Fast am Ziel. Hanno Rinke

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Название Fast am Ziel
Автор произведения Hanno Rinke
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783963114236



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href="http://www.onkeltaa.com/deutsch/restaurant-onkel-taa-willkommen.html">‚Onkel Taa‘, bei Google natürlich. Zunächst wollte ich es nicht in die engere 47Wahl nehmen, weil ich nicht recht einsah, warum ich im Vinschgau thailändisch essen sollte. Aber der knorrige Wirt erklärte mir später, dass er den Spitznamen von seinen kleinen Neffen bekommen und beibehalten habe. Das Lokal gibt es seit 1430. Damals herrschte in Thailand สมเด็จพระบรมราชาธิราชที่ 2, also Borommaracha II., und der Staat hieß noch 509 Jahre lang Siam.

      Auf den mühsamen Anstieg zum Wasserfall konnte ich schmerzlos verzichten, und wenn die anderen keine Natur wollten – ich würde nicht schulmeisterlich auf Bundhosen bestehen. „Dann fahren wir eben erst um zwölf los und gleich zu Onkel Taa“, sagte ich und rührte den Löffel im Topfenmousse. Bei der Süßspeise bin ich immer schon so erleichtert, dass ich sie häufig aufesse.

       LEBENDE UND UNSTERBLICHE

      UMWEG #10

       SAMSTAG, 18. JUNI 2016

      Alle saßen pünktlich in den Autos, für die sie eingeteilt waren. Rafał fuhr mit Bo, Ingrid und mir vorneweg und verzichtete wegen seiner guten Ortskenntnisse auf die Navigatorin, was uns und die anderen drei Autos hinter unseren Rücken mehrfach durch Algund führte. An der ewig selben ewig roten Ampel machten wir uns Mut, die Nachzügler würden das bestimmt für eine Ortsbesichtigung halten, dann kamen wir doch nach Töll, wobei Rafał unentwegt den Rückspiegel anschrie, warum Giuseppe so langsam führe. In Töll mussten wir die vernünftige Landstraße auf den Reschenpass verlassen, über die Etsch-Brücke setzen, am Endzeit-Stimmung verbreitenden Bahnhof vorbeigleiten, und wenn man dann nach einer Weile auf dem ganz ehrlich als ‚Sackgasse‘ ausgeschilderten Weg denkt: „So, nun ist alles aus!“, dann kommt ‚Onkel Taa‘. Bei gutem Wetter kann man draußen sitzen. Wir saßen drinnen. Der Regen verhinderte, dass irgendwer den Wasserfall vermisste. 48Unser Tisch war festlich gedeckt, und es dauerte eine Weile, bis alle an ihm saßen, weil es viel zu begucken und zu bestaunen gibt. Wir tauchten ein in die österreichische K.-u.-k-Welt: Plüsch und Spitze und Sisis Badewanne im Hof vor steilem Felsen.

      Hanno mit 16 Jahren (1962)

      Hanno mit 19 Jahren (1965)

      Hanno mit 22 Jahren (1968)

      Was als Imbiss gedacht war, wurde ein reichhaltiges Menü. Ich aß, wie andere Nostalgiker auch, Schnecken. Das war in den Siebzigerjahren Mode gewesen. Silke schenkte mir damals zum Geburtstag Pfännchen aus feuerfestem Glas und chirurgisch anmutende Bestecke dazu. Die Schnecken lagen zu dieser Zeit in ziemlich einfallslosem Sud; man kaufte sie bei besseren Feinkost-Geschäften in der Dose, füllte die ausgewaschenen oder neu erworbenen, dekorativen Häuschen mit den glibberigen Dingern, bestrich die Öffnung mit sehr viel Knoblauch-Petersilien-Butter, und dann ab in den Ofen. Das war wesentlich umstandsloser, als es die durchtriebenen Alten Römer trieben: Sie sollen die nichts ahnenden Schnecken mit Milch gefüttert haben, damit sie anschließend schöner schmeckten. Aber auch heute noch freut sich Tierversteher und Bestseller-Autor Wohlleben kauend, wenn es das Huhn in seinem Mund vorher gut gehabt hat. Artgerecht gehalten, artgerecht gegessen. Wahrscheinlich ist es auch artgerecht, 49Menschen in Religionen gefangen zu halten. Evolution bevorzugt das Schneckentempo. Während wir vor vierzig Jahren die gesottenen Weichtiere mit den chirurgischen Zangen aus dem Gehäuse lösten und dann auf die Gabel piekten, um sie gekonnt an die Lippen zu führen, kamen wir uns sehr weltläufig vor: Vietnam ging uns nichts an, aber Manieren hatten wir. Unsere Eltern hatten nach dem Krieg noch Blumenkohl in Mehlschwitze gegessen, wenn überhaupt. Bei uns gab es allenfalls Broccoli mit gerösteten Mandeln. Pali merkte zurecht an, dass Schnecken wie ausgespuckter Kaugummi schmecken und nur dank ihrer forsch gewürzten Knoblauch-Verpackung genießbar werden. Veganer nehmen heute natürlich Distelöl mit enzymatischer Veresterung statt Butter.

