Animant Crumbs Staubchronik. Lin Rina

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Название Animant Crumbs Staubchronik
Автор произведения Lin Rina
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783959913928



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»Mir werden die Bücher schon nicht ausgehen«, sagte ich beschwichtigend und wartete auf den Seufzer, der unweigerlich folgen musste.

      Er war lauter als erwartet und wurde noch nicht mal von Mary-Ann übertönt, die zum Essen läutete.

      Das Essen begann still. Vater sprach das Tischgebet und häufte sich dann den Teller mit Kartoffeln und Kürbisgemüse voll. Mutter schmollte, aß demonstrativ wenig, um zu betonen, wie sehr ihre Nerven unter meinem Betragen litten und ich las ein wenig über die miserablen Zustände der Kajüte, in der Jackson Throug die nächsten Wochen zu verbringen hatte.

      »Musst du denn sogar beim Essen lesen?«, tadelte mich Mutter streng und ich klappte das Buch sofort zu.

      »Verzeih, Mutter. Ich hab mich durch meine Neugierde auf den Verlauf der Handlung hinreißen lassen«, behauptete ich und streckte den Rücken durch. Ich hatte sie heute genug gereizt, da war ein wenig Demut vor ihren Augen sicher nicht unangebracht.

      Sie grummelte nur, schob dann den Teller von sich, als wäre schon der Anblick von Essen zu viel, und ich seufzte lautlos, während ich mir ein Stück Lamm in den Mund schob.

      Es war so ein Moment, in dem die Welt im Ticken einer Uhr zu versinken drohte und jeder Kopf im Zimmer sich überlegte, was er sagen konnte, um der drückenden Stille ein Ende zu setzen.

      Und dann erlöste uns die Türglocke.

      »Wer kann das nur sein?«, rief Mutter sofort, die Miene erhellt, und hob den Kopf, um durch die halb geschlossene Tür in den Flur zu spähen. »Erwartest du jemanden?«, wandte sie sich dann an Vater und gab es auf, sich den Hals zu verrenken, da sie von ihrem Platz aus sowieso niemals bis zur Tür hätte sehen können.

      »Nicht dass ich wüsste«, gab Vater zurück, nachdem er geschluckt hatte, und wischte sich mit einer Servierte das Öl vom Schnauzbart.

      Als hätte jemand eine Kerze entzündet, fingen Mutters Augen plötzlich an zu leuchten und ihr Blick wanderte zu mir. »Und du?«, erkundigte sie sich in erwartungsvollen Ton und ich rollte nur mit den Augen.

      »Mutter!«, ermahnte ich sie. »Vielleicht ist es ein Brief oder Mr Smith, weil Dolly sich schon wieder die Fessel verstaucht hat«, begann ich das Licht in ihren Augen durch belanglose Vermutungen zu löschen und Mutter zog beleidigt eine Schnute.

      »Das wäre aber sehr ungünstig. Ich hatte einen Ausflug an die Seen geplant und ich brauche Dolly vorne an meinem Einspanner, weil ihr Fell so schön zu meinem Nachmittagskleid passt«, fing sie sofort an, obwohl ich nur wild spekuliert hatte. Draußen im Flur wurde Mary-Anns Stimme lauter.

      »Sir, der Mantel. Ich bitte Sie, die Herrschaften …«, versuchte sie auf jemanden einzureden und hatte offenbar wenig Erfolg. Denn nur einen Moment später wurde die Tür schon schwungvoll aufgerissen und ein großer, bäriger Mann mit nassem Ulster und einem Zylinder auf dem Kopf stürmte ins Zimmer. Sein blau karierter Flanellschal flatterte im Windzug der Tür und er breitete die Arme aus.

      »Überraschung!«, rief er mit seiner angenehmen Stimme und ich sprang so hastig auf, dass hinter mir beinahe der Stuhl umfiel.

      »Onkel Alfred!«, quiekte ich recht undamenhaft und war drauf und dran, mich wie ein kleines Kind in seine Arme zu werfen. Da drängte sich Mary-Ann hinter ihm durch die Tür und stellte sich mir so ungeschickt in den Weg, dass der Moment der spontanen Reaktion verstrich und ich mir bewusst wurde, dass ich kein Kind mehr war und dass Mutter mich umbringen würde, wenn Regenflecken auf die Seide meiner Bluse kamen.

      »Alfred!«, rief auch Vater. »Welch angenehme Überraschung. Was führt dich hier raus zu uns?«

      Onkel Alfred zog sich den Schal vom Hals und reichte ihn der wartenden Mary-Ann. »Ach, nur ein paar Besorgungen. Nichts wirklich Wichtiges«, erklärte er und knöpfte den schweren Mantel auf, der mir zeigte, dass es in London kälter war als hier bei uns auf dem Land.

      Wir wohnten natürlich nicht wirklich auf dem Land. Doch wenn man unsere kleine Stadt mit einer wie London verglich, dann konnte man es schon als recht ländliche Gegend bezeichnen.

