsten Drogen. Ibiza und Mallorca lassen grüssen – nur der Sex fehlt.

      Ich reise auf den Spuren der Hippies weiter in den Süden, nach Calangute. Hier soll alles angefangen haben. Der Goa-Boom wurde von Hippies Ende der 1960er- und anfangs der 1970er-Jahre eingeleitet. Vor dem «Goa Trance» schallten hier die Stones, Jefferson Airplane und Janis Joplin durch die Palmen. Nach ihnen erklangen Bob Marley und Peter Tosh. Heute ist Calangute vor allem ein Ort, wo sich die normalen Touristen treffen – die Gattung «touristus vulgaris», wie sie in einem Buch genannt werden. Noch weiter im Süden gelangt man nach Fort Aguada, wo sich das gediegene Hotel «Taj Holiday Village» befindet. Hier kostet das Zimmer 20- oder 40-mal so viel wie ein Guesthouse weiter nördlich, und für das Kingfisher-Bier zahlt man das Dreifache. Die Luxussiedlung bietet aber auch etwas. Neben dem bis auf Kühlschranktemperatur runtergekühlten Hotelzimmer, den Matten am Strand gegen sandige Füsse gibts einen grosszügigen Pool mit einer Bar im Wasser.

      Hier treffe ich die ersten Schweizerinnen in Goa: Nicole und Simone, beide Anfang 20 und aus der Nähe von Basel. Sie reisten mit den Eltern von Nicole für zwei Wochen nach Indien. Auch sie seien hier, um Wärme und Energie zu tanken und einfach mal abzuschalten. Ich frage mich, ob ich in diesem Alter auch schon das Gefühl hatte, abschalten zu müssen. Die zwei jungen Frauen fliegen schon morgen zurück in die Schweiz. «Ich hoffe, ich kann zuhause die Ruhe, die ich hier gefunden habe, beibehalten», sagt Nicole.

      Die Probleme lösen sich von allein. Während des Reisens befindet man sich in einer steten Auseinandersetzung mit der Situation zu Hause. Schliesslich ist das «normale» Leben dort Bezugspunkt zum Erlebten in der Fremde. Aus der Ferne gewinnt man Übersicht; man erkennt, was schiefläuft, was man ändern will. Nietzsche schrieb: «Von