So weit wie möglich weg von hier. Hannah Miska

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Название So weit wie möglich weg von hier
Автор произведения Hannah Miska
Жанр Историческая литература
Серия
Издательство Историческая литература
Год выпуска 0
isbn 9783954624324



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zerstört, insgesamt 685.000 Bewohner der Stadt waren tot, und diejenigen, die noch lebten, hatten jegliche Habe verloren. Als die sowjetischen Truppen Warschau Mitte Januar 1945 befreiten, befreiten sie eine Stadt in Ruinen. Sie war menschenleer.

      Der Vernichtungskrieg kostete allein in Polen insgesamt sechs Millionen Menschen das Leben, darunter waren knapp drei Millionen polnische Juden. Weniger als zwölf Prozent der polnischen Juden haben den Holocaust überlebt.

       Maria Lewit

      „Die Blätter vibrieren über mir als wäre ein Zittern durch den ganzen Baum gegangen. Himmelsflecken spielen Versteck, zwischen dem Grün der Blätter zeigt sich das blaueste Himmelsblau. Und wie ein Scheinwerfer im Theater, der die ganze Szene zum Leben erweckt, brechen die Sonnenstrahlen hindurch … Ich war nicht glücklich, ich war nicht unglücklich. Ich war einfach da, und das war alles. Ich philosophierte nicht über das Leben, aber mein Verstand war wie eine Kamera, die einen Abdruck hinterlässt von der Idylle des europäischen Sommers im Jahr 1939.“

      Maria mit ihren Söhnen Joe und Michael bei der Preisverleihung des OAM, Melbourne 2011

      So beginnt Maria Lewits autobiografischer Roman „Come Spring“ (Wenn der Frühling kommt).

      Das Buch ist ein literarisches Juwel – geschrieben in einer wundervollen, poetischen Sprache, die ganz bewusst kontrastiert mit dem Inhalt, der von der Verfolgung der jungen Autorin und ihrer Familie handelt, von Angst, Hunger und Tod im besetzten Warschau. Ich erinnere mich, dass mein erster Gedanke beim Lesen war: „Dieses Buch sollte ins Deutsche übersetzt werden, damit es dem deutschen Leser zugänglich ist.“

      Ich wollte die Autorin kennenlernen. Als Maria Lewit schließlich an einem Montag – montags ist „ihr“ Tag im Museum – zur Tür hereinkam, stürzte ich auf sie zu, stellte mich vor und teilte ihr auf der Stelle mit, dass ich ihr Buch gelesen hätte und wie großartig ich es fände.

      Maria Lewit ist eine nüchterne Frau. Sie muss einigermaßen irritiert gewesen sein von dem Gebaren dieser fremden Person, aber wenn es so war, zeigte sie es nicht. Sie wechselte einige freundliche Worte mit mir, bevor sie sich dem zuwandte, weshalb sie gekommen war: Sie begrüßte eine Schulklasse mit ihrem Lehrer und ging mit der Gruppe hinüber in den Vortragssaal. Dort würde sie den Schülern nun über ihre persönlichen Erfahrungen während des Holocaust berichten.

      Maria Lewit hat mir später eine Menge über sich erzählt – über ihre Kindheit und Jugend im zunächst freien und später besetzten Polen, über ihre Freunde und ihre Familie, über ihr Überleben. Sie besitzt noch einige Briefe von Schulfreundinnen aus dem Warschauer Ghetto. Maria und ich haben diese Briefe aus dem Polnischen ins Englische übersetzt – eine emotional nicht einfache Aufgabe: keine der Freundinnen hat überlebt. Mit etlichen Wörterbüchern umgeben verbrachten wir auf diese Weise viele Stunden miteinander. Ich profitierte dabei von Marias profundem Wissen über den Holocaust ebenso wie von ihrer Erfahrung und Klugheit. Manchmal gingen wir in ihre gut bestückte Bibliothek hinüber und schauten etwas nach, oft empfahl sie, eine leidenschaftliche Leserin, das eine oder andere Buch oder borgte es mir – nicht immer, aber doch vorwiegend über den Holocaust. Häufig allerdings spornte sie mich an, die ganze Holocaust-Lektüre doch einfach beiseitezulegen und mich mit freundlicheren Themen zu beschäftigen.

      Maria Lewit wusste, warum sie das sagte. Je tiefer man in die Geschichte des NS-Terrors eindringt, desto verstörender wird es. Und als ob sie mich manchmal aufmuntern oder auch mit meiner Elterngeneration versöhnen wollte, erzählte sie mir zuweilen die Geschichte über einen „guten Deutschen“: „Schau, Hannah – es gab auch gute Menschen!“

      Marias langjähriger Ehemann Julian verstarb im November 2005. („Mein Mann starb im Bett, in frischen Laken, von einem Arzt betreut, und im Beisein aller seiner Lieben.“) Marias Söhne Joe und Michael, vier Enkel und fünf Urenkel leben in Melbourne, die Familie ist oft beisammen und sie ist Marias große Freude.

