Animant Crumbs Staubchronik. Lin Rina

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Название Animant Crumbs Staubchronik
Автор произведения Lin Rina
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783959913928



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die Folter spannte. »Redet nur«, sagte er schließlich schroff. »Soll mir recht sein. Dann muss ich schon nicht über diesen Mann sprechen. Das ist nicht gut für mein Herz, wisst ihr«, behauptete er und ich konnte ihm nicht so recht glauben, weil Tante Lillian in diesem Moment ebenfalls zu grinsen anfing und sich nur mühsam das Lachen verkneifen konnte.

      Doch es konnte mir ja auch egal sein, welche Gründe Onkel Alfred wirklich hatte, solange er mir erlaubte, meine Neugierde anderweitig zu stillen.

      Mr Boyles Honigaugen wandten sich erwartungsvoll an mich und mir fiel es schwer, auf die Schnelle bei all den vielen Fragen zu entscheiden, welche ich als Erstes stellen wollte.

      »Mein Onkel deutete an, dass sich kein Assistent für diesen Mr Reed finden lasse. Woran kann das Ihrer Meinung nach liegen?«, begann ich klein, erinnerte mich selbst daran, dass ich ja mal hungrig gewesen war, und tauchte meinen Löffel in den heißen Eintopf, der nach Kartoffeln, Hühnchen und diversen Gewürzen duftete.

      »Puh, das ist wohl auch schon der Kern der Sache«, meinte Mr Boyle und ließ seinen Löffel auf halbem Weg in der Luft verweilen, während er die Stirn krauszog, um seine Gedanken anzustrengen. »Ich würde behaupten, es liegt an den Erwartungen, die er an die Leute stellt und die niemand erfüllen kann.«

      »Und die wären?«, schob ich gleich hinterher, als Mr Boyle sich den Löffel zum Mund führte.

      »Er nimmt sich nicht die Zeit, die Leute richtig einzulernen. Er hat gern seine Ruhe, verschwindet manchmal am Nachmittag einfach, ohne zu sagen wohin, und erwartet, dass man mit den gestellten Aufgaben fertig wird, ohne von ihm eine Anleitung zu bekommen. Ich würde behaupten, er ist ein schlechter Lehrer, der aber trotzdem Perfektion als Ergebnis erwartet«, führte er aus und da fiel ihm noch etwas ein. »Oh!«, machte er und sein Mund verzog sich zu einem kleinen Lächeln. »Und er schätzt es gar nicht, wenn man seine Arbeit nicht ernst nimmt. Ein Mensch, der Vergnügen der Arbeit voranstellt, hat bei ihm nicht die geringste Chance.«

      Das waren eine Menge Eigenschaften, die auf einen sehr verschrobenen, steifen Mann hinwiesen, mit dem ich meine liebe Mühe haben würde. Falls ich die Gelegenheit bekam, lang genug zu bleiben, um mich überhaupt darauf einzulassen.

      So wie es bei Mr Boyle klang, würde ich in die Bibliothek hineinkommen, einen Fehler machen und schon wieder rausgeworfen werden. Ich hatte noch nie in einer Bibliothek gearbeitet.

      Was dachte ich da? Ich hatte überhaupt noch nie gearbeitet! Ich hatte keine Ausbildung, kein Literaturstudium, keinerlei Erfahrungen als Assistent eines Bibliothekars.

      Aber ich hatte Stärken, die von Vorteil sein würden. Ich kannte mich in Bibliotheken aus. Zwar nicht speziell in dieser, aber ich hatte schon viele gesehen und das System war immer ähnlich. Ich konnte schnell lesen, war logisch veranlagt und hatte einen Hang zur Sorgfalt.

      Und vor allem war ich dickköpfig.

      Wenn es sein musste, dann würde sich dieser Mr Reed die Zähne an mir ausbeißen. Sollte sich herausstellen, dass es nur die trotzige Reaktion einer Tochter auf die Worte ihrer Mutter war, würde ich trotzdem niemals aufgeben!

      Dieser Entschluss stärkte mir den Rücken, gab mir Aufwind, auch wenn Mr Boyles Worte mich eigentlich hätten entmutigen müssen.

      »Woher wissen Sie von dem Vergnügensverbot?«, fragte ich nach.

      »Es ist kein Verbot, Miss Crumb. Es wird nur nicht gern von ihm gesehen, wenn sie Bälle und Gesellschaften der Arbeit vorziehen und unausgeschlafen am Morgen antreten«, verdeutlichte er und ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, dass er irgendwie zu glauben schien, dass ich so eine Person sein könnte, die Bälle liebte und den Morgen verschlief.

      »Und um auf Ihre Frage zu antworten. Einige meiner engeren Bekannten haben sich bereits in die Knechtschaft dieses Mannes begeben und sind allesamt geflohen«, sagte er und lachte, weil er darin einen Witz fand, den ich nicht entdecken konnte. »Aber zu Mr Reeds Verteidigung muss ich sagen, dass diese besagten Bekannten faule Taugenichtse sind und es eigentlich nicht anders verdient haben.«

      Da war er also, der Witz, und ich lächelte elegant, genau wie Mr Boyle es auch tat.

