So weit wie möglich weg von hier. Hannah Miska

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Название So weit wie möglich weg von hier
Автор произведения Hannah Miska
Жанр Историческая литература
Серия
Издательство Историческая литература
Год выпуска 0
isbn 9783954624324



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heruntergekommen und fühlen uns elend. Die kleinste Bagatelle lässt uns in Tränen ausbrechen. Wenn man aber glauben und antizipieren kann, dass etwas passiert, dann kann man den Gürtel noch enger schnallen und ausharren. Dies ist unsere letzte Hoffnung, dass das Schicksal uns das erhoffte Wunder bringt … Hoffentlich passiert es, bevor wir uns in Skelette verwandelt haben, bevor wir komplett entmenschlicht sind, beraubt aller Träume und aller Bestrebungen außer der Suche nach Essen … “

      Im Juni 1942 wird der Mittelsmann verhaftet, und die Korrespondenz zwischen den Mädchen hört abrupt auf. Maria traut sich, von einer öffentlichen Telefonzelle aus im Ghetto anzurufen.

      „Es gab da ein Telefon in der Werkstatt, in der Irma gearbeitet hat, und so konnte ich mit ihr sprechen. Irma erzählte mir, dass ihre Großmutter an einen unbekannten Ort deportiert worden war und viele Freunde auch und dass sich jeder im Ghetto Sorgen mache um die Deportierten. Und dann sagte sie, dass es nun nicht mehr lange dauern würde, bis die Nazis auch sie und ihre restliche Familie deportieren würden. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, aber versuchte, sie zu beruhigen. Also sagte ich, dass der Krieg nun bestimmt bald vorbei wäre. Ich meine, als die Deutschen Russland überfielen, haben wir das ja alle gedacht. Aber Irma sagte nur: Es ist eine Lüge, Marka, und du weißt es. Und dann legte sie auf.“

      Marias Stimme wird dünn. „Das war das letzte Mal, dass ich mit Irma gesprochen habe.“

      Während Lidia Markus mit ihren Töchtern nach Warschau floh, flüchtete ihr Schwager Vitek, der Bruder ihres Mannes, von seinem Wohnort Krakau aus in das russisch besetzte Polen. Mit seiner Frau Inka, seinem elfjährigen Sohn Marek und Julek, dem Bruder seiner Frau, floh er nach Lvov. Ungefähr 100.000 Juden haben hier Zuflucht vor den Deutschen gesucht. Vitek findet eine Wohnung und Arbeit, Marek kann wieder zur Schule gehen. Aber das Glück ist nicht von langer Dauer. Am 30. Juni 1941 besetzen die Deutschen die Stadt und errichten im November ein Ghetto im ärmsten Viertel von Lvov. Mit unglaublicher Brutalität – allein auf dem Weg ins Ghetto werden 5.000 ältere und kranke Juden umgebracht – werden die Juden in das Ghetto getrieben. Vitek und seine Familie befinden sich unter diesen Juden. Im März 1942 erfolgt die erste sogenannte „Aktion“: 15.000 Juden werden in das kürzlich errichtete Vernichtungslager Bełżec bei Lublin gebracht. Im Juli schickt Vitek einen Hilferuf an seine Schwägerin Lidia. Deren Schwester Olga, die noch nicht einmal mit Vitek verwandt ist, bietet sich sofort an, nach Lvov zu reisen, um Vitek und dessen Familie zu retten. Die Reise ist erfolgreich.

      „Es war ein gefährliches Unterfangen, aber meine Tante Olga kam tatsächlich mit der ganzen Familie zurück. Sie sahen alle sehr jüdisch aus, insbesondere der kleine Marek. Dem hat meine Tante, Zahnschmerzen vortäuschend, ein Tuch um den Kopf gebunden, so dass man dessen jüdische Gesichtszüge nicht so sah.“

      Lidia und die Mädchen rücken zusammen und teilen ihre Warschauer Wohnung mit Vitek, Inka, Marek und Julek.

      Mit Verordnung vom 26. Oktober 1939 wird im Generalgouvernement die Kennkartenpflicht eingeführt – graue Karten für die Polen, gelbe Karten für die Juden und blaue für Russen, Ukrainer, Weißrussen und andere Minderheiten.

      „Jeder musste sich registrieren lassen, eine Geburtsurkunde vorzeigen und eine eidesstattliche Erklärung abgeben, dass man weder Jude noch Halbjude sei. Ein polnischer Freund sagte uns, wir bräuchten uns keine Sorgen zu machen, weil die polnische Untergrundbewegung die Einwohnermeldeämter unterwandert hätte. Und tatsächlich: Als meine Schwester zögerte, diese Erklärung zu unterschreiben, wurde sie von der Dame hinter dem Schalter energisch dazu aufgefordert. Ich selbst hatte noch nicht mal eine Geburtsurkunde und bekam trotzdem meine arische Kennkarte.“

      Der Besitz einer Kennkarte war notwendig, aber nicht hinreichend für Juden oder Halbjuden, um auf der arischen Seite Warschaus zu überleben.

