Fast am Ziel. Hanno Rinke

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Название Fast am Ziel
Автор произведения Hanno Rinke
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783963114236



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sich auf eine andere Sprache konzentrieren zu müssen, doch auch den Gemütszustand verändert.

      Giuseppe sauste über die nächt-liche Landstraße zu dem winzigen Ort, in dem sein Haus steht, ich mit Bill hinterher. Was für ein Spielverderber war ich gewesen, an Strick und Schlaftabletten zu denken! Man kann seinen Körper doch viel lustiger zerstören: so nämlich, dass er oder es vorher richtig Spaß macht. ‚Gefährlichleben‘ holt ja noch mal viel mehr raus aus dieser Zeitspanne des Menschseins als gefahrlos zu sterben. Giuseppe überholte; ich überholte, der Wein bestimmte meine Fahrweise, und meine Fahrweise berauschte mich mehr als der Wein. Ich will nie wieder etwas Vernünftiges tun, 75nie wieder etwas, das Sinn macht. Ich will nichts als Wahnsinn. Nie mehr normal. Nachdem mir das Schicksal genommen hat, was mich bändigte und in Zaum hielt, will ich nur noch gegen den Strich leben.

      Na ja, na ja. Zunächst mal beschränkte sich meine Raserei darauf, auf einem Ausflug nach Triest Miesmuscheln als Vorspeise zu essen, ohne mich vor Hepatitis zu fürchten, und anschließend die beiden anderen dazu zu überreden, einen Abstecher nach Jugoslawien zu machen. Der gefahrlosen Gefahr habe ich noch nie widerstehen können, und so war ein kleiner Ausflug in das behütete Slowenien gerade das Richtige, um sich vorzumachen, an Krisenherden wie Kroatien und Albanien zu naschen.

      Bill (beide 1984)

      Wir hatten uns Triest angesehen, eher flüchtig, das Schloss am Meer hatten wir kennerisch begutachtet, wir waren weitergefahren nach Florenz, und ich weiß genau, dass ich immer noch todunglücklich war und wir die ganze Zeit über rumgekichert haben wie vierzehnjährige Mädchen, nicht wie vierzigjährige Männer. Auf der Fahrt von Padua nach Bologna hatten wir über Scamorza gesprochen. Diesen geräucherten Käse 76kann ich nicht leiden und behauptete, den Kühen würde auf der Weide das Euter angezündet, um den Rauchgeschmack der Milch von Anfang an zu gewährleisten.

      Von Jesolo aus war ich sechs Jahre später nochmal in Triest gewesen, mit meinen Eltern. Kein Mensch, der Geschmack hat, geht nach Jesolo, sagen Menschen, die finden, dass sie Geschmack hätten. Aber das Hotel in Jesolo hatte einen Garten, dessen Rasen direkt in den feinen Sandstrand überging. Wo hat man das schon? Meist liegt eine Autostraße dazwischen, selbst im Grandhotel in Rimini und im ‚Carlton‘ in Cannes ist das so. Wenn man Glück hat, gibt es eine Unterführung zum Strand, damit man sich nicht in Flipflops zwischen den Straßenkreuzern durchzwängen muss, wenn man großes Glück hat, sind einem die Zimmerpreise dort egal, und wenn man ganz großes Glück hat, ist man zufrieden auf dem Campingplatz und beneidet nicht die, die keine Jacht haben und deshalb im Hotel schlafen müssen.

      1997 sahen wir uns Triest als Tagesausflug von Jesolo aus auch nicht gründlicher an, aber wir fuhren zum selben Lokal, in dem mir schon vor sechs Jahren die Miesmuscheln keinen Schaden zugefügt hatten. Dafür, dass ich es wiederfand, bewunderte ich mich sehr, denn es lag ziemlich versteckt an einem kleinen Kanal, war ganz schlicht eingerichtet, und die Terrasse grenzte an die Kaimauer.

      Wir waren spät, die letzten Mittagsgäste, doch eine träge Gelassenheit in der Luft oder vom Wasser her verhinderte, dass wir uns gedrängt fühlten. Das Essen war wieder so unkompliziert gut, wie ich es in Erinnerung hatte, und der Blick über die Bucht war für die Augen so anregend wie die ‚pappardelle con salsiccia e funghi‘ für den Gaumen.

