Das Blöken der Wölfe. Joachim Walther

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Название Das Blöken der Wölfe
Автор произведения Joachim Walther
Жанр Историческая литература
Серия
Издательство Историческая литература
Год выпуска 0
isbn 9783954629664



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die Straße. Die Pankowscher Weg hieß, als auf dem Mühlenberg noch windgetriebene Mühlen standen und die Berliner dort ihr Mehl mahlen ließen. Die in Pankower Chaussee umbenannt wurde, als die Hohenzollern Schloss Niederschönhausen kauften und den Weg zu befestigten Straße auszubauen befahlen. Die 1841 ihren jetzigen Namen erhielt, als die Stadt aus den Mauern brach und die Mietskasernen mit den Zwischenhöfen von 28 Quadratmetern an die Straße gebaut wurden. Die heute die größte Einkaufsstraße des Berliner Nordens ist und Unfallschwerpunkt.

      Die Ostseite friert früh im Schatten, die Muskeln der Hunde vibrieren. An den Häuserwänden wachsen Lichtdreiecke mit der Spitze zur Sonne. Die Westseite wird von der Sonne bis zum ersten Stock betastet. Ganz hinten grellt der Sonnenstern am Fernsehturm.

      Die Leute steuern geradlinig die angepeilten Punkte an. Außer Rentnern, die ihre Hunde Verkehrsschilder und Laternen markieren lassen. Außer Schülern, die große Taschen schlenkern und oft stehenbleiben.

      Eine Postfrau zieht ihren Wagen in eine Toreinfahrt, bückt Zeitungen hoch und geht in das Haus. Die Leuchtreklame der Duncker-Augenoptik wird erneuert, aus dem dritten Stock schaut eine Frau im Nachthemd zu. Ein Malerlehrling holt das erste Bier. Die Kaufhalle öffnet genau um acht, die Schlange davor wird hineingesogen. Ein Postmann füllt die Briefmarkenautomaten auf. Die Papierkörbe sind noch voll von gestern. Ein Mädchen trägt Milch und Schrippen, es ist ungekämmt. Es sind mehr Frauen als Männer auf der Straße. Ein Volkspolizist beobachtet die Fußgänger, er steht so, dass er gesehen wird. Die Lokalseite der Berliner Morgenzeitung berichtet: Die Schönhauser Allee zählt mit jährlich 15 Verkehrsunfällen pro Kilometer zu den Unfallschwerpunkten der Hauptstadt. Besonders die Fußgänger verursachen hier durch verkehrswidriges Verhalten viele Verkehrsunfälle. Zu den Unsitten gehört das Durchkriechen der Schutzgitter auf der Mittelpromenade. Allein in den letzten Tagen wurden Ordnungsstrafgelder in einer Höhe von rund 200 Mark verhängt. Mütter halten ihre Kinder an der Hand und rennen zur Straßenbahn, die Kinder fliegen schräg in der Luft. In periodischen Abständen quellen aus dem S-Bahnhof Menschen, die ersten erzwingen den Übergang am Zebrastreifen, die letzten kaufen eine Zeitung am Kiosk.

      Am Rande der Fahrbahn parken LKW, sie beliefern die Geschäfte. Ein PKW mit weißem L auf blauem Grund blinkt links und biegt rechts ab, der Fahrlehrer im Innern hält die Hände vors Gesicht. Ein Müllfahrer schwingt die Zügel, die Pferde schlagen Funken aus dem Pflaster. Ein Handwerker auf Fahrrad tritt gemächlich die Pedale, sein Werkzeugkasten hinter dem Sattel klappert wild. Ein Mopedfahrer mit Rucksack und Angel lässt sich von einem Fahrradfahrer überholen, er sieht müde aus, schlechtes Beißjahr, hört man.

      An den Gleisen der Straßenbahn wird gebaut, die Gleisarbeiter haben ihre Hemden noch an. Die 46 nach Pankow ist fast leer, die Wagen schleudern und scheppern, die 46 nach Kupfergraben ist voll, die Wagen rumpeln dumpf.

      Über die Mittelpromenade stützt der U-Bahnbogen, Feuilletonisten nennen ihn witzig Magistrats-Regenschirm. Die Strecke wurde von 1911 bis 1913 gebaut. Im Vertrag von 1906 heißt es unter § 3: Von der Franseckistraße aus steigt die Bahn zur Hochbahn auf und wird als solche bis jenseits des Nordrings bis 105 m hinter die Stolpischestraße ausgeführt. Im Jahr 1909 tagte die Stadtverordnetenversammlung der Haupt- und Residenzstadt. Vierter Gegenstand der Tagesordnung: Antrag der Stadtverordneten Gronewaldt und Genossen, betreffend den Bau einer Untergrundbahn anstelle der geplanten Hochbahn in der Schönhauser Allee. Eine Petition der Anwohner wurde eingereicht, sie protestierten gegen den zu erwartenden Lärm der Hochbahn. Beides wurde abgelehnt, sechs Millionen Reichsmark wurden eingespart, die U-Bahn lärmt oben.

      Straßenkehrer gegen die Mittelpromenade, sie erzählen dabei und stützen sich auf Besenenden. Tauben äugen nach Futter. Die Blätter der Linden flattern, wenn oben eine U-Bahn fährt. Den Bäumen auf Straßen und öffentlichen Plätzen Berlins ist es strengstens untersagt, bei Altersschwäche umzufallen. In den Schaufenstern hängen Schmetterlinge aus Stoff.

