So weit wie möglich weg von hier. Hannah Miska

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Название So weit wie möglich weg von hier
Автор произведения Hannah Miska
Жанр Историческая литература
Серия
Издательство Историческая литература
Год выпуска 0
isbn 9783954624324



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      Irma, eine von Marias Freundinnen, zieht mit ihrer Familie ebenfalls nach Wołomin.

      „Ich habe meine ganze Zeit mit Irma verbracht. Irma war ein Jahr älter als ich, aber schon zwei Klassen über mir. Sie war äußerst intelligent, und körperlich war sie schon viel weiter als ich. Sie brachte mir eine Menge Sachen bei über Jungs und all so was, aber auch über Literatur und Poesie. Wir haben sehr viele Bücher gelesen und sie anschließend diskutiert. Sie hat mich auch ermuntert zu schreiben, und das war toll, weil Poesie und Schreiben war wirklich meine Leidenschaft.“

      Maria macht eine kleine Pause und lacht. „Ich besaß diese Biografie über Marie Curie. Curie wurde darin als leidenschaftliche Leserin beschrieben, die durchaus schon mal das Essen über ihrer Lektüre vergaß. Das habe ich dann kopiert: Wann immer ich zum Essen gerufen wurde, tat ich so, als ob ich völlig in meinem Buch versunken bin und nichts um mich herum höre.“

      Die beste Freundin: Irma, 1940

      Im Oktober 1940 ordnet Hans Frank, Leiter des Generalgouvernements, die Errichtung des Warschauer Ghettos an und befiehlt allen Juden in der Stadt und in der Umgebung, in den „Jüdischen Wohnbezirk“ zu ziehen. Irmas Familie will nicht erst auf die Polizei warten und zieht „freiwillig“ ins Ghetto. Lidia Markus entschließt sich – sehr zum Entsetzen ihrer Schwester Olga –, ihren Freunden ins Ghetto zu folgen.

      „Meine Tante und mein Onkel haben verständlicherweise versucht, meine Mutter davon abzuhalten – ich meine, meine Mutter war ja schließlich Christin. Sie war nicht jüdisch, also brauchte sie auch nicht ins Ghetto zu ziehen. Mein Onkel Jerzy, ein polnischer Aristokrat, warf meiner Mutter ohnehin vor, dass sie ihr Leben durch die Heirat mit einem Juden ruiniert hätte. Und nun würde sie es ein zweites Mal ruinieren, indem sie sich selbst nach dem Tode ihres Mannes nicht von den Juden lossagen würde. Aber meine Mutter hat das alles nicht gerührt – wir sind in ein kleines Zimmer im Warschauer Ghetto gezogen.“

      Kurz nach dem Umzug, am 16. November 1940, wird das Ghetto geschlossen. Ohne Erlaubnis kann nun niemand mehr hinein oder hinaus. Lidia Markus und ihre beiden Mädchen leben in der Sienna-Straße im sogenannten „kleinen Ghetto“, einem Gebiet, in dem die wohlhabenderen Juden leben. Es ist durch eine Holzbrücke über eine außerhalb des Ghettos liegende Straße mit dem „großen Ghetto“ verbunden, in dem die Lebensbedingungen sehr viel schwieriger sind.

      „Von unserem Fenster aus konnte ich die ‚arische‘ polnische Seite sehen – theoretisch jedenfalls. Wegen der Mauer konnte ich nämlich nur den oberen Teil der Häuser auf der Marszałkowska-Straße sehen. Aber wir hatten einen Baum vorm Fenster, da hatten wir wirklich Glück. Bäume waren eine Rarität im Ghetto.“

      Statistiken der Nazis zufolge leben 470.000 bis 590.000 Menschen im Ghetto, für die es nur 27.000 Wohnungen gibt. Sechs bis sieben Personen müssen sich ein Zimmer teilen, es gibt keine Parks, keine Wiesen, keine Plätze für die vielen Menschen.

      „Die Straßen waren völlig überfüllt. Überall saßen hungrige Kinder, die bettelten oder, wenn man etwas in der Hand hielt, versuchten, einem das zu entreißen. Ich erinnere mich genau an das erste Mal, als ich ein sterbendes oder schon totes Kind auf der Straße sah und ich mich zu dem Kind beugte, um zu helfen. Da schritt meine Mutter ein und hielt mich davon ab. Ich konnte es nicht glauben, dass meine Mutter mir tatsächlich verbot zu helfen. Sie hatte uns dazu erzogen, altruistisch zu handeln, und nun befahl sie mir, dem Kind fernzubleiben, weil es voller Läuse war und wahrscheinlich auch Typhus hatte. Das war genau der Moment, in dem mir klar wurde, dass ich von nun an Scheuklappen anlegen musste, um zu überleben. Das zu akzeptieren war nicht leicht für mich.“

      Trotz ihrer entsetzlichen Situation versuchen die Juden, so normal wie möglich im Ghetto zu leben. Ein Krankenhaus und ein Waisenhaus beginnen ihre Arbeit. Wohlfahrtsorganisationen (neben dem Judenrat die einzigen jüdischen Institutionen, die erlaubt waren) richten Suppenküchen ein, heimlicher Schulunterricht wird organisiert und kulturelle Veranstaltungen finden statt.

