So weit wie möglich weg von hier. Hannah Miska

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Название So weit wie möglich weg von hier
Автор произведения Hannah Miska
Жанр Историческая литература
Серия
Издательство Историческая литература
Год выпуска 0
isbn 9783954624324



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mehr als 11.000 im Ghetto Łódź, das entsprach einer Sterberate von 90 pro tausend beziehungsweise 76 pro tausend. Bereits im Folgejahr kletterte die Mortalität auf 140 beziehungsweise 160 pro tausend an – sterbende oder tote Menschen in der Gosse oder auf den Bürgersteigen gehörten zum Ghettoalltag. Emanuel Ringelblum, ein im Warschauer Ghetto lebender Historiker, gründete das Untergrundarchiv Oneg Schabbat (Freude am Sabbat), und dokumentierte mit Hilfe vieler Mitarbeiter das Leben im Ghetto. Ringelblum hat nicht überlebt, aber große Teile des versteckten Untergrundarchivs – eine unschätzbare historische Quelle.

      Am 22. Juni 1941 begann die deutsche Wehrmacht ihren Ostfeldzug und überfiel die Sowjetunion, dicht gefolgt von den Einsatzgruppen des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA): Es war zugleich der Beginn des systematischen Massenmords an den russischen und den im sowjetisch besetzten Teil Polens lebenden polnischen Juden. Der Vernichtungsfeldzug wurde schnell auf den deutsch besetzten Teil Polens und auf alle besetzten Länder Europas ausgeweitet.

      Im Januar 1942 fand auf Einladung von Reinhard Heydrich, Chef der Sicherheitspolizei und des SD, die Wannsee-Konferenz in Berlin statt – Thema: die „Endlösung der Juden“, wie die Nazis die Ermordung der europäischen Juden euphemistisch nannten. Während der Konferenz drängte Josef Bühler, Stellvertreter von Hans Frank, mit der „Endlösung“ im Generalgouvernement zu beginnen, weil es hier keine Transportprobleme gäbe und er die Judenfrage so schnell wie möglich zu lösen wünsche.

      Bereits im Monat zuvor, im Dezember 1941, war das erste Vernichtungslager im Reichsgau Warthegau in Einsatz gegangen: Chełmno. Es war das erste Lager, in dem Gas zum Einsatz kam. Zu den ersten Opfern gehörten Juden und „Zigeuner“ aus dem Ghetto Łódź, darunter Juden aus dem heutigen Deutschland, Österreich, Luxemburg und der Tschechoslowakei, die nach Łódź abgeschoben worden waren. Bis März 1943 wurden mindestens 100.000 Menschen nach Chełmno deportiert – der Warthegau war nun, bis auf das Ghetto Łódź, judenfrei. Im April 1944 wurde die Arbeit in Chełmno wieder aufgenommen, um nunmehr auch die Juden des Ghettos Łódź zu vergasen.

      Auch das Generalgouvernement hatte bereits im Herbst 1941 erste Vorbereitungen für die Ermordung der dort etwa zwei Millionen Juden (inklusive der seit August 1941 zum Generalgouvernement gehörenden Juden aus Lvov und Ostgalizien) getroffen. In der ersten Hälfte des Jahres 1942 wurden drei Vernichtungslager in Betrieb genommen: Bełżec, Sobibór und Treblinka. In Bełżec wurden ab März 1942 allein in den ersten vier Wochen 80.000 Juden aus Lublin, Lvov und anderen Ghettos im Distrikt Lublin und Galizien vergast – bis zum Dezember wurden es 600.000. In Sobibór wurden in den ersten drei Monaten zwischen Mai und Juli 1942 über 100.000 Juden aus Lublin, dem Protektorat Böhmen und Mähren, dem Deutschen Reich, der Ostmark und der Slowakei vergast, bis zum Herbst 1943 waren es 250.000.

      Die mit Abstand größte „Aktion“ (so von den Nationalsozialisten genannt) im besetzten Polen fand vom 22. Juli bis zum 12. September im Warschauer Ghetto statt: eine Abfolge von Razzien und Aushebungen, in deren Folge etwa 300.000 Bewohner des Ghettos zum Umschlagplatz gebracht wurden, dem Güterbahnhof, der direkt an das Ghetto anschloss. Hier wurden die Menschen in Güterwagen gepfercht und nach Treblinka transportiert.

      Bis zum Schluss versuchten die Nazis, ihre Absichten zu verschleiern und die Opfer zu täuschen. Sie propagierten, dass man die Juden umsiedeln würde an einen (nicht benannten) Ort, an dem es Arbeit gäbe und ordentliche Wohnungen. Trotz vieler Gerüchte wollten viele Juden nicht an die mit Recht unvorstellbaren Todesfabriken glauben. Andere jedoch machten sich keine Illusionen darüber, was sie erwartete. Sie versteckten sich in ihren Häusern, in Kellern, Dachkammern und Bunkern, um den Deportationen zu entkommen. Die SS jedoch räumte die Ghettos Haus um Haus, Straße um Straße. Die jüdische Polizei wurde gezwungen, jeden Tag eine bestimmte Anzahl von Juden abzuliefern, andernfalls drohte die Deportation der eigenen Familie. Adam Czerniaków, der Vorsitzende des Judenrates in Warschau, weigerte sich, die Deportationen zu organisieren und verübte am 23. Juli 1942 Selbstmord. Chaim Rumkowski, Vorsitzender des Judenrates im Ghetto Łódź, hoffte, wenigstens einen Teil der jüdischen Bevölkerung retten zu können. Auf Geheiß der Deutschen halfen er und der Ältestenrat, die Deportationen zu organisieren. Rumkowski befand sich auf dem letzten Transport aus dem Ghetto Łódź am 30. August 1944 und wurde in Auschwitz ermordet.

