Fast am Ziel. Hanno Rinke

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Название Fast am Ziel
Автор произведения Hanno Rinke
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783963114236



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an der Kehle der Sympathieträgerin und dem Weinglas ihres 66infamen Geliebten in der Wohnung seiner heimlichen Freundin oder Dealerin. Dann holt als Rückblende die Kommissarin ihren Sohn aus der Kita ab, falls der nicht gerade entführt worden ist. Gleichzeitig rauchen Bösewichter in schmucken Häusern immer noch Zigaretten, Verdächtige aus schlimmen Vierteln sind unschuldig, und der prominenteste Schauspieler ist die Täterin, was die Zuschauerin countdownhalber eher erfährt als der tapfere Ermittler, der, ohne wie befohlen auf die Kollegen zu warten, in das Haus der Toten prescht, obwohl ihm gestern die Pistole geklaut wurde. Das Grundstück liegt genau an der Stelle, an der Öl gefunden wurde, eine Hochhaussiedlung gebaut werden soll und die Autobahn von Washington nach Moskau geplant ist. Das kam aber erst ‚vier Tage vorher‘ raus und hatte zu gewissen Erbstreitigkeiten geführt.

      Also, so nicht. Ich erzähle der Reihe nach. Die Etrusker, die Völkerwanderung sowie Aufstieg und Fall Venedigs lasse ich hier einfach weg, so lehrreich dieser Abschnitt der Geschichte für diejenigen, die lernen wollen, auch sein mag. Was mich konservativ und alt macht, ist meine Vermutung, dass die meisten Menschen am Wissen nicht sonderlich interessiert sind. Die Strafe dafür kommt nicht immer, aber manchmal durchaus auf der Lohnabrechnung: niedrige Bildung – niedriger Verdienst. In Mitteleuropa ist das Bildungsangebot gegenüber Somalia ziemlich groß, und wer es nicht annimmt, verdient eben all das, was man für wenig Geld bekommt: schlechtes Essen, hässliche Kleidung, steriles Wohnen, billigen Urlaub und jede Menge religiöse Vertröstung auf später.

      „Das Elternhaus!“, höre ich die, die in allem das Gute sehen, schon sagen, „das Elternhaus!!“ – Meine Mutter ist als quasi uneheliches Kind bei einer verbitterten, missgünstigen Mutter aufgewachsen und hat sich bis zu meinem Vater durchgeschlagen, nicht durchgeschlafen, was mich auch nicht gestört hätte, aber ich bin prinzipienloser als sie. Wie kommt es, dass sie mir Beethoven und Mozart – auf Schallplatte – vorgespielt hat, dass sie mir Marc Twain und Orwell zu lesen gab, dass sie mit mir, als ich dreizehn war, in die Chagall-Ausstellung gegangen ist? Ihre Gene – meine Gene? Immer hatte ich diese Diskussion mit ihr: „Talent setzt sich durch“, sagte sie und meinte die Pompadour genauso wie Alice Schwarzer, und sie selbst war ja auch kein schlechtes Beispiel dafür, wie man sich mit keinem anderen Talent als dem sich durchzusetzen, durchsetzt. Mein Vater, Schulabbrecher mit geknicktem Selbstbewusstsein, hatte sich auch durchgesetzt. „Ich will nicht, 67wie die anderen, über die Geschäftsführung meckern“, hatte er schnell herausgefunden, „ich will dazugehören.“ Unsere Gene. Kein Mensch hat mir aus den Genen oder dem Milieu prophezeit, dass ich jahrelang Orchesterwerke schreiben würde, und wahrscheinlich wird sie auch kein Mensch je hören. Aber sie sind da, in Noten, auch wenn sie nicht erklingen werden. Was man unbedingt will, das macht man auch, und ist es eine Frage des Elternhauses, ob es sich dabei um einen Bestseller oder einen Bankraub handelt?

      „Mag ja sein, dass Talent sich durchsetzt“, antwortete ich damals meiner Mutter, „aber es geht nicht um Genies, die alles erreichen, sondern darum, dass die Mittelmäßigen, die nicht die Gabe haben, in den Olymp aufzusteigen, dass auch die gerecht behandelt werden.“ Meine Mutter sagte: „Ja, aber“ – so fing jeder ihrer Sätze an, und dieser Widerspruch bestimmt mein Leben, die Geschichte natürlich auch: Venedig wurde ein paarmal zwischen Frankreich und Österreich hin- und hergereicht und ging zum Schluss an das Königreich Italien.

      Die Gegend machte König Vittorio Emanuele II. aber wenig Freude. Er hatte sowieso Pech: Weil er schrecklich gern jagte, verbrachte er im Dezember 1877 eine Nacht im Unterstand. Die Folge: Lungenentzündung, Tod im Januar. Die Rehe freute es, die Italiener waren traurig.

      Sein Sohn Umberto ließ ihn in Rom im Pantheon beisetzen, das war irgendwie noch fescher als das traditionelle Grabgelege des Hauses Savoyen in der Basilika von Superga. Was soll der Quatsch, kann man fragen, aber da die Menschen nach wie vor auf solche Demonstrationen hereinfallen und alles glauben, was man ihnen leicht schluckbar serviert, war die Entscheidung wohl goldrichtig. Das Veneto jedenfalls war damals ziemlich runtergekommen, und wer Mut hatte, wanderte aus. Im Ersten Weltkrieg flog Österreich-Ungarn mehr als vierzig Luftangriffe gegen die Serenissima; zur Strafe existierte es anschließend nicht mehr: 1919 erhielt Italien das Trentino und Südtirol im Norden und im Osten Trient und Istrien zugesprochen. So kamen die drei Venezien zustande.