      „Inzwischen hatte sich ein sehr profitabler Berufszweig entwickelt in Polen: die Juden-Jäger. Das waren Leute, die darauf aus waren, Juden zu entdecken, zu erpressen und zu denunzieren, skrupellos und wahre Experten auf ihrem Gebiet. Viele machten es für Geld – entweder von den Juden oder von den Deutschen, manchmal beides. Am schlimmsten aber waren die, die aus ideologischen Gründen denunziert haben. Die wollten Polen von den Juden befreien und haben sie oft auch misshandelt. Also – es war sehr wichtig, das ‚gute Aussehen‘ zu haben, das heißt polnisch und nicht jüdisch auszusehen. Viele Frauen blondierten sich das Haar und trugen Ketten mit einem Kreuz um den Hals.“

      Die Tradition der Beschneidung im jüdischen Glauben macht es besonders schwierig für die männlichen Juden: Werden sie denunziert oder fällt sonst ein Verdacht darauf, dass sie jüdisch sind, ist das durch eine simple Körperkontrolle sehr schnell verifizierbar.

      Eines Tages wird Julek von einem Polizisten bedrängt, der ihn für einen Juden hält. Der Polizist folgt Julek bis nach Hause, um ein Bestechungsgeld zu erhalten. Marias Mutter hat jedoch die Courage, den Mann übel zu beschimpfen anstatt ihm Geld in die Hand zu drücken.

      „Meine Mutter war eine Löwin. Sie hat dem Polizisten gesagt, dass Julek ein Pole sei, aber keine Arbeitserlaubnis habe. Und dann startete sie ihre Gegenattacke: Sie bezichtigte den Mann, antipolnisch zu handeln, indem er einen Polen an die Deutschen auslieferte, die ihn dann sicher in ein Arbeitslager nach Deutschland schicken würden. Der Polizist zog unverrichteter Dinge ab, aber es war klar, dass Julek nun aus dem Verkehr gezogen werden musste.“

      Olga und ihr Ehemann Jerzy Zmigrodzki bieten an, zwei Familienmitglieder aus der Markus-Familie in ihrem Haus in Kobyłka zu verstecken: Julek und Marek.

      „Onkel Jerzy hatte Krebs im fortgeschrittenen Stadium, er hat sich nicht wirklich Sorgen um sich gemacht. Er wusste ja: Wenn Juden in seinem Haus entdeckt würden, würde das nicht nur für die Versteckten, sondern auch für sie selbst den sicheren Tod bedeuten. Aber er sagte, dass es einfacher sei, zwei Leute zu verstecken als vier. Und dass in dem Haus nicht genug Platz sei für alle – das Haus hatte einen kombinierten Wohn- und Esszimmerbereich, zwei Schlafzimmer und eine Küche. Und unter diesen Umständen würde er lieber die Jungen als die Alten retten.“

      Olga hatte eine andere Meinung.

      „Sie dachte, dass es keinen Unterschied mache, ob sie für zwei oder für vier versteckte Juden mit dem Leben bezahlen müsse. Sie war fest entschlossen, auch Inka und Vitek zu verstecken. Sie sagte, wir müssten nur die Lebensmittel aus Warschau holen, damit die kleinen Geschäfte in Kobyłka nicht misstrauisch würden, wir müssten leise sein, die Toilette auf kluge Weise benutzen (die Spülung!) und ein Versteck bauen.“

      Mit der Erlaubnis von Onkel Jerzy ziehen Maria, Julek und Marek in das Haus. Die 16 Kilometer lange Fahrt nach Kobyłka ist nicht leicht zu bewerkstelligen.

      Versteck im Haus von Jerzy und Olga Zmigrodzki, Zeichnung von Joe Lewit

      Postkarte von der Freundin Iwetta aus dem Warschauer Ghetto, 1940

      „Wir haben Marek als Mädchen verkleidet und ihm eins meiner Kleider angezogen. Und dann kriegte er wieder ein Kopftuch ums Gesicht, als ob er von einem Zahnarztbesuch in Warschau zurückkäme. Er sah wirklich sehr jüdisch aus.“

      Ein paar Tage später schmuggelt Olga Inka und Vitek ins Haus.

      „Die beiden haben von nun an gelebt wie in einem mönchischen Schweigekloster. Sie haben sich kaum bewegt und haben nur geflüstert, damit mein Onkel ja nichts herausfindet.“

      Lidia und Genia bleiben in Warschau. Maria und ihre Tante Olga fahren jeden zweiten Tag nach Warschau, um einzukaufen, aber auch Marias Mutter kommt oft, um Essensvorräte und Bücher aus der Bibliothek zu bringen. Bei der Gelegenheit bringt sie oft auch Gerüchte mit.

      „Inzwischen war es bekannt, dass Menschen aus dem Ghetto deportiert werden, aber niemand wusste wohin. Arbeitslager? Konzentrationslager? Gerüchte über Vernichtungslager hielten sich hartnäckig. Eines Tages brachte meine Tante Olga eine Zeitung von der polnischen Untergrundbewegung