Ausgänge des Konservatismus. Stefan Breuer

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Название Ausgänge des Konservatismus
Автор произведения Stefan Breuer
Жанр Историческая литература
Серия
Издательство Историческая литература
Год выпуска 0
isbn 9783534273195



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eigenständiger erscheint dagegen die zweite von Kondylis angeführte Strömung, der sogenannte Sozialkonservatismus89, der dem Bestreben entsprang, die Erosion des Ancien Régime durch einen »kollektiven Patriarchalismus« zu kompensieren, wenn nicht auf dem Land, wo die Herrschaftsbasis des allem Kollektivismus abgeneigten Adels lag, so doch in Handwerk und Industrie. Durch eine korporative Organisation der dort Beschäftigten und eine Politik, die deren Interessen etwa in der Lohnfrage entgegenkam, hoffte man dem Konservatismus breitere Volksschichten zu erschließen, womit sich zugleich die Nebenabsicht einer Steigerung der Grundrente verband, sollte doch die Erhöhung der Arbeitslöhne zu einer Senkung der industriellen Profite führen und das Kapital in die Landwirtschaft umlenken. Eine derartige Förderung bestimmter gesellschaftlicher Interessen war indes nicht zu haben ohne gleichzeitige Aktivierung des bürokratischen Staates auf sozialpolitischem Gebiet, wodurch die Trennung von Staat und Gesellschaft weiter forciert wurde, gegen die der historische Konservatismus doch gerade angetreten war. Und dies mußte um so mehr der Fall sein, je mehr der Staat den Vorschlägen folgte, die aus den Reihen der Sozialkonservativen kamen – Vorschläge, die bald weit über das von Kondylis für möglich gehaltene Maß hinausgingen, indem sie etwa den Ausbau des Steuerstaates, die Schaffung eines Systems der sozialen Sicherung oder umfassende Eingriffe in die Produktionsverhältnisse der Landwirtschaft auf die Agenda setzten. Was als Sozialkonservatismus begann, wurde auf diese Weise schließlich zum »Staatssozialismus«.90

      Kombiniert man die hier nur grob angedeuteten Ansätze zu einer Transformation des Konservatismus mit dem Befund der neueren Sozialgeschichte, wonach sich der Adel keineswegs schon 1848 aus der Rolle eines historischen Akteurs verabschiedet hat, dann eröffnet sich die Möglichkeit, aber auch die Notwendigkeit, den von Kondylis gesteckten Rahmen für eine Nachgeschichte des Konservatismus zu erweitern. Diese Nachgeschichte würde nicht an der These rütteln, daß der Konservatismus »keine historische oder anthropologische Konstante, sondern eine konkrete geschichtliche, also an eine bestimmte Epoche und an einen bestimmten Ort gebundene Erscheinung ist, die mit dieser Epoche oder selbst noch vor deren Ende dahinschwindet«.91 Sie würde aber im speziellen Fall Deutschlands mit einer Reihe von Hybridbildungen rechnen, bei denen sich genuin konservative Traditionsbestände mit Motiven und Topoi aus dem Ideenvorrat der modernen bürgerlichen Gesellschaft zu wie immer auch labilen Aggregaten verbänden und so die Geschichte des Konservatismus um einige Jahrzehnte über das von Kondylis angegebene Verfallsdatum verlängerten.

      2.Liberaler Konservatismus: Friedrich Julius Stahl

      Bei allen Unterschieden stimmen Mannheim und Kondylis doch darin überein, daß der Konservatismus in Deutschland erst nach der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert zu voller Entfaltung gelangte. Legte Mannheim dabei den Akzent mehr auf den Beitrag der Romantik und der Historischen Schule1, so Kondylis auf die Mobilisierung des Gedankenguts der societas civilis, die zu einer »theoretische[n] und politische[n] Steigerung des Konservativismus« um 1800 geführt habe, und das, obwohl dessen sozialer Träger, der Adel, zur gleichen Zeit von einer Krise betroffen war. Immerhin seien die Kräfte der neuen Gesellschaft noch nicht stark genug gewesen, um diese Krise voll auszunutzen, im Gegenteil: »die Krise regte die noch immer beträchtliche Stärke (von Teilen) des Adels zu neuer Aktivität an, die neben ihren handfesten sozialen und wirtschaftlichen Resultaten eine emphatische Reformulierung der Rechtsauffassung der societas civilis, eine Idealisierung des Adels und überhaupt eine ideologische Revitalisierung des Konservativismus zeitigte.«2