      Anschließend an die ausgedehnte, ausgelassene Mahlzeit musste noch das Sisi-Museum über den Seiteneingang des Restaurants besucht werden: Da ist alles an Puppenstuben, Küchen-Utensilien und Zierrat angesammelt, was es im späten 19. Jahrhundert gegeben haben mag.

      Die vorgesehene lange Ausruh-Pause schrumpfte auf eine halbe Stunde. Der Raum, in dem ich auch jetzt sitze, in dem links vor dem langen Balkon mein Schreibtisch steht und vorn der Flachbildschirm, groß genug, um die Welt wohldosiert in unsere Abgeschiedenheit zu integrieren, dieser Raum war mit Gartenmöbeln und gepolsterten Auflagen so hergerichtet, dass er tatsächlich vierzehn Personen fassen konnte. Die Berge waren nicht zu sehen, aber die Gäste sollten ja auch mich angucken, denn nun hielt ich meine Rede. Für alle, die nicht dabei waren oder sie vergessen haben, ist sie hier nochmal. Scheinbar weit ausholend begann ich:

      Liebe Seelen-Verwandte!

      Mein erster runder Geburtstag, als ich zehn Jahre alt wurde, …

      … an den erinnere ich mich nicht mehr. Zwei Monate vorher war ich aufs Gymnasium gekommen: der Wechsel von gemischter Klasse mit netter Lehrerin zu reiner Jungens- klasse, von Alt-Nazis unterrichtet – das war ein Kulturschock, von dem ich mich bis zur Oberstufe nicht erholte.

      Dabei ist Jugend nicht zwangsläufig ein Nachteil, obwohl man das mit 14 damals oft so empfand. Zu meiner Kinderzeit sah man in Erwachsenen ja noch Vorbilder und nicht digital rückständige Bevormunder. 50Die Älteren zu verachten, das ging eigentlich erst ’68 so richtig los.

      Ich war immer der Jüngste und der Ungeschickteste in der Klasse und dazu noch katholisch. Noch schlimmer hätte es in der Diaspora Hamburg um 1960 nur kommen können, wenn ich gesagt hätte: „Ich glaube nicht nur an den Papst, ich glaube außerdem, ich bin schwul.“ Meine Waffen wuchsen mir erst so richtig, als die Waffen mancher Draufgänger bereits stumpf zu werden begannen.

      Roland und Hanno

      Guntram, Irene, Pali, Harald, Roland, Hanno und Susi bei ‚Mary‘ (beide 1979 in Meran)

      Ziemlich ungern verbrachte ich Zeit in unserem Schullandheim auf Föhr, weil es mir damals recht schlecht gefiel, mit anderen Jungen in einem Zimmer zu schlafen, und auch später lag mir immer sehr daran, mir auszusuchen, neben wem ich morgens aufwachte. Tagsüber gab es Unterricht. Abends saßen wir bei ‚Zumpe‘, was ich damals schon lautmalerisch fand. Drei der älteren Sitzenbleiber sahen in mir dünnem Ding eine fette Beute und forderten mich zum Skat auf. Wenn abwechselnd immer einer aussetzt, kann man das ja auch zu viert spielen. Da ich nie einen Ball ins Tor schoss, war es für die Sportskanonen überraschend, dass ich überhaupt bereit war, mich auf 51irgendetwas einzulassen, was nicht zum Unterricht gehörte, und weil um Geld gespielt wurde, schien ich das perfekte Opfer.

      Mir die Skatregeln zu erklären, war freundlich von ihnen, aber überflüssig: Wenn meine Eltern verreist waren und meine Großeltern mich betreuten, dann hatten wir vorm Zubettgehen allabendlich Skat gespielt. Fernsehen gab es bei uns noch nicht, und meine Eltern waren oft verreist … – Ich nahm die drei Profis aus bis auf den letzten Pfennig.

      Danach hatte ich weniger Probleme mit der Überlegenheit der Älteren. Vermutlich war ich eine Nerd-Vorform, und weil es Heim-computer noch nicht gab, wurde ich Partituren-Freak.

      Jungsein ist, wie gesagt, nicht immer ein Nachteil; als Tarnung ist es, wie in diesem Fall, sogar ganz hilfreich. An der Kinokasse musste ich allerdings noch mit achtzehn meinen Ausweis zeigen für Filme, die jetzt sonntagnachmittags im Fernsehen laufen.

      Dann wurde ich volljährig, damals mit 21; aber ich blieb albern, und inzwischen habe