       2 EIN UHR MITTAGS

      Senefelderplatz, kleiner Park mit grünem Pissoir und rotem Feuermelder. Die Bäume sind Straßenbäume. Alois Senefelder zu Ehren ein Denkmal, an dessen Fuß sind zwei klassizistische Knäblein kollektiv tätig. Knäblein eins schreibt den Vornamen Alois in Spiegelschrift, Knäblein zwei hält hilfreich den Spiegel. Der Erfinder indes grübelt noch immer in Marmor. In der ND-Druckerei gegenüber wurde früher Bier gebraut: Brauerei Pfefferberg. Das Umformer- und Schaltwerk der U-Bahn ist unsichtbar, es liegt unter der Erde. Ringsum fehlen auch ein paar Häuser, der Angriff wurde am 7. Mai 1944 geflogen. Deshalb sind die zwei Wassertürme auf dem Mühlenberg so gut zu sehen; der dicke ist bewohnt. Um 1800 standen dort acht Windmühlen mit Ausschank-Lizenz. Müller Würst ließ in seine Gläser gravieren: Gestohlen bei Würst auf dem Windmühlenberge. Dadurch stieg die Zahl der Gläser, die ohne Wissen des Besitzers geborgt wurden; die Tradition lebt fort.

      Über die Vorderfront des Komitees für Landtechnik spannen die Worte: Stärkt und schützt die Deutsche Demokratische Republik, unsere sozialistische Heimat! Die BSG Rotation Prenzlauer Berg nennt ihr Lokal Sportlertreff. Durch das Gitter des Jüdischen Friedhofs schimmern alte Grabsteine zwischen hohem Gestrüpp, der Gedenkstein trägt die Aufschrift: hier stehst du schweigend doch wenn du dich wendest schweig nicht. Die evangelische Segenskirche wirbt für die Bachkantate Nr. 84: Ich bin vergnügt in meinem Glücke. Die Fassade ist von verschiedenen Einschüssen gelöchert. Ecke Oderberger steht das Café und Restaurant Zur Schildkröte. Auf dem Tresen liegt ein Schildkrötenpanzer, die Bewegungen des Wirtes stehen in keinerlei Widerspruch zum Namen seiner Stampe. Das Kreiskulturhaus Erich Franz beherbergt unter anderem den Gehörlosenverband, dahinter liegt die Schultheiß-Brauerei, früher AG, jetzt VEB, das Berliner Bier ist süffig. An dieser Stelle stoßen die U-Bahngleise durch die Erde, die Dezibelwerte steigen. Unter dem U-Bahnbogen steht Konnopkes Imbisshalle: Curry Brat Bock Wiener Knacker Brühe, was woll’n Se? Berlin ist ein sprachlicher Schmelztiegel, gegenwärtig werden Thüringer und Sachsen eingeschmolzen. Früher die Ostpreußen und so weiter, jetzt sind sie die typischen Berliner. In der Telefonzelle daneben kann nur gesprochen werden, zu hören ist nichts.

      Denn da ist die große Kreuzung. Sechs Straßen schlagen auf sie ein. Drei Verkehrspolizisten schlagen zurück. In der Mitte parkt ein Messwagen für Luftreinhaltung. Sauerstoff wird in Berlin auch immer seltener. Nur Sonne macht die Stadt erträglich, sonst ist sie grau, von schwarz in allen Nuancen grau. Weiß ist nicht. Dafür ist es außerhalb schöner, dort wo die Datschen stehen. Wer noch keine hat, soll sich melden. Die Kreuzung ist für viele der Mittelpunkt der Stadt, am Alex wurden neulich zwei Feldhasen gesichtet. Der alte Mann mit dem Pilotenhelm aus Leder ignoriert die Anweisungen der Verkehrspolizisten, vielleicht ist er gerade Baron von Richthofen. Horizont sagt mehr, sagt Horizont, oben am Geländer des U-Bahnhofes Dimitroffstraße.

      Die Bars Lolott und Lotos sind Räume mit einer Bar. Bei Glas-Müller stehen Gartenzwerge, schlimmer allerdings ist die Porzellan-Nackte im Schaufenster, sie streichelt einen Porzellan-Karpfen. Kunst braucht keine Erklärung.

      Gegenüber ist der Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportpark, ein Aufsteller kündet von einem Fußballspiel. Berliner nennen den Sportplatz noch immer Exer. Weil nämlich Wilhelm Griebenow 1825 die Fläche für 9.518 Taler als Exerzierplatz an den Militärfiskus von Berlin verkaufte. Vor der Einsamen Pappel versammelten sich 1848 circa 25.000 Berliner, die Berliner Luft roch damals zeitweise nach Revolution. Die Versammlung datiert den Beginn der Berliner Arbeiterbewegung, eine Tafel erinnert daran, die Pappel ist neu und klein.

      Ein Schüler mit blauem Halstuch pfeift eine Melodie aus My fair Lady, etwas falsch, doch nicht ohne Sachkenntnis. Zwei kleinere Kinder schmeißen nach ihm mit Erbsen, ein Mann im Sakko mit übergeschlagenem Sommerkragen wird getroffen, die beiden auf dem Balkon sind abgetaucht. Übrigens wäre die Straße ziemlich reizlos, denkt man sich die Häuser weg. Die Architekten haben trotzdem einen Prozess verdient, so was verjährt nicht.

      Ein Geschäft für Orthopädie und Bandagen legt fleischfarbene Gliedmaßen aus, nebenan gibt’s Goldbroiler und Chips. Das Restaurant Stockinger ist innen gediegener Kitsch und gibt sich nach außen exklusiv. Spezialgeschäfte rechts und links, ein Kellerladen noch, dort gibt es fast alles. Das Kino Colosseum