      Nach der „Aktion“ im Sommer 1942 befanden sich noch etwa 55.000 – 60.000 hauptsächlich junge Menschen im Warschauer Ghetto. Sie waren verzweifelt, fühlten sich schuldig, dass sie keinen Widerstand geleistet hatten, und sie wussten, dass sie in Kürze ebenfalls deportiert werden würden. In dieser hoffnungslosen Situation schlossen sich verschiedene jüdische Parteien und Organisationen zur „Jüdischen Kampforganisation“ (ZOB) zusammen. Die ZOB nahm Kontakt mit der Armia Krajowa auf, der polnischen Widerstandsorganisation, die eine kleine Anzahl von Waffen lieferte. Währenddessen baute die Ghettobevölkerung Bunker mit Belüftungsschächten und Elektrizität und versorgte die Bunker mit Wasser und Nahrungsmitteln, um im Ernstfall dort längere Zeit überleben zu können.

      Am 19. April 1943, am Vorabend des jüdischen Pessachfestes, kam die SS. Das Ghetto war gähnend leer – die gesamte Bevölkerung hielt sich versteckt –, und die Deutschen wurden von bewaffneten Widerstandskämpfern begrüßt: Es war der Anfang des Aufstands im Warschauer Ghetto – ein ungleicher Kampf zwischen ein paar hundert ausgehungerten Widerstandskämpfern, die nichts als ein paar Gewehre, Pistolen und Handgranaten besaßen, und knapp tausend schwer bewaffneten Deutschen. Dennoch hatten die Deutschen Schwierigkeiten mit der Partisanentaktik der Juden. Der Befehlshaber der Großaktion, SS-Gruppenführer Jürgen Stroop, beschloss daraufhin, das Ghetto systematisch niederzubrennen. Das Ghetto stand in Kürze in Flammen, die Bunker wurden zu Infernos. Dort, wo die Menschen noch aushielten, wurden sie mit Gasgranaten aus den Bunkern getrieben.

      Der Aufstand dauerte fast vier Wochen, es war der größte jüdische Aufstand im besetzten Europa. Am 16. Mai verkündete Stroop, dass der ehemalige jüdische Wohnbezirk Warschau nicht mehr existiere. Um den Sieg entsprechend zu feiern, ließ er die Große Synagoge, die sich außerhalb des Ghettos befand, niederbrennen. In seinem Endbericht über die Aktion notierte er, dass seine Leute 56.065 Juden ergriffen hätten, von denen 7.000 im Kampf getötet worden seien. 7.000 Ghettobewohner wurden in das Vernichtungslager Treblinka deportiert, wo sie sofort nach Ankunft vergast wurden. Einige Tausend wurden in Arbeitslager, die meisten in die Konzentrationslager Majdanek, Poniatowa und Trawniki deportiert, wo sie kurze Zeit darauf, im November 1943, dem „Unternehmen Erntefest“ zum Opfer fielen – einer Erschießungsaktion, in der in den drei KZs 43.000 Juden erschossen wurden. Nur die Juden in den Arbeitslagern überlebten.

      Am 1. August 1944, mehr als ein Jahr nach dem Aufstand im Warschauer Ghetto, begann der Warschauer Aufstand: der bewaffnete Kampf der Armia Krajowa gegen die deutsche Besatzungsmacht in Warschau. Zwei Monate lang lieferten sich polnische Widerstandskämpfer und deutsche Truppen heftige Gefechte und Straßenkämpfe um die Stadt, SS-Einheiten verübten in dieser Zeit furchtbare Massaker an der Zivilbevölkerung. Himmler hatte die Hinrichtung sämtlicher Personen im Aufstandsgebiet befohlen – egal, ob AK-Kämpfer oder Zivilisten und ohne Ansehen von Alter und Geschlecht. Allein im westlichen Stadtteil Wola wurden an einem einzigen Tag 50.000 Zivilisten kaltblütig erschossen – Frauen, Männer und Kinder. Die Rote Armee, die bereits vor den Toren Warschaus stand, stoppte ihre Offensive und wartete ab. Nach 63 Tagen – Warschau war ein Flammenmeer, es gab keine Nahrungsmittel mehr und kaum noch Wasser – kapitulierte die AK.

      Die traurige Bilanz des Warschauer Aufstands: Zwischen 16.000 und 20.000 polnische Widerstandskämpfer und mehr als 160.000 polnische Zivilisten kamen ums Leben. Aber das war noch nicht das Ende: Reichsführer-SS Heinrich Himmler ordnete an, dass Warschau komplett von der Erde verschwinden müsse, kein Stein solle auf dem anderen bleiben, jedes Gebäude müsse dem Erdboden gleichgemacht werden. 100.000 Zivilisten wurden in deutsche Zwangsarbeitslager, 65.000 in Konzentrations- und Vernichtungslager deportiert. Die übrige Zivilbevölkerung wurde aus der Stadt in das restliche Gebiet des Generalgouvernements getrieben. Anschließend begannen die Deutschen mit der Vernichtung Warschaus oder dessen, was noch stehen geblieben war – mit Flammenwerfern und Sprengstoff zerstörten sie systematisch Haus um Haus, Straße um Straße. Sie konzentrierten sich dabei insbesondere auf historisch und architektonisch bedeutsame Gebäude sowie Kulturdenkmäler – die Universität, die Nationalbibliothek,