Fast am Ziel. Hanno Rinke

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Название Fast am Ziel
Автор произведения Hanno Rinke
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783963114236



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ich! Außer mein Selbstmitleid zu pflegen, gab es, wie die Dinge nun mal liegen, wenig zu tun, zumal ich alle hier in Meran sonst üblichen Therapien wegen meiner seelischen Unausgewogenheit auf unbestimmte Zeit verschoben hatte. Zunächst mal las ich tagelang: über die Phönizier, die Pompadour, die USA. Ich stellte mir die Welt mit Trump, Putin, Marine Le Pen und Beatrix von Storch vor und freute mich schon aufs Totsein.

      Doch dann begannen auch meine Pflichten. Als ich noch arbeitete, kannte ich etwa fünfhundert Leute: teils beruflich, teils sexuell. Heute kenne ich immer noch fünfzig Menschen, Tote nicht mitgerechnet, und ein paar von ihnen wollten mich zu meinem Geburtstag besuchen. Das war schmeichelhaft, aber vor allem eine Aufgabe; denn wenn ich etwas besonders schlecht kann, dann ist es, Dinge einfach auf mich zukommen zu lassen. Diese (Un-)Fähigkeit begründete meine Paranoia wie meine Erfolge: Ich sehe die Welle, bevor der Ozean von ihr weiß, und ich habe mich bereits entschieden, ob ich ihr trotzen oder ihr entrinnen will, bevor das Wasser überhaupt darüber nachdenkt, ob es sich kräuseln soll. Natürlich waren die meisten Vorbereitungen schon von Hamburg aus angekräuselt worden, aber damit es nachher auch wirklich ganz spontan wirkt, muss man bis zum letzten Augenblick an jeder Einzelheit feilen. Da mich alle Gäste gut kennen, glaubt mir sowieso keiner, dass nicht jede Sekunde durchgeplant ist, aber alle geben sich erwartungsfroh in ihr Schicksal, also meine Hände.

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       ENDE DER EINSAMKEIT

      UMWEG #8

       SO., 12. JUNI – MI., 15. JUNI 2016

      Als Erste kam Susi. Am Sonntag. Sechzehn Tage nach uns. Susi fügt sich gut ein, und wenn sie das nicht kann oder will, bleibt sie für sich. Wir kennen uns seit 1969, haben also schon viele Tote gemeinsam. Aus Solidarität oder Ehrgeiz schloss sich Susi meiner bereits seit einer Woche durchgehaltenen Abstinenz an, machte allerdings meine Quarkdiät nicht mit. Susi will nach ihrer durch Kieferoperationen bedingten Nahrungseinschränkung zunehmen, um etwas gesünder auszusehen, ich möchte meine Hosen wieder schließen können, ohne Erstickungsanfälle zu riskieren: Das sind schon Unterschiede. Vielleicht bin ich heute gebildeter als vor vierzig Jahren, aber das entschädigt mich ja nicht dafür, dass meine durch nichts zu ruinierende Schlankheit von damals einem zweifelsfrei dem Alkohol anzulastenden Blähbauch gewichen ist. Da ich die Brautschau auch als One-Night-Stand längst aufgegeben habe, ist es eigentlich egal, aber aus Geiz scheue ich mich davor, meine überwiegend dreißig Jahre alten Kleidungsstücke auszutauschen, erst recht gegen 40Billigware. Rafał sorgt dafür, dass ich täglich etwas Frisches anziehe, und weil ich Unmengen an Garderobe habe und nie etwas wegschmeiße, finde ich, dass das meiste noch recht anständig aussieht. ‚Klamotten‘ gibt es bei mir nicht.

      Susi (1975)

      Susi (1970)

      Mein sechzigster Geburtstag vor zehn Jahren war auch in Meran begangen worden, während in Deutschland das durch Bestechung erkaufte ‚Sommermärchen‘ der Fußballweltmeisterschaft für Begeisterung sorgte. An meinem in Hamburg groß gefeierten 66. Geburtstag 2012 fand das Spiel der Europameisterschaft an einem Ort statt, den ich in meiner Rede erwähnen wollte und den ich mir deshalb aufschreiben musste: Донецьк. Inzwischen ist Donezk ständig in den Nachrichten, traurige Berühmtheit. Zu meinem Siebzigsten jetzt ereilte mich die nächste Europameisterschaft, gewürzt durch Spekulationen über weitere Anschläge in Frankreich und knüppelige Auseinandersetzungen zwischen jungen Männern, die unterschiedlicher Meinung darüber waren, ob sie lieber auf die englische oder auf die russische Mannschaft stolz sein wollten. Gerechterweise gingen beide unter. Dass Italien, wo ich war, gegen Deutschland, wo ich nicht war, verlor, fand ich traurig, auch wenn es meine Gäste freute, weil ihnen so ein Schlaf störendes Hupkonzert erspart blieb. Dass man auf seinen Pass, seinen Postboten oder überhaupt auf etwas stolz sein kann, was man nicht selbst geleistet hat, habe ich nie verstanden und werde es nie verstehen. Auf mein Geld bin ich auch erst stolz, seit ich das Kapital nicht nur ausgebe, sondern auch vermehrt habe. Dass ich darauf viel weniger Steuern zahle als früher auf meine Gehaltsgelder, die ich mir mühselig erschuftet hatte, ist Glück. Und Glück kann man einfach genießen, ohne darauf auch noch stolz sein zu müssen. Sollte die Vermögenssteuer, über die sich mein Vater als ‚Besteuerung von Versteuertem‘ immer aufregte, diese nicht fiskalisch, sondern bloß optisch wirksame ‚Gerechtigskeits-Neid-Steuer‘ nach der nächsten Bundestagswahl wieder eingeführt werden, dann kann ich stolz sagen: „Ich habe im Sommer 2016 ordentlich viel ausgegeben, um das zu versteuernde Einkommen zu mindern“, und „ich habe, seit ich geerbt habe, jährlich so viel in die von mir gegründete Stiftung investiert, dass ich keine Lust habe, mich moralisch abtatschen zu lassen von Leuten, die noch nie unter Beweis gestellt haben, dass sie mit Geld pfleglich umgehen können.“