      Es bedarf keiner weit ausholenden Beweisführung, um sich von der Stichhaltigkeit dieser Ausführungen zu überzeugen. Bedingt durch den 30jährigen Krieg und seine lang anhaltenden Folgen, die Fürsten und Adel enger zusammenrücken ließen als in England oder Frankreich, blieb in Deutschland der antiabsolutistische Konservatismus wenig entwickelt und artikulierte sich erst zu einem Zeitpunkt, als bereits die Revolution ihren Schatten warf. Umso stärker profilierte sich seit Ende des 18. Jahrhunderts der gegenrevolutionäre Konservatismus. Dafür stand etwa das Werk des Burke-Übersetzers Friedrich Gentz (1764–1832) oder das Opus magnum des Schweizer Staatsrechtslehrers Karl Ludwig von Haller (1768–1854), der mit seiner Restauration der Staats-Wissenschaft oder Theorie des natürlich-geselligen Zustands der Chimäre des künstlich-bürgerlichen entgegengesezt (6 Bde., 1816–1834) einer ganzen Epoche den Namen gab.3 Haller war es auch, der ab 1831 dem Kreis um das Berliner politische Wochenblatt wichtige Impulse für dessen Kampf gegen den Absolutismus wie gegen die Revolution vermittelte.4 Initiator des Blattes war der Offizier und hochrangige Diplomat Joseph Maria von Radowitz (1797–1853)5, faktischer Leiter in den ersten beiden Jahren der Berliner Professor der Rechte Carl Ernst Jarcke (1801–1852), der im Herbst 1832 als Nachfolger von Gentz an die Wiener Staatskanzlei berufen wurde.6 Wichtige Beiträge lieferten unter anderen der in Halle lehrende Historiker Heinrich Leo (1799–1878) sowie der zeitweise ebenfalls dort tätige Landgerichtsdirektor Ernst Ludwig von Gerlach (1795–1877).7 Sie alle verteidigten, mal der katholischen Soziallehre bis zurück auf Thomas von Aquin zuneigend (Jarcke), mal geprägt von der protestantisch-pietistischen Erweckungsbewegung mit ihrer Reich-Gottes-Perspektive (Leo, Gerlach)8, im übrigen auch nicht durchweg borussozentrisch argumentierend9, die societas civilis gegen den Absolutismus in all seinen realen oder vermuteten Gestalten: der Diktatur der Beamtenschaft, dem liberalen Konstitutionalismus oder der Volkssouveränität. Als sich dieser Kreis in den 40er Jahren um eine theoretische Kapazität wie Friedrich Julius Stahl (1802–1861) erweiterte, schien alles dafür zu sprechen, daß es den Konservativen gelingen könnte, die durch Revolution und Reform entbundenen Kräfte aufzufangen und einer Restabilisierung der societas civilis auf höherem Niveau zuzuführen. Die nähere Betrachtung zeigt freilich, daß dieser Höhepunkt des Konservatismus bereits sein Zenit war.

      I.

      Bevor davon ausführlicher die Rede sein kann, muß jedoch zunächst die allzu pauschale und vereinfachende Rede von der »Krise des Adels« etwas zurechtgerückt werden. Hält man sich, dem gegebenen Rahmen entsprechend, an Preußen, so fällt vor allem ins Auge, wie ungleichmäßig die Entwicklung dort verlief, mit unterschiedlicher Geschwindigkeit im ökonomischen, rechtlichen, sozialen und politischen Feld. Ökonomisch war schon die ältere Gutsherrschaft in Preußen lange vor den Stein-Hardenbergschen Reformen kommerzialisiert10, gehörten die ostelbischen Güter doch zu jenem »Ring von Agrarlieferanten mit minderem sozioökonomischen Entwicklungsniveau […], der sich um die neuen Metropolen, zuerst um England, mit ihren industriellen Ballungszentren herumlegte.«11 Auf den schon 1717 ausgesprochenen Verzicht des königlichen Lehnsherren auf sein Obereigentum, der die Allodifikation der Lehensgüter einleitete, folgten 1807 und 1811 die Reformedikte, die die noch bestehenden ständischen Restriktionen des Bodenmarktes beseitigten und Güter wie Bauernhöfe zu frei handelbaren Waren machten. Fortan durften Bürger und Bauern adlige Güter erwerben, Adlige ihrerseits Güter mit bürgerlichen oder bäuerlichen Gerechtsamen.12 In den folgenden Jahrzehnten konnte der überwiegende Teil der Voll- und Kleinbauern seine guts- und grundherrlichen Verpflichtungen ablösen oder regulieren und auf diese Weise eine allmähliche Verschiebung der Besitzverhältnisse einleiten. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs befanden sich zwei Drittel der landwirtschaftlichen Nutzfläche Ostelbiens im Besitz von Bauern, nur mehr ein Drittel gehörte Gutsherren.13 Und diese wiederum waren immer weniger mit jener traditionalen Aristokratie identisch, die von den Adelsideologen verklärt wurde. Stellte der Adel noch um 1800 neun Zehntel aller Rittergutsbesitzer, so waren es 1885 nur noch knapp die Hälfte, auch wenn es bei den großen Gütern über 1 000 ha noch mehr als zwei Drittel sein mochten.14 Mit rapidem Tempo verwandelte sich »die Ritterschaft in den Jahrzehnten vor 1848 erfolgreich vom herrschenden Stand zur herrschenden Klasse«.15

      Von Max Weber her weiß man jedoch, daß es sich bei Vorgängen dieser Art nicht, wie im Kommunistischen Manifest avisiert, um ein Entweder-Oder handelt, daß, anders gesagt, Vergesellschaftung Vergemeinschaftung nicht ausschließt, jene Art von sozialer Beziehung, bei der die Einstellung des Handelns »auf subjektiv gefühlter (affektueller oder traditionaler) Zusammengehörigkeit der Beteiligten beruht.«16 Vergemeinschaftend in diesem Sinne wirkte insbesondere die für Preußen seit Friedrich Wilhelm