Fast am Ziel. Hanno Rinke

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Название Fast am Ziel
Автор произведения Hanno Rinke
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783963114236



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essen mit mehr und mehr Sonnenschein jenseits der riesigen, geöffneten Fenster.

      Dementsprechend fiel die abendliche Verköstigung weit weniger gehaltvoll aus. Das ‚357‘ liegt gleich bei uns um die Ecke. Sein Name bezieht sich auf die Hausnummer an der ‚Via-Cavour-Straße‘ wie sie in Südtiroler Zweisprachigkeit heißt, und die Zahl wird von Italienern ‚trecinquesette‘ aus- gesprochen. Deutsche sagen: „Drei-hundertsiemunfuffzich“. Es gab Pizza und viel zu erzählen, und ich horchte in mich hinein, ob ich mich so alt fühlte, wie ich jetzt war.

      Meine Altersgenossen, die damals alles umkrempeln wollten, waren mindestens so radikal und gläubig, wie ihre Eltern es gewesen waren, nur dass alles, was den Jungen nicht ins Weltbild passte, jetzt ‚faschistisch‘ hieß: ein Begriff, ehemals 56Auszeichnung, jetzt Schimpfwort, so wohlfeil wie inflationär. Ich hatte sie für Idioten gehalten, alle zusammen. Von der Liberalisierung profitierte ich trotzdem, eher lauthals als stillschweigend, aber der nachprüfbare Kontrapunkt interessierte mich immer mehr als der angebliche Konsumterror. Partituren sind realer als Utopien: Sie lassen sich wenigstens umsetzen. An etwas glauben zu können, ist vielleicht Gnade, aber niemals Verdienst. Und an etwas geglaubt zu haben, taugt vielleicht zu wehmütigen Erinnerungen, aber nicht als Entschuldigung – genauso wenig, wie es zur Rechtfertigung dienen kann, an nichts geglaubt zu haben. Im Alter werden die Huren fromm und die Radikalen zahm. Trifft nicht zu auf mich. Sähe ich nicht so abgewrackt aus, ich würde behaupten, ich habe mich nie verändert.

      Zum Tagesausklang gab es noch eine besondere Attraktion: Wir versammelten uns auf der Terrasse, Licht gleißte auf, Feuerwerk-Fontänen stoben in die Nachtluft, Shirley Bassey behauptete in der englischen Version ‚Fafafa‘ einer italienischen Canzone aus dem Lautsprecher heraus, was ich seit, oh mein Gott, fünfzig Jahren schon von ihr wusste: ‚We’re only young but once then youth is gone. You can’t go back in time, for time goes on.‘ ‚Live for today, today is all that matters‘, behauptet sie weiter im Text kämpferisch-resignierend, während das italienische Original nur bedauert, dass ‚Il carnevale‘ vorbei sei. Vielleicht stimmt es nicht, dass ich keine Idole hatte, habe ich nicht doch auf inbrünstig-ironische Art für Shirley Bassey geschwärmt, während Gleichaltrige glaubten, ‚Black Sabbath‘ würde ihnen neue Welten erschließen? Dass Shirley Bassey auf dem Festival von San Remo sang und ihre Italien-Liebe so weit trieb, dass sie den Assistenten des Hoteldirektors heiratete, aber nicht irgendeines italienischen Hotels, sondern den vom ,Excelsior‘ auf dem Lido, das passte in Haralds und meine Gewissheit, dass Glamour und Kitsch einander nicht ausschließen, sondern bedingen. Von Silke, unserer Artist-Promotion-Expertin im Pop-Bereich, wusste ich außerdem schon damals, dass Rabauken, die in ihren Songs die Ungerechtigkeit der Welt anprangerten, gern in Nobel-Restaurants feierten, dort immerhin, um unetabliert zu bleiben, mit Gläsern um sich schmissen, oder aber gleich jenseits der Bühne unerkannt im Maßanzug liefen und ihre Kinder auf Privatschulen schickten. Vielleicht war unser Modell, das falsche Pathos der echten Empörung vorzuziehen, zynisch, aber dafür blieb es uns erspart, im späteren Alter Lebenslügen als wahre Werte ausgeben zu müssen. 57Shirley Basseys gespielte Zügellosigkeit ‚Today is all that matters‘ liebte ich vielleicht deshalb inbrünstig, weil sie mir auf immer versagt blieb: Ich konnte den Augenblick monatelang planen, ich konnte ihn hinterher jahrelang beschreiben – genießen konnte ich ihn nie, und so hätte Mephisto als Verführer an mir noch weniger Freude gehabt, als er sie an Faust hatte. Meine Mutter dagegen hat in ihrer Wahl für Rita Hayworth womöglich mehr Klasse bewiesen als ich mit meiner Shirley-Bassey-Schwärmerei: Irene konnte es fast ernst meinen, ich fast nicht. Rafał tanzte in der Mitte des Gartens, schimmernd erleuchtet, mit nacktem Oberkörper, während er zwischen den Fingern einen gefiederten Stab hin und her balancierte. ‚Fireball‘ nannte er die Performance. Es hatte etwas Magisches. Es war Artistik, es war Voodoo, es war eine Zueignung. Die Sterne zwinkerten in der Ferne: Einverständnis. Oder Bluff. ‚Il carnevale – fafafa – finice male – fafafa …‘ Ja, es endet eben alles schlecht, es sei denn, man betrachtet das Ende als Erlösung.