      Mussolini hatte viel vor mit Venedig: Es sollte neben Genua der bedeutendste Hafen in Italien werden. Autobrücke und Bahnhof wurden gebaut. Das Gebiet kam wirtschaftlich auf die Beine, Mussolini nicht. Er war Hitlers Verbündeter im Zweiten Weltkrieg gewesen, wurde von Antifaschisten 68kopfüber an einer Tanksäule aufgehängt und von Menschen, die vermutlich seine Gegner waren, ins tote Gesicht getreten. Das veranlasste Hitler wenige Tage später, sich zu erschießen. Er wolle nicht so enden wie Mussolini, sagte er zu Speer im Führerbunker in Berlin. Italien durfte Südtirol und das Trentino behalten, aber – Strafe musste wieder mal sein – der größte Teil Istriens ging an Jugoslawien, gleich hinter Triest war Schluss. Die Tito-Anhänger warfen die Italiener tiefe Karst-Höhlen (‚Foibe‘) herunter und ließen sie dort verrecken, das ‚Foibe-Massaker‘.

      Manchmal wurden auch zwei Menschen mit Stacheldraht aneinander gefesselt. Den einen erschossen die Partisanen, den anderen nicht, dann stießen sie beide in die Tiefe. Jugoslawien und Italien waren keine freundlichen Nachbarn. Inzwischen ist Jugoslawien untergegangen, Italien gibt es noch.

      69

       GREIF MARIA!

      UMWEG #16

      Wir befolgten die Anweisungen der Navigatorin und verließen die Autobahn. Von Zeit zu Zeit mache ich Rafał darauf aufmerksam, dass er ihre Stimme durch eine männliche ersetzen will, aber er hat in der Gebrauchsanweisung immer noch nicht den Trick gefunden, wie das geht. Meine wiederholte Nachfrage hat damit zu tun, dass unsere Verwünschungen, wenn wir uns fehlinformiert fühlen, einfach zu frauenfeindlich klingen, und da könnte sich Silke hinten düpiert vorkommen. Ansonsten macht es großen Spaß, die stoische weibliche Stimme anzuschreien, und erleichtern tut es auch. Ein paar Minuten hinter der Abfahrt war es wieder so weit. Wir wurden eine enge, gewundene, abschüssige Gasse hinabgeschickt. Wäre uns ein Auto entgegengekommen, wir hätten nur aus dem Wagen springen und uns an den Felsen klammern können. Noch wussten wir ja nicht, dass uns solche Mutproben ab jetzt täglich bevorstanden. Während Rafał sich auf das Nächstliegende konzentrieren musste, schweiften meine Gedanken ab ins Erwartungsfrohe: Was für ein zauberhaftes Hotel würde das sein, das hier am steilen Hang lag, was für eine Umgebung, was für eine Aussicht!

      Ursprünglich hatte ich uns ja im ‚Duca D’Aosta‘ schlafen gesehen. Schon, um Silke eine Freude zu machen. Sie ist nicht nur über Politiker und Sportler, sondern auch über Adlige wesentlich informierter als ich, weshalb ihr die Herzoge von Aosta gewiss geläufiger sind als mir. Für alle weniger Eingeweihte nur so viel:

      Am 27. November 1927 heiratete Amadeus d’Aosta seine Cousine Anne Hélène Marie von Orléans. Das erlauchte Paar bekam zwei Töchter, nämlich Margherita Isabella Maria Vittoria Emanuela Elena Gennara, die Robert Karl Ludwig von Österreich (Sohn des letzten österreichischen Kaisers Karl I. und dessen Ehefrau, Kaiserin Zita) ehelichte und Maria Cristina Giusta Elena Giovanna, die Kasimir von Bourbon-Beider-Sizilien, einem Sohn von Gabriel Maria von Bourbon, das Jawort gab. Margheritas ältester Sohn, Lorenz von Österreich-Este, ist verheiratet mit Prinzessin Astrid von Belgien. 70Margheritas Nachkommen gehören also dem belgischen Königshaus an, was sie womöglich sogar in Luxemburg kreditwürdig macht.

      Trotz Silkes völliger Vertrautheit mit derartigen Familienverhältnissen mochte ihr das Reservierungspersonal im Grandhotel ‚Duca D’Aosta‘ keine Zimmer gewähren, weil alle Gemächer von Kongressteilnehmern belegt waren, die offenbar über ein großzügigeres Budget verfügten als die Katholiken in Leipzig. So hatte Silke – pikiert, aber nicht entmutigt – das ‚Hotel Greif Maria Theresia‘ ausfindig gemacht, das sehr nach Triests imperial-österreichischer Vergangenheit klang und mit Meerblick-Balkonen prahlte.

      Meine Erwartungen wurden zunächst dadurch enttäuscht, dass unsere atemberaubende Gasse unten in eine breite, vierspurige Hauptstraße mündete, die man mit viel gutem Willen