      Ich hatte gedacht, dass die Antworten auf meine Fragen Licht in die Dunkelheit bringen würden. Doch eigentlich warfen sie nur neue Schatten an die Wände, die ich noch weniger deuten konnte als die vorherige Dunkelheit.

      Es ergab sich einfach kein vollständiges Bild und meine Neugierde wurde nur weiter angestachelt.

      »Aber um dem verschrienen Mr Reed nicht unrecht zu tun, bin ich gewillt, Ihnen auch ein paar seiner positiven Eigenschaften aufzuzählen«, gab Mr Boyle fast gnädig von sich und Onkel Alfred schnaubte in sich hinein. Er schien da wohl anderer Meinung zu sein, sodass ich mir verhalten die Hand vor den Mund legte, damit er mein Lachen nicht sah.

      Doch Mr Boyle entging es nicht und seine Augen glitzerten in einer so angenehmen Weise, dass ich mir nicht erklären konnte, woher all die Sympathien kamen, die ich für ihn hegte, obwohl ich ihn so wenig kannte.

      Vielleicht lag es an seinem hübschen Gesicht oder seiner stilvollen Kleidung. Doch das hatten schon andere vor ihm gehabt und ich hatte ihnen auch nichts abgewinnen können.

      Ich belächelte mich selbst und gab der Möglichkeit Raum, dass es an der Tatsache lag, dass er bisher noch nichts gesagt hatte, was auf Stumpfsinn hinweisen könnte.

      Mr Boyle nahm noch einen Löffel Eintopf zu sich und führte seine Anschauungen weiter aus. »Mr Reed ist weltoffen und unkonventionell, soweit man das als Stärken auslegen möchte. Er ist wissbegierig, hat zu beinahe jedem Thema eine Meinung oder zumindest ein Buch, auf das er verweisen könnte, und sein Sinn für Fortschritt ist mir sehr genehm.«

      Ich nickte leicht und schwieg, hing meinen Gedanken nach, versuchte das Bild weiter zusammenzusetzen.

      »Bin ich Ihnen denn eine Hilfe, Miss Crumb?«, fragte Mr Boyle plötzlich ein wenig verunsichert und ich hob meine Augen wieder zu ihm, bemüht, das Lächeln zurück auf meine Lippen zu zaubern.

      »Aber natürlich, Mr Boyle. Sie helfen mir sogar in großem Maße. Doch ich muss zugeben, dass ich aus alldem nicht schlau werde.«

      »Da werden Sie wohl warten müssen, bis Sie ihm begegnen«, lachte Mr Boyle und seine Stimme hatte eine Art Zuversicht, die mich davon überzeugte, dass es eine interessante Begegnung werden würde.

      Nach dem Essen zogen sich Onkel Alfred und Mr Boyle ins Arbeitszimmer zurück und redeten über irgendwelche Verträge. Allerdings konnte ich nicht viel in Erfahrung bringen, da Tante Lillian mich beinahe beim Lauschen erwischt hätte und ich mich daraufhin mit ihr im Wohnzimmer vor den Kamin setzte. Sie ließ mich von meinen Eltern berichten, von der Reise, und erzählte mir dann von all den aufregenden Sachen, die sie mit mir in London unternehmen wollte.

      Ich wies sie nicht darauf hin, dass ich morgen eine Arbeit antrat und daher wahrscheinlich nicht so viel Zeit für ausschweifende Unternehmungen haben würde. Stattdessen lächelte ich nur und ließ ihr die Freude, mir Londons Attraktionen aufzuzählen. Und als sich die Herren wieder zu uns gesellten, war es bereits spät geworden und es war absehbar, dass Mr Boyle uns bald verlassen würde.

      »Wie lang werden Sie denn voraussichtlich in London verweilen, Miss Crumb?«, fragte er mich und ich fühlte mich ein wenig geschmeichelt von all der Aufmerksamkeit, die er mir entgegenbrachte.

      Er hatte sich nah neben das Sofa gestellt, auf dem ich saß, und sein Blick lag auf mir. Amüsiert und ernst zugleich.

      Ich wusste nicht, wie ich darauf reagieren sollte. Seine Blicke verwirrten mich, denn ich fühlte mich besonders gut und gleichzeitig unwohl bei dem Gedanken, dass er mit seiner Frage darauf abzielte, mich wiederzusehen.

      »Oh, das weiß ich noch nicht«, gab ich uneindeutig zurück und dachte daran, dass meine Mutter darauf bestanden hatte, dass ich nicht länger als einen Monat blieb. Aber wer konnte das schon so genau vorhersagen?

      Onkel Alfred schmunzelte. »Keine Angst, du wirst sie schon wiedersehen«, meinte er mit seiner brummenden Stimme und der Unterton darin gefiel mir gar nicht. Es klang so