So weit wie möglich weg von hier. Hannah Miska

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Название So weit wie möglich weg von hier
Автор произведения Hannah Miska
Жанр Историческая литература
Серия
Издательство Историческая литература
Год выпуска 0
isbn 9783954624324



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Parteien hatten hier genauso ihren Hauptsitz wie die jüdischen Wohlfahrtsverbände, Bildungs- und Sportorganisationen, Jugendbewegungen sowie religiöse Institutionen. Es gab eine bedeutende jüdische Literatur- und Theaterszene, und mehr als hundert jüdische Zeitungen und Zeitschriften wurden in unterschiedlichen Sprachen publiziert.

      Als die Deutschen ihren Nachbarstaat überfielen, glaubten die Polen noch an ihren schnellen Sieg. Hitler setzte für seinen Polenfeldzug jedoch nahezu 80 Prozent seines gesamten Feldheeres ein, dazu die gesamte Panzer- und Luftwaffe, und die Verbündeten Großbritannien und Frankreich erklärten dem Deutschen Reich zwar den Krieg, kamen den Polen aber militärisch nicht zu Hilfe. Die polnische Regierung verließ Warschau bereits vier Tage nach Kriegsbeginn. Die Polen kämpften heldenhaft, spätestens nach zwei Wochen war jedoch klar, dass sie keine Chance hatten. Mitte September, als die polnische Armee so gut wie besiegt war, überfiel die Sowjetunion das Land von Osten her und versetzte Polen den Todesstoß.

      Erst nach schweren Luftangriffen und heftigem Artilleriebeschuss kapitulierte Warschau am 28. September. Einen Tag später besetzten deutsche Truppen die Stadt, am 5. Oktober nahm Adolf Hitler die Siegesparade der deutschen Wehrmacht im Zentrum der Stadt ab. Innerhalb von vier Wochen war die junge Zweite Republik zerstört, 200.000 Soldaten und Zivilisten waren tot, 700.000 Menschen in Gefangenschaft geraten. Das war jedoch erst der Anfang: Sowohl Hitler als auch Stalin beabsichtigten Polens völlige Vernichtung.

      Im Deutsch-Sowjetischen Grenz- und Freundschaftsvertrag vom 28. September 1939 teilten das Deutsche Reich und die Sowjetunion das Land unter sich auf. Der vom Deutschen Reich besetzte Teil mit etwa 23 Millionen Einwohnern, darunter 2,1 Millionen Juden, wurde in etwa zwei gleich große Gebiete aufgeteilt: die westlichen wurden direkt in das Deutsche Reich eingegliedert und zu den autonomen „Reichsgauen“ Danzig-Westpreußen und Wartheland gemacht, die östlichen Gebiete inklusive Warschau, Krakau und Lublin als sogenanntes „Generalgouvernement“ unter deutsche Administration gestellt. Die Nationalsozialisten planten, die eingegliederten Ostgebiete einzudeutschen und die Menschen im Generalgouvernement als Arbeitssklaven zu verwenden.

      Die folgenden sechs Jahre deutscher Besatzungszeit in Polen waren von Terror und grenzenloser Brutalität gekennzeichnet. Die Polen wurden in unvorstellbarem Ausmaß entrechtet, erniedrigt, misshandelt und gemordet. Hitler und seine Vasallen hielten die Polen für Untermenschen und versprachen, das Land so zu „sanieren“, dass es nicht mehr stören würde. Sie sanierten es gründlich.

      Noch im September 1939 wurde, um jegliche Opposition gegen die deutschen Besatzer im Keim zu ersticken, die polnische Elite liquidiert. Die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD – mobile Sondereinheiten im Dienste der SS – erschossen Tausende von Aristokraten, Wissenschaftlern, Professoren, Lehrern, Ärzten, Priestern und Künstlern, darunter auch viele Juden. Tausende mehr wurden verhaftet und in deutsche Konzentrationslager verbracht. Polen wie Juden gleichermaßen wurden enteignet – bis 1942 allein wurden 112.000 jüdische Firmen und Geschäfte sowie 115.000 Gewerbebetriebe konfisziert. Juden wurden willkürlich auf der Straße aufgegriffen oder aus ihren Häusern geholt, um Bombenschutt aufzuräumen, Straßen zu säubern oder andere Hilfsarbeiten zu erledigen. Gleichzeitig begann die Verschleppung von Hunderttausenden polnischer Zivilisten als Zwangsarbeiter ins Deutsche Reich – gegen Ende des Krieges waren es weit mehr als eine Million Menschen.

      In den eingegliederten polnischen Gebieten begann die „Eindeutschung“ und „Umvolkung“ – Polen mussten Platz machen für deutsche Aussiedler aus den sowjetisch besetzten Gebieten in Ostpolen und im Baltikum. Allein im Herbst 1939 wurden 90.000 Polen aus dem Warthegau in das Generalgouvernement deportiert. Die Vertriebenen durften nur je einen Koffer mitnehmen, die Mitnahme von Decken, Betten, Geld (außer 20 Zloty) oder Wertsachen (außer dem Ehering) war verboten. Die polnischen Schulen wurden geschlossen, das Sprechen der polnischen Sprache in der Öffentlichkeit wurde verboten. Polen und Juden wurden unter ein Sonderstrafrecht gestellt, das sie praktisch zum rechtlichen Freiwild machte.