       WIE WICHTIG BIN ICH?

      UMWEG #12

       MONTAG, 20. JUNI 2016

      Vor ihrer Abreise durften Thomas und Loïc beim Frühstück auf der Hotelterrasse feststellen, dass es in Meran auch wolkenlosen Himmel geben kann; den hatten sie dann bis zum Abflug in Verona. Anette stieg stattdessen in den Bus und kam ganz ohne Zwischenfälle, also nicht weiter erwähnenswert, nach Südfrankreich in ihren provenzalischen Urlaub ganz ohne WLAN, was einem ja heute vorkommt, wie ohne fließend Wasser. Rüdiger fuhr zurück ins Badische, heute ein Klacks. Die Gedanken waren ja, entsprechend dem Volkslied, schon immer frei, falls man sich traute, sie zuzulassen. Inzwischen sind der physische Transport und die Digitalisierung so weit fortgeschritten, dass ich mir die Linie nicht nur als Verbindung zwischen zwei Punkten, sondern auch in einem höher 58dimensionierten Raum vorstellen kann, was aber nicht davon ablenken soll, dass ich nicht aufhören konnte, mich zu fragen, ob Gott, die Natur oder sonstwer mir etwas damit sagen wollten, dass sie das Wetter wie zum Schabernack gleich einen Tag nach meinem Geburtstag so prachtvoll gestalteten. War ich ihnen wirklich so wichtig, oder hatten sie so wenig zu tun? Egal, es ging um noch Wichtigeres: wohin heute? Montags haben ja die meisten Lokale geschlossen, Schloss Thurnstein nicht. Rafał kennt wie üblich den Besitzer und seine sexuelle Ausrichtung.

      Im Innenhof mit Blick ins Tal saßen wir Zurückgebliebenen entspannt in legerer Kleidung und freuten uns, keine Touristen zu sein, was man schon daran merkte, dass wir weder Wanderschuhe von Salomon oder von Jack Wolfskin trugen noch Rahmgulasch mit Krautsalat bestellten.

       TIER UND MENSCH

      UMWEG #13

       DI., 21. JUNI – DO., 14. JULI 2016

      Nachdem sich auch Bo und Ingrid wieder auf den Weg nach Stockholm gemacht hatten, war die Party vorbei. Susi blieb etwas länger bei Silke, Giuseppe bei mir. Beide hatten ja Zimmer mit Bad. Wo man nicht teilen muss, stört man auch nicht. Carsten blieb am längsten, im zweiten Stock der ‚Villa‘, Rafałs Reich, und Sally mit beiden.

      Ich bin nicht tierlieb, deshalb mögen Tiere mich: Ich lasse sie in Ruhe statt ihnen mit Zärtlichkeiten zuzusetzen. Das gefällt ihnen, und darum kommen sie gern zu mir. Mit Kindern ist es genauso. Sally ist zehn, da Hundejahre siebenfach zählen, also genauso alt wie ich. Hunde sind mir sowieso ähnlich. Wir verteidigen uns mit dem Maul: 59Sie beißen, ich rede. Seit ich mich ausdrücken kann, bin ich nicht mehr so hilflos. Sally hatte beunruhigende Knoten in der Brust. Carsten wollte deshalb eher abreisen, aber ich ergoogelte eine Tierklinik in Bozen, und da wurde Sally operiert. Wie vermutet war der Tumor bösartig. Das Wetter war gut, unsere Stimmung gedrückt. Wann passt schon mal alles zusammen?

      Als Carsten abgereist war, zog ich nur noch ausrangierenswerte Kleidung an. Im Rahmen dieser Einschränkung hatte ich bis zum Schluss die freie Wahl unter meinen betagten Textilien, ohne dass ich fürchten musste, ein noch halbwegs ansehnliches Stück befände sich zum Zeitpunkt des Kofferpackens gerade in Rafałs nimmermüder Waschtrommel. Allen meinen Kleidungsstücken gönne ich zwar väterlich, die wilde, weite Welt kennenzulernen, aber manche sind einfach zu abgewetzt. Und dann ging sie los, die große Sommerreise: an nie gesehene und an lang vermisste Orte. Neugier im Kopf und Furcht im Herzen. Oder umgekehrt.

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      Originale Bilder: ©Nuttapong/shutterstock.com, ©Enrique Ramos/shutterstock.com, Montage: ALEKS & SHANTU

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       SCHACHFIGUR

      UMWEG #14

       FREITAG, 15. JULI 2016

      Dass