Fast am Ziel. Hanno Rinke

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Название Fast am Ziel
Автор произведения Hanno Rinke
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783963114236



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bei Wikipedia ersammelt, für jeden Tag zurechtgelegt hatte. „Aber vielleicht geht es ja noch authentischer“, dachte ich, und fragte 21die Frau, die hinter der Vitrine mit aller- lei Essbarem hervorgekommen war, offenbar, um uns zu bedienen: „Wie ist die Moritzburg zu ihrem Namen gekommen?“ „Was?“ „Wer hat hier früher gelebt?“ „Also … früher war hier die FDJ drin, hab’ ich mal gehört.“ Nennt man das ‚bildungsfern‘? Rafał rannte zum Auto zurück und holte meine weiße Mappe. Nachdem wir alles Notwendige über Halle am eigenen Leibe erfahren zu haben meinten, verließen wir Anhalt und fuhren nach Sachsen. Leipzig erwartete nicht nur uns, sondern Unmengen von Katholiken in der Diaspora. Einen Katholikentag finde ich nicht viel schlimmer als ein Freundschaftsspiel im Weserstadion oder einen Urlaub im Zeltlager – Hauptsache, ich muss nicht dabei sein. In Leipzig waren alle Quartiere belegt, doch im ‚Fürstenhof‘ waren noch herrschaftliche Zimmer für uns zu haben gewesen, weil nicht alle Gläubigen so reich sind wie der Vatikan und mehr Rucksacktouristen als Kardinäle angereist waren.

      Da ich mich selbst, unter ziemlichen Gewissensqualen, mit dreiundzwanzig vom Katholizismus getrennt habe, halte ich jeden, der schon vierundzwanzig ist und immer noch katholisch, für schwachsinnig. In der Mädler-Passage saßen wir vor der ‚Mephisto-Bar‘, also durchaus richtig; denn selbst Goethe hat dem Teufel viel süffigere Texte geschrieben als dem doofen Faust, der eigentlich wissen möchte, „was die Welt im Innersten zusammenhält“, sich dann aber doch mit einer Minderjährigen zufriedengibt.

      Als wir da so selbstzufrieden unsere Drinks zwischen Tischchen und Lippen balancierten, erklangen Stimmen. Einzelne Stimmen, die miteinander anschwollen, Menschen, die diese Töne erzeugten, eine Gruppe, die dicht neben uns Halt machte, und dann wurde aus den hochhimmlischen Sphärenklängen ein irdischer, wenn auch natürlich tiefreligiöser Gesang. Passanten blieben stehen und uns nichts anderes übrig, als zu lauschen. Solch Eifer ist nun mal ergreifend: Mitten in einer dem Konsum geweihten Passage dieses Manifest von Gläubigkeit. Dieses Vertrauen, diese Zuversicht! Gerührt stiegen wir hinab in ‚Auerbachs Keller‘. Wie gläubig haben auch die Hitlerjugend und die FDJ gesungen! Da lasse ich mich doch lieber von Mephisto führen.

      Wir sonderten uns wie üblich ab und gingen nicht in den ‚Großen Keller‘, in dem ja schon Faust leicht angewidert war, und in dem der Teufel die dümmlichen Trinker verwirrte, sondern hatten im vornehmen kleinen ‚Goethe-Keller‘ reserviert, in dem das Essen 22teuer ist und die Kellnerin nicht nur Schüsseln tragen, sondern auch alles das über ihre Örtlichkeit berichten kann, was die Hallenser Bedienstete nicht über die Moritzburg weiß. Ich akzeptiere ja, dass es Menschen gibt, die sich nicht für ihre Umgebung und ihre Entstehungsgeschichte interessieren, aber wieso dürfen die dann wählen? Andererseits haben hochgebildete Professoren die Nazis unterstützt. Wissen macht nicht immer klug.

      Wir hatten schöne Plätze, was kein Wunder war, denn die Preise sorgten für eine Auslese, die dem Lokal nur eine begrenzte Anzahl an Gästen bescherte. Neckisch wirbt der feudale Keller mit seinem Namenspatron: „Es wird wohl ein ewiges Geheimnis bleiben, welcher sein Stammplatz war. Somit darf sich heute jeder Gast an diesem sitzend wähnen.“ Ich verzichtete auf getrüffelten Sellerieschaum und rosa gebratenen Hirschrücken und aß ein Leipziger Allerlei, für das ein gut bestückter Marktstand leer gekauft sein musste. Jedes Gemüse einzeln al dente gekocht und veganerfreundlich ohne Mehlschwitze. Was war hier wohl in DDR-Zeiten auf die Teller gekommen? Zur Toilette musste man am ‚Großen Keller‘ vorbei, in dem die Frommen in Heerscharen mit gesegneten Appetit einfache Speisen zu sich nahmen. Ich musste mich der sechsten Todsünde erwehren: des Neides.