      Im Generalgouvernement errichtete derweil der Nazi-Jurist Hans Frank, Generalgouverneur und Herrscher über das „Nebenland des Deutschen Reiches“, wie er es selbst nannte, ein Schreckensregime gegen die Zivilbevölkerung. Obwohl er bereits im November gut „saniert“ hatte, ordnete Frank im Mai eine weitere „Außerordentliche Befriedungsaktion“ (AB-Aktion) an: die Liquidation der Führungselite, die noch am Leben war. Tausende von Polen wurden erschossen, Zehntausende ins KZ Auschwitz deportiert. Warschaus Universität sowie alle höheren Schulen wurden geschlossen, nur noch vierklassige Volksschulen waren erlaubt: Die Schulbildung der Polen im Generalgouvernement sollte nicht über einfaches Rechnen, das Schreiben des Namens und die Lehre vom Gehorsam gegenüber den Deutschen hinausgehen. Frank, der sein Hauptquartier in der Krakauer Burg aufgeschlagen hatte, dem ehemaligen Sitz der polnischen Könige, schwang sich zum absolutistischen Herrscher auf. Innerhalb von sechs Monaten beschlagnahmte der Kunstliebhaber den gesamten Kultur- und Kunstbesitz des Landes und der Kirchen, nicht ohne sich selbst dabei reichlich zu bedienen. Widerstandsaktionen wurden während der gesamten Besatzungszeit hart geahndet – für einen toten Deutschen wurden 50 bis 100 Polen exekutiert, willkürlich aus den Gefängnissen oder von der Straße geholt.

      Sogleich nach seiner Amtsübernahme im November 1939 erließ Frank die ersten antijüdischen Gesetze: Ab dem 1. Dezember musste jeder Jude ab zehn Jahren ein weißes Armband mit blauem Davidsstern am rechten Ärmel des Oberarms tragen, jüdische Geschäfte und Firmen mussten ebenfalls mit dem Judenstern gekennzeichnet sein. Alle jüdischen Männer im arbeitsfähigen Alter wurden zu Zwangsarbeit herangezogen, Radios wurden eingezogen, Zugfahren war verboten, jüdische Bankkonten wurden gesperrt, Firmen beschlagnahmt, jüdische Schulen, Institute und Organisationen geschlossen.

      Die Besatzer ordneten die Bildung von Judenräten an, von denen die jüdische Bevölkerung zunächst glaubte, dass sie eine jüdische Gemeindevertretung seien. Tatsächlich bedienten sich die Deutschen der Judenräte, um die antijüdischen Maßnahmen durchzusetzen. Die Rolle der Judenräte blieb darauf beschränkt, die Administration der Ghettos zu gewährleisten, die Ordnung aufrechtzuerhalten (mit Hilfe einer jüdischen Polizeitruppe, zu deren Gründung sie gezwungen wurden) sowie die deutschen Befehle auszuführen. Spätestens als die Judenräte von den Deutschen gezwungen wurden, die Deportationen zu organisieren, standen deren Mitglieder vor einem tragischen Dilemma.

      Um die polnischen Juden zu konzentrieren und zu isolieren, wurden inzwischen im gesamten besetzten Polen Ghettos eingerichtet. Das Ghetto in Łódź war mit 165.000 Juden eines der ersten großen Ghettos und wurde im Frühjahr 1940 hermetisch von der Außenwelt abgeriegelt. Es folgte das Warschauer Ghetto im Generalgouvernement, in dem 400.000 Juden auf engstem Raum zusammengepfercht worden waren und das Mitte November geschlossen wurde. Versuche, die abgeriegelten Ghettos zu verlassen, wurden mit dem Tode bestraft. Juden, die außerhalb der Ghettos aufgefunden wurden, erwartete ebenso wie deren polnische Helfer die Todesstrafe.

      Die Lebensbedingungen in den Ghettos waren entsetzlich, Goebbels nannte sie in seinen Tagebuch-Aufzeichnungen „Todeskisten“. Üblicherweise wurden viel zu kleine Stadtgebiete im ärmsten Viertel der Stadt für viel zu viele Menschen abgegrenzt. Im Warschauer Ghetto lebten 30 Prozent der Bevölkerung auf 2,4 Prozent der Stadtfläche, sechs bis sieben Menschen mussten sich im Schnitt ein Zimmer teilen.

      Eingeschlossen im Ghetto hatte die jüdische Bevölkerung keine Möglichkeit mehr, einer Arbeit nachzugehen – eine wirtschaftliche Tragödie selbst für diejenigen, die in den von den Deutschen errichteten Produktionsstätten arbeiteten und dafür einen Hungerlohn erhielten. Die Lebensmittel, die ins Ghetto geliefert wurden und die man auf Lebensmittelkarten erhielt, waren bei weitem nicht ausreichend, um davon überleben zu können. Nur einige wenige Juden hatten Erspartes retten können, viele verkauften ihre letzte Habe.

      Schmuggel wurde zu einem lebensnotwendigen, aber gefährlichen Gewerbe. Im Warschauer Ghetto produzierten jüdische Untergrund-Werkstätten Schals, Küchenutensilien, Bürsten und dergleichen und tauschten sie gegen Essen ein. Kleine Kinder – nicht älter als vier oder fünf Jahre alt – kletterten unter Lebensgefahr über die Ghettomauer, um etwas zu essen zu finden für ihre Familien. Fast jeden Tag wurden Schmuggler erwischt – und geschlagen, drangsaliert oder erschossen.

      Immer mehr Leute verarmten,