      „Das Interessante war, dass die Leute wirklich versucht haben, ihren Optimismus zu behalten. Da wurde in privaten Wohnungen heimlich Schulunterricht gegeben, Literaturabende fanden statt, die Synagoge hatte eine unglaubliche Bibliothek und gab Bücher in Umlauf, es gab Theatergruppen und sogar ein Orchester. Ein Cousin von meinem Vater hat eine Suppenküche organisiert. Und meine Freundinnen und ich haben für die Kinder Kasperletheater gespielt. Natürlich hatten wir keine Puppen, aber wir haben einfach unsere Finger benutzt und uns kleine Geschichten ausgedacht. Ich erinnere mich, dass in einer unserer Geschichten ein Baum vorkam, und dass wir zu unserem Entsetzen von einem vierjährigen Jungen gefragt wurden: Was ist denn ein Baum?“

      Die fünfzehnjährige Maria trifft im Ghetto ihre Schulfreundinnen Irma, Iwetta, Irka und Luisa wieder. Einige der früheren Lehrer organisieren heimlichen Schulunterricht und unterrichten polnische Literatur und Naturwissenschaften. „Wir haben uns jeden Tag in einer anderen Wohnung getroffen, kamen alle einzeln und haben unsere Bücher unter der Kleidung versteckt, um keine Aufmerksamkeit zu erregen.“

      Die Mädchen verbringen oft die Nachmittage zusammen – bis 19 Uhr, dann beginnt die nächtliche Ausgehsperre. Eines Tages sind die Mädchen bei Irma verabredet, Maria verspätet sich etwas und trifft weder Irma noch Iwetta oder Irka an. Irgendetwas ist komisch, denn Irmas Mutter möchte nicht sagen, wo die Mädchen sind.

      „Erst einige Zeit später hat mir Irmas Vater dann erzählt, was passiert ist. Deutsche waren in das Haus gestürmt und haben fünf Mädchen mitgenommen – darunter Irma, Iwetta und Irka. Dann haben sie die Mädchen in einen Hinterhof gebracht, in dem ein Berg Kohle lag. Die Mädchen mussten sich splitternackt ausziehen und zu den Klängen von Militärmusik die Kohle von einer Ecke des Hofs in die andere Ecke tragen. Nach drei Stunden wurden sie zu ihrem Haus zurückgebracht.“

      Maria schüttelt den Kopf und sagt langsam: „Meine Freundinnen haben nie ein einziges Wort über diesen Vorfall verloren.“ Lidia wird von ihrer Schwester Olga mit Briefen bombardiert und der Bitte, doch das Ghetto zu verlassen. Es laufen Gerüchte über Umsiedlungen und Arbeitslager. Olga organisiert Papiere für die Mädchen, damit sie sich als russisch-orthodox eintragen lassen können, und sie organisiert eine Wohnung in Warschau. Irgendwann gibt Lidia nach, und es gelingt ihr und den beiden Mädchen, aus dem Ghetto auf die arische Seite zu gelangen.

      „Vermutlich ist das überraschend, was ich jetzt sage, aber so sehr wie ich das Ghetto gehasst habe – denn die Situation im Ghetto verschlimmerte sich nahezu täglich –, ich wollte es wirklich nicht verlassen. Ich habe das Gefühl gehabt, dass ich meine Freundinnen im Stich lasse und verrate. Ich habe endlos meiner Mutter gegenüber gejammert, wie allein ich mich ohne meine Freundinnen fühle. Die andere Sache war natürlich, dass wir dauernd davon hörten, dass auf der arischen Seite Juden denunziert werden – davor wenigstens brauchte man im Ghetto keine Angst zu haben.“

      Lidia und die Kinder benutzen einen Mittelsmann, um mit ihren Freunden im Ghetto in Verbindung zu bleiben. Die siebzehnjährige Irma schreibt im Frühjahr 1940:

      „ … Der Grund, warum ich nicht geschrieben habe, ist, weil ich so schwer arbeiten muss. Abgesehen davon bin ich sehr deprimiert. Ich habe keine Motivation, auch nur irgendetwas zu tun … Es gibt keine großen Veränderungen hier. Ich versuche, nicht daran zu denken, was in zwei oder drei Monaten sein wird. Wir müssen von einem Tag auf den anderen leben, auch wenn das keine erfreuliche Philosophie ist. Entschuldige, dass ich es überhaupt erwähne. Ich frage mich, was der Frühling bringt. Ich bin sicher, dass es einige schwierige Momente geben wird (die Lager!). Aber gleichzeitig hoffe ich, dass die Situation besser wird … Ich wünschte nur, dass diese schwierige Periode in unserem Leben bald vorüber sein wird, denn meine Nerven halten das nicht mehr lange aus. Manchmal, wenn nichts mehr geht, kriege ich einen hysterischen Anfall, und dann bin ich die nächsten Tage etwas ruhiger. Aber dann kommen wieder schlechte Nachrichten zum Beispiel aus Łódź2, und dann kehrt die Traurigkeit zurück … “

      Als die deutsche Wehrmacht am 22. Juni 1941 die Sowjetunion überfällt, schöpfen viele Juden Hoffnung. So auch Irma in ihrem