So weit wie möglich weg von hier. Hannah Miska

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Название So weit wie möglich weg von hier
Автор произведения Hannah Miska
Жанр Историческая литература
Серия
Издательство Историческая литература
Год выпуска 0
isbn 9783954624324



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auf weiterführenden Schulen zuließ. Und die progressiven Juden wollten natürlich, dass nicht nur ihre Söhne, sondern auch ihre Töchter eine hervorragende schulische Bildung erhalten. Die Schule wurde von wohlhabenden jüdischen Familien finanziert, die damit gleichzeitig intelligente Kinder aus ärmeren Familien förderten, und zwar jüdische und nicht jüdische. Das heißt, in unseren Klassen waren durchaus auch nicht jüdische polnische Mädchen. Es gab eine Kantine, und für die ärmeren Kinder war das Essen frei. Ich war an der Schule zuständig für das Thema ‚soziale Gerechtigkeit‘ und kümmerte mich deshalb immer ein bisschen um die ärmeren Kinder.“

      Maria hat viel Spaß in ihrer Schulzeit. Sie ist gescheit, aufgeweckt und bekannt für den Unfug, den sie gerne schon mal ausheckt.

      „Mein Mathelehrer hat mich nur ‚marna istoto‘ genannt, das heißt so viel wie ‚unnützes Ding‘. Aber auch mit anderen Lehrern hatte ich so meine Probleme. Einmal habe ich zum Beispiel den Namen meines Musiklehrers veralbert. Der hieß ‚Pedzimaz‘, das heißt ‚rennender Ehemann‘, und über den Namen habe ich ein Lied gemacht, das ich in der Klasse gesungen habe. Natürlich hat mich mein Musiklehrer daraufhin rausgeschmissen. Was der aber nicht wusste, war, dass ich den Rausschmiss vorausgesehen habe. Bevor die Musikstunde also anfing, habe ich zehn Mädchen mit einer Kordel an mich dran geknotet, eine nach der anderen.“ Maria lacht noch heute über ihren Streich. „Als ich dann aus dem Klassenzimmer rausging, mussten mir also zehn Mädchen folgen. Die ganze Schule hat davon erfahren, ich hatte mir mit dieser Geschichte einen Namen gemacht.“

      Maria mit ihren Freundinnen Iwetta und Zosia, 1939

      Im Sommer 1939 werden Maria und ihre Schwester Genia in den Sommerurlaub aufs Land geschickt, weil die Eltern wegen der politisch angespannten Situation beunruhigt sind.

      „Aber als Deutschland und Russland im August den Nichtangriffspakt unterzeichneten, brach unser Vater unseren Urlaub kurzerhand ab. Er befürchtete, dass Hitler Russlands Neutralität nutzen würde, um in Polen einzumarschieren. Und für diesen Fall wollte er, dass wir alle zusammen in der Stadt sind.“

      Als Maria und Genia im August 1939 zurück nach Łódź kommen, finden sie die Stadt in völliger Aufregung.

      „Es war fast wie ein patriotischer Rausch, die Radioprogramme waren voll vaterländischer Reden und Militärmusik, alle sprachen vom heraufziehenden Krieg und wie schnell wir Polen gegen Hitlers Panzer aus Pappe gewinnen würden, Soldaten marschierten und sangen Anti-Hitler-Lieder, Fahnen wurden geschwenkt. Ich machte nur allzu gerne mit: Unter dem fröhlichen Singen von Militärliedern, die den Krieg beschönigen, hob ich zusammen mit meinen Freunden Panzergräben aus. Und dann fing es an – mit dem Lärm von Flugzeugen und einer Ansage im Radio: Wir befinden uns im Krieg.“

      Am 8. September marschiert die deutsche Wehrmacht in Łódź ein.

      „Mein Vater war zwar zu alt, um noch gezogen zu werden, aber nachdem im Radio durchgegeben wurde, dass jeder Mann gebraucht wird, schloss er sich vielen anderen Männern an, die alle Warschau verteidigen wollten. Ich erinnere mich, dass wir vorm Haus standen und viele Jugendliche und Männer sahen, die alle ihre Häuser verließen und auf der Straße eine Kolonne bildeten, die sich vorwärtsbewegte. Ich sah auf meinen Vater, aber der war im nächsten Augenblick schon verschwunden. Ich war untröstlich, weil ich mir nicht vorstellen konnte, ohne meinen Vater zu sein.“

      Sofort nach ihrem Einmarsch erlassen die Deutschen zahlreiche antijüdische Verordnungen und Gesetze, die Erlasse werden in der ganzen Stadt plakatiert. Juden dürfen keine öffentlichen Verkehrsmittel mehr benutzen, sie dürfen die Stadt nicht ohne Erlaubnis verlassen, Bankkonten werden gesperrt, Männer werden von der Straße weg oder aus ihren Häusern zur Zwangsarbeit geholt.