       DONNERSTAG, 16. JUNI 2016

      Am Donnerstag kam der zweite Schwall angereist: Rafałs Ehemann Carsten aus 41Kassel, mit Beagle Sally; Rüdiger aus Freiburg, mit Auto; Bo aus Stockholm mit seiner Frau Ingrid und aus dem Veneto Giuseppe, den ich 1981 in Venedig kennengelernt hatte, der also der Einzige der Anwesenden war, dessen Bekanntschaft ich nicht meinem Beruf, sondern meinem Charme verdankte, abgesehen von Rafał, den ich seinem Beruf und Charme verdanke, inklusive Mann und Hund.

      Das Abendessen war zur Einstimmung der Neuankömmlinge bei ‚Sigmund‘ arrangiert: Man sitzt oberhalb der autofreien Hauptstraße und lässt von der Terrasse herab den Blick auf die Passanten, die Passer und die Berge schweifen, während der Himmel purpurn zu leuchten beginnt und man spürt: Nun bin ich angekommen. Dieses Schauspiel unterblieb. Es schüttete derart heftig, dass Rafał das Auto in gewohnter Skrupellosigkeit über die verbotene Brücke fuhr. So konnten Ingrid, die ebenfalls nicht gut zu Fuß ist, und ich direkt vor dem Wirtshauseingang aussteigen. Das hätte Rafał sich bei Sonne nicht getraut, schon wegen der Polizisten, die unter den stattdessen waltenden Umständen auch nicht im Regen stehen wollten, und das wiederum musste mich über den vermasselten Einstieg in die Feierlichkeiten hinwegtrösten. Eine dennoch etwas heikle Situation, denn wenn meine Pläne sich nicht haargenau umsetzen lassen, neige ich zum Durchdrehen. Aber sei’s drum: Drinnen im ersten Stock war es auch hübsch. Rüdiger hatte nach den beschwerlichen Reisen allgemeine Magenleere vorausgesetzt und schon mal ein paar Aufschnittplatten für den quälendsten Hunger bestellt, als Ingrid und ich die Treppe erklommen und Rafał noch nach einer Möglichkeit suchte, den Wagen so abzustellen, dass es niemand merkte.

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       EIN ABGESCHAFFTER FEIERTAG

      UMWEG #9

       FREITAG, 17. JUNI 2016

      Die längste Zeit meines Lebens war das ein Feiertag gewesen: der Tag der deutschen Einheit, an die niemand mehr glaubte. Als sie dann doch kam, wurde er abgeschafft. Seither liegt mein Geburtstag etwas ungeschützt irgendwo in der Woche, was aber nicht so schlimm ist, weil ich gleichzeitig aufhörte, ins Büro zu gehen. Als am 17. Juni 1953 in Ostberlin der Aufstand ausbrach, war ich zehn Wochen zuvor in die zweite Klasse gekommen, und meine Eltern waren weg. Im Gegensatz zu Ulbricht fürchtete ich mich aber nicht vor den Konterrevolutionären, denn ich fürchte mich nun mal grundsätzlich nie vor Politischem, sondern bloß vor Privatem. Trotz meines nahenden Wiegenfestes schien es meinen Eltern interessanter, mit Freunden am Mittelmeer zu urlauben, als mich am Wannsee zu betreuen, was ich aus heutiger Sicht nachvollziehen kann und damals wie alle Zumutungen des Lebens hinzunehmen hatte.

      Aus Westberliner Sicht ging ja alles letzten Endes noch recht glimpflich ab, aus Ulbrichts Sicht auch. Welche Vorwürfe hätte sich meine Mutter, rivieragebräunt, gemacht, wenn sie eine Woche darauf an der versperrten Grenze hätte mit ansehen müssen, wie ich ungeachtet ihres Händeringens in einem sowjetischen Panzer nach