      Für ihr Buch „Come Spring“ und den nachfolgenden Emigrantenroman „No Snow in December“ (Kein Schnee im Dezember) wurde Maria Lewit mit verschiedenen Literaturpreisen ausgezeichnet. Im Jahr 2011 erhielt sie zu ihrer großen Überraschung für ihren Beitrag zur australischen Literatur und für ihre ehrenamtliche Arbeit im Holocaust-Museum die „Medal of the Order of Australia“ (Orden zur Würdigung außerordentlicher Leistungen australischer Bürger). So ganz versteht sie die Ehrung und den Rummel um ihre Person nicht: Sie habe doch nichts Besonderes getan, um diesen Orden wirklich zu verdienen. Außer, vielleicht, allen (australischen) Museumsbesuchern und insbesondere den jüngeren unter ihnen immer wieder zu sagen, wie glücklich sie doch seien, in Australien zu leben.

       Marias Geschichte

      Maria wächst in einer gut situierten Familie in Łódź auf. Łódź, bekannt als das Manchester Polens, ist in den zwanziger Jahren – nach Warschau – die zweitgrößte Stadt Polens. Seit dem frühen 19. Jahrhundert hat sich die Stadt zu einem großen Textilzentrum entwickelt, das Polen, Deutsche und Juden gleichermaßen anzieht. Am Vorabend des Zweiten Weltkrieges hat Łódź 665.000 Einwohner, von denen 34 Prozent Juden und 10 Prozent Deutsche sind. Mit den mehr als 220.000 Juden ist die jüdische Gemeinde der Stadt die zweitgrößte Polens: Es gibt jüdische Schulen, Bibliotheken, Theater und Sportklubs; jüdische Intellektuelle, Poeten und Schriftsteller wohnen in der Stadt. Durch die industrielle Entwicklung entsteht auch so etwas wie ein jüdisches Proletariat.

      Lidia und Borys Markus, aufgenommen in einem „Photomat“ in Łódź, Anfang der 30er Jahre

      Marias Vater Borys Markus, ein polnischer Jude, ist Geschäftsmann in der prosperierenden Textilindustrie. Zusammen mit Jozef Lewit (der später Marias Schwiegervater werden soll) besitzt er eine Firma, die Taschentücher produziert. Die Firma hat eine Zweigstelle in Moskau, und auf einer seiner Geschäftsreisen trifft Markus die junge und sehr hübsche Russin Lidia Wagin. Die beiden verlieben sich, heiraten, und – der Ehe zuliebe – konvertiert die russisch-orthodoxe, also christliche Lidia zum jüdischen Glauben. 1919 kommt Tochter Genia zur Welt, 1925 wird die zweite Tochter Maria geboren.

      Maria and Genia, Łódź 1931

      Die Familie lebt sehr komfortabel in einem Sechs-Zimmer-Apartment im Zentrum von Łódź.

      „Das Apartment war im 4. Stock und hatte einen Fahrstuhl. Es gab zwei Balkone mit einem hübschen Blick auf den protestantischen Kirchturm und die Stadt – mein Vater hatte die Wohnung wegen der Aussicht ausgesucht. Er und ich standen im ständigen Wettbewerb um die besten Fotos vom Balkon. Er hatte eine Zeiss Ikon und ich eine Kodak Box – ich für meinen Geschmack machte natürlich immer die besseren Fotos“, lacht Maria.

      Wie alle wohlhabenden jüdischen Familien haben die Markus’ eine polnische Hausangestellte, die bei der Familie wohnt.

      „Sie hieß Kazia, und ich habe sie geliebt. Sie war zwar Analphabetin, aber eine geborene Geschichtenerzählerin, und ich habe oft mit ihr in der Küche gesessen. Sie hat meine Eltern mit ‚Gnädige Frau‘ und ‚Gnädiger Herr‘ angesprochen und Genia und mich mit ‚Fräulein‘, während wir sie immer einfach mit ihrem Vornamen ansprachen. Irgendwie kam uns das gar nicht in den Sinn, dass das nicht in Ordnung war. Allerdings muss ich sagen: Als Dienstmädchen durfte Kazia nie den Lift nehmen, und das gefiel mir schon als Kind nicht.“

      Jeden zweiten Tag kommt ein weiteres polnisches Mädchen und hilft beim Saubermachen und Teppichklopfen. Maria schmunzelt:

      „Das Interessante dabei war, dass dieses Mädchen auch in der Nachbarschaft arbeitete, und ich konnte nie genug von dem ganzen Klatsch kriegen.“

      Maria, die von jedem Marka genannt wird, geht in das jüdische Mädchengymnasium „Eliza Orzeszkowa“, so benannt