      „In der Schule mussten wir den vierten Stock räumen, der von der deutschen Armee requiriert worden war. Am nächsten Tag wurde uns der vierte Stock wiedergegeben, und wir haben alle Möbel wieder hochgetragen. Am dritten Tag forderten uniformierte Deutsche dann den ersten Stock von uns – also es war völlig klar, dass die Spielchen mit uns trieben.“

      Innerhalb kürzester Zeit kehrt Marias Vater wieder nach Hause. Die polnische Armee, nun auch mit einem Angriff von der Sowjetunion aus dem Osten konfrontiert und ohne Unterstützung durch die beiden Alliierten Frankreich und Großbritannien, ist Anfang Oktober geschlagen.

      „Mein Vater kam nachts nach Hause, ich sehe ihn noch heute vor mir: Er war dreckig und abgemagert, erschöpft und sichtlich betrübt – und er wurde krank. Nicht lange danach wurde ich aus der Mathestunde heraus zur Direktorin gerufen. Ich konnte mir keinen Grund denken, aber plötzlich sah ich dort meine Mutter sitzen, die Mühe hatte, ihre Tränen zurückzuhalten, und mich aufforderte, sofort nach Hause zu kommen. Auf dem Nachhauseweg erzählte sie mir, dass ein SS-Mann in die Wohnung gekommen war, um meinen Vater für irgendwelche Arbeiten zu holen. Sie hatte dem Deutschen erklärt, dass mein Vater krank im Bett liege. Der hatte daraufhin höhnisch gelacht und erklärt, er wisse schon, wie man die jüdische Krankheit heilen könne, hatte meinen Vater aus dem Bett gezerrt und so lange geschlagen, bis er bewusstlos war.“

      Borys Markus stirbt am nächsten Morgen, am 4. Oktober 1939. Er ist 51 Jahre alt.

      Am 9. November wird Łódź ins Deutsche Reich eingegliedert, anschließend verschärft sich der antijüdische Terror. Tausende von Juden und Polen werden verhaftet, ins Gefängnis gesteckt, dort umgebracht oder in deutsche Konzentrationslager deportiert. Mitte November werden alle Synagogen der Stadt zerstört, statt gelber Armbinden (seit dem 4. November) müssen die Juden ab dem 17. November einen gelben Judenstern vorne und hinten auf der Kleidung tragen. Ohne Vorwarnung werden jüdische Wohnungen konfisziert und deren Bewohner deportiert.

      „Der Häuserblock, in dem wir wohnten, gehörte einem Deutschen. Nachdem mein Vater gestorben war, sagte der zu meiner Mutter: ‚Ihr Mann wusste einfach, wann es Zeit war zu sterben. Es muss so viel einfacher sein für Sie ohne einen jüdischen Ehemann.‘ Und dann schmiss er alle Juden, die in dem Haus wohnten, auf der Stelle raus – ohne dass sie ihre Möbel und ihre Habe hätten mitnehmen können – und uns ließ er wohnen. Kazia, unser gutherziges Mädchen, öffnete die Tür für all die rausgeworfenen Leute, und für kurze Zeit beherbergten wir sieben Familien.“

      Bis zum März 1940 haben etwa 70.000 Juden die Stadt verlassen – die meisten sind deportiert worden, etliche sind geflohen. Sie fliehen entweder in die von den Sowjets kontrollierten Gebiete im Osten Polens oder ins Generalgouvernement, hoffend, dass die Zustände dort erträglicher sind als in dem Teil Polens, der nun zum Deutschen Reich gehört. Lidia Markus beschließt, nach Warschau zu fliehen.

      „Ein Exodus hatte begonnen, und unsere Freunde hatten die Stadt auch schon verlassen. Der deutsche Freund meines Vaters drängte, dass wir Łódź für einige Wochen verlassen sollten, und organisierte eine Erlaubnis für uns, dass wir die Stadt aus ‚Geschäftsgründen‘ verlassen dürften. Also packten wir unsere Koffer, brachten all die Bücher meines Vaters auf den Boden, und – das war das Schlimmste – verbrannten all unsere persönlichen Papiere, Briefe und Fotos. Meine Mutter, Genia, Kazia und ich saßen um den Holzofen in der Küche herum und sahen zu, wie all unsere Habseligkeiten – für mich waren das meine ganzen Kindheitserinnerungen – in den Flammen verschwanden. Kazia hatte rote Augen und eine rote Nase, gab aber vor, eine Erkältung zu haben. Das war schon eine ziemlich emotionale Angelegenheit.“

      Mit der Hilfe ihrer Schwester Olga, die in Kobyłka lebt, einer Stadt 16 Kilometer nordöstlich von Warschau, findet Lidia mit ihren Töchtern eine Unterkunft in Wołomin, der nächsten Kreisstadt. Es ist nur ein Zimmer mit Küche und einem kleinen Garten, aber die Familie geht davon aus, dass sie bald nach Łódź zurückkehren kann.

      Lidia Markus (l.) mit ihrer Schwester Alexandra (Olga) Zmigrodzka, Wołomin 1940

      „Als die Deutschen im Juni 1940 Frankreich angriffen, war meine Mutter felsenfest davon überzeugt, dass es jeden Moment eine erfolgreiche Gegenoffensive der Franzosen geben