      Onkel Alfred reichte den Mantel der armen Mary-Ann, die unter der schieren Masse an Stoff beinahe unterging und sich vorsichtig rückwärts aus dem Zimmer schob.

      »Setz dich. Iss was. Mary-Ann wird dir ein Gedeck bringen«, bot Mutter ihm an und lächelte, obwohl wir alle sehen konnten, dass sie verstimmt war. Was nicht an Onkel Alfred lag, sondern nur an ihren zu hohen Erwartungen an einen Besuch, der am besten nicht zur Familie gehörte und im heiratsfähigen Alter war.

      Doch Onkel Alfred war viel zu gut gelaunt, um die verkniffenen Falten in ihren Mundwinkeln zu sehen, und zog sich den Stuhl neben meinem Vater raus. Als er sein massiges Gewicht auf das filigrane Mahagonimöbelstück fallen ließ, knarrte es gefährlich und Mutter krallte ihre Finger unauffällig in ihrem Schoß zusammen. Still schien sie zu beten, dass das Gewicht meines Onkels ihren geliebten Stühlen nichts anhaben würde.

      Man konnte nicht behaupten, dass Onkel Alfred wirklich dick war. Doch er war groß, genau wie Vater auch, und hatte von Natur aus das breite Kreuz eines Hafenarbeiters. Dann kamen da noch ein paar Wohlstandspfunde dazu und schon hatte man einen Mann von gewaltiger Statur. Vater wirkte dagegen eher schmal. Ihm war es beschert, nach seiner Mutter zu kommen, während sein Bruder die Eigenschaften ihres Vaters geerbt hatte.

      Und ich liebte Onkel Alfred. Er war witzig und geistreich, weltgewandt und würde sich fantastisch in einem Roman machen. Als Kind hatte ich mit großen Augen an seinen Lippen gehangen und jedes Wort, jede Geschichte in mich aufgesaugt. Er hatte von fremden Ländern geredet, von Städten und Bauten, von Menschen und Kulturen. All das, von dem ich nur träumen und lesen konnte.

      Mittlerweile war zwar auch er sesshaft geworden, hatte sich eine Frau gesucht und bestritt einen hohen Posten im Personalwesen der Royal University of London, doch an Scharfsinn und Witz hatte er nicht eingebüßt.

      »Animant«, sprach er mich an, nachdem er mit meiner Mutter die üblichen Nichtigkeiten über das Befinden und die Familie ausgetauscht und Mary-Ann ihm ein Gedeck gebracht hatte. »Und, Mädchen, was liest du zurzeit?«, wollte er wissen und bediente sich aus den Schüsseln mit Gemüse, Fleisch und Kartoffeln.

      Ich ließ ein schüchternes Lächeln sehen. Alle Welt wusste, dass ich gerne las, dass ich eigentlich nichts anderes tat, doch die wenigsten fragten mich nach meiner aktuellen Lektüre. Selbst mein Vater hatte irgendwann aufgegeben, mich nach den Titeln zu fragen, die so schnell wechselten wie die Tageszeiten.

      »Einen Diskurs über moderne Mathematik und ihren Einfluss auf unsere Sicht der physikalischen Gesetze, einen Bericht über die Gründung der Börse in Amerika 1792 und einen Roman über Jackson Throug’s Reise nach Indien«, zählte ich die Titel auf und Onkel Alfred brach in schallendes Gelächter aus.

      Vater lachte mit, einfach weil es ihm guttat, die ausgelassene Stimmung seines Bruders zu teilen, und Mutter sah mich an, als ob ich gerade behauptet hätte, die Cholera heilen zu können. Ich lächelte nur eisern weiter, wusste nicht, was es zu bedeuten hatte; fühlte mich fremd bei dem Gedanken, nicht diejenige zu sein, die den Weitblick über die Situation hatte, und zog unauffällig das Buch neben meinem Teller vom Tischrand und auf meinen Schoß, damit meine Finger sich daran klammern konnten.

      »Du bist wirklich unglaublich, Ani«, prustete mein Onkel und ich nahm an, dass es sich dabei um ein Kompliment handelte. »Ich kenne nur wenige Leute, die so viel lesen wie du«, fügte er hinzu und diesmal konnte ich den anerkennenden Ton deutlich heraushören. Verlegen zuckte ich mit den Schultern, weil ich mit der unerwarteten Ehre nicht umgehen konnte, und war bemüht, mich zusammenzunehmen, damit mir die Röte nicht ins Gesicht stieg.

      »Mich wundert, dass du überhaupt Menschen kennst, die so viel lesen«, warf meine Mutter ruppig ein, der nicht mal im Traum einfallen würde, mich dafür auch noch zu loben. Hätte sie es mal gemacht, vielleicht hätte ich mich dann dazu erbarmt, netter zu ihren auserwählten Schwiegersöhnen zu sein.

      »Oh, da gab es einen Mann in Neuseeland, der hat einfach alles gelesen, was er zwischen die Finger bekommen hat, und als es nicht genug war, hat er selbst angefangen zu schreiben«,