      Eine Taxe kam so dicht wie möglich an Auerbach heran. Ich quälte mich durch die inzwischen schon recht ausge-lassenen Gottesanbeter zum Ende der Fußgängerzone: Behindertengerecht geht anders! Vor meinem Schlaganfall hätte ich das Fahrverbot noch viel weiter getrieben, weil Autos das Stadtbild noch viel hässlicher machen als schlecht angezogene Menschen.

      Silke und ich gingen in unsere schönen Zimmer, Rafał dorthin, wo ihm sein Smartphone anzeigte, dass er das finden würde, was er sich erträumte. Mein Neid war inzwischen wieder beherrschbar.

      Wissen macht nicht immer klug.23

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      Originale Bilder: ©Claudio Divizia/shutterstock.com, ©Gunraya Ums/shutterstock.com, Montage: ALEKS & SHANTU

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       MIT DEM TICK RAFFINESSE

      UMWEG #4

       DONNERSTAG, 26. MAI 2016

      Am frühen Morgen ging Silke in ihr Bad. Als sie es wieder verlassen wollte, bedachte sie nicht die drei Stufen, die den sanitären vom Schlafbereich trennten und stürzte abwärts. Ihr rechter Fuß war schlimm verstaucht und machte ihr zunehmend zu schaffen. Eine Stadtbesichtigung aus dem Autofenster war nicht nur durch den beruhigten Verkehr erschwert, sondern wegen der aufgebrachten Katholiken nahezu unmöglich.

      26Immerhin sahen wir jenseits der gläubigen Menge den Neubau der Paulinerkirche, der dem Original glaubwürdig nachempfunden ist. Die Kirche geht auf das 13. Jahrhundert zurück, wurde 1521 in ihrer Renaissance-Variante eingeweiht und am 30. Mai 1968 von der SED gesprengt, um einem Plattenbauklotz zu weichen. Wer Kulturbarbarei erleben will, braucht nicht zu den Taliban oder den IS-Terroristen zu reisen. Ideologie hat in Leipzig erreicht, was der Krieg nicht geschafft hatte: ein Manifest des Glaubens in Trümmern.

      Ich wollte gern die ausgedehnten Parkanlagen an der Pleiße sehen. Ein Stück des nach Entwürfen von Lenné angelegten Landschaftsgartens heißt nun wieder Johanna-Park. Zu DDR-Zeiten war das der ‚Zentrale Kulturpark Clara Zetkin‘. Es war auch hier nicht einfach, die Gegend im Wagen zu erkunden. Erst kam man nicht hin, dann nicht wieder weg, aber Rafał, der auch in dieser Beziehung nicht zimperlich ist, fuhr an einer eisernen Absperrung vorbei, haarscharf zwischen zwei Bäumen auf dem Gehweg hindurch und unbekümmert weiter durch Thüringen bis nach Franken. Die Polizei hat nichts gemerkt: Sie musste wohl Christen schützen.

      Nicht zum ersten Mal stiegen wir in Alexander Herrmanns ‚Posthotel‘ in Wirsberg ab. Der Gasthof des Sternekochs ist besonders zur Festspielzeit gut besucht, weil auf jede Götterdämme- rung ja ein Nachtgericht folgen muss, und schon Wagner zog die Crème ba- varoise der Götterspeise vor. Wir saßen auf der Terrasse und sahen abwechselnd auf den idyllischen Marktplatz und auf Silkes anschwellenden Knöchel. Der angedachte Ausflug nach Bayreuth unterblieb, was zumindest mein träges rechtes Bein freute. Silke und ich ruhten lesend und sinnend, Rafał erkundete wie immer die Gegend, und ob er dabei auf Waldwege, Barockkirchen oder Männer trifft, ist nicht besonders wichtig: Er ist allem gegenüber aufgeschlossen.

      Silke war einverstanden, das Abendessen nicht im gepriesenen Sterne-Restaurant einzunehmen, sondern sich mit dem ‚kleinen Bruder‘ zufriedenzugeben. Doch selbst da erwarteten Silke und ihre beiden Begleiter laut Eigenaussage: „Moderne Bistroküche mit AH-Effekt … Wer Alexander Herrmann abseits der Sternegastronomie erleben möchte, ist in ‚AH – Das Bistro‘ richtig. ‚As seen on TV‘ heißt das Motto. Hier erleben Sie die Seite von Alexander Herrmann, die man aus dem Fernsehen kennt. Unkomplizierte, nachvollziehbare Gerichte, immer mit dem Tick Raffinesse … Im ‚Fränkischen Tapas-Menü‘ kommt seine regionale 27Verwurzelung zum Vorschein – mit einer puristisch-modernen Version seiner Heimatküche in überraschender Form, à la Tapas … Saisonale Specials mit heimischen Produkten“, und ewig so weiter. Eine ‚Walhall-Lounge‘ gibt es auch für Wagner-Liebhaber, aber die sind wir ja nicht.

       KRÖTE, GAUL UND SUSHI

      UMWEG #5