      Aus der Ferne sehen große Häfen oft eindrucksvoller aus als aus der Nähe: die Schiffe, die Kräne, die Bauten am Meer, dahinter die Häuser, die an den Berghängen emporzuklettern scheinen. Von Nahem wirkt das alles eher verrottet. Beim Filmen habe ich immer auf Großaufnahmen geachtet, was damals wegen der schwierigen Bestimmung der Brennweite leicht zu Ausschuss führte. Aber Weitwinkel kann keine Atmo- sphäre einfangen. Nähe ist schwierig. Manchmal bin ich ihr nicht gewachsen.

      Wir fuhren damals auch wieder über die Grenze nach Koper, das schon sehr viel rausgeputzter wirkte als sechs Jahre zuvor, und mit etwas langweiligem Schlangestehen am Übergang durchs 77Inland zurück nach Italien, gleich bis ins Veneto.

      Den Namen des Lokals von damals und den des Ortes hatte ich jetzt rausbekommen. Mit genügend Gegoogel geht das schon. Ein Mittagessen dort hätte meiner Erinnerungsseligkeit gutgetan. Ursprünglich hatte ich ja für den Vormittag einen Besuch im Schloss ‚Duino‘ geplant. Dann war mir aber eingefallen, dass wir mit Giuseppe und Bill ziemlich weit weg vom Schloss hatten parken müssen, und diese Strecke zu laufen, traute ich mir nicht mehr zu. Noch mehr hatte mich verunsichert, dass mich Giuseppe im Rahmen meiner Geburtstagsfeierlichkeiten darauf aufmerksam gemacht hatte: War ja gar nicht ‚Duino‘! Das war ‚Miramare‘ gewesen. Also hatte ich gleich in der Nacht in Triest den Ausflug gestrichen – im Bett geht sowas ja leicht – und wollte nun lieber zum Mittag wieder nach Muggia in die Trattoria ‚Risorta‘. Das ging nicht. An der Rezeption fand man heraus, dass sie geschlossen ist, nicht wegen des Sonntages, sondern überhaupt. Derar- tige Schicksalsschläge gilt es zu ertragen und wendig zu bleiben. Also los!

       BRUST ODER FLASCHE

      UMWEG #18

      Zunächst mal musste ich ‚alter Hase‘ den beiden Neulingen ja Triest zeigen. Triest ist das Österreichischste, was Italien außerhalb Südtirols zu bieten hat, so viel wusste ich noch, viel mehr auch nicht. Die Häuser sind überwiegend vierstöckig, Ende neunzehntes Jahrhundert, ein bisschen wie Prag, etwas abgeblätterter, aber im Zentrum ist es schön unübersichtlich, ein wirbeliges Durcheinander von Gassen und Menschen. Das ‚Duca D’Aosta‘ war in dem Gewirr nicht auszumachen. War wohl doch nicht so pompös. Parken wie üblich unmöglich. Aber ich fand, Silke und Rafał mussten sich die Stadt erlaufen, anders kenne ich es nicht.

      78An einem kleinen Platz war Markt. Davor ein freier Behinderten-Parkplatz. Rafał breitete die farbig fotokopierte Vergrößerung meines Behindertenausweises vor der Windschutzscheibe aus, und ich konnte mir nicht vorstellen, dass ein Polizist in der Venezia Giulia dem Dokument ansah, dass ich damit in Hamburg verbilligt Bus fahren darf. Die Brücke vor dem Markt, also unserem Parkplatz, führte über einen Kanal, der wenig später ins Meer mündete, aber vorher straßauf rechts und straßab links dekorative Häuserzeilen zu bieten hatte. Rechts, direkt am Wasser, lagen einige Cafés, und gleich das erste war das hübscheste. Dahin gingen wir. Silke und Rafał tranken Espresso, ich bat um ein – wenigstens sprudelndes – Mineralwasser, weil ich mich um elf Uhr vor mir selbst nicht traute, schon einen Campari zu bestellen. Dann machten sich Silke und Rafał auf den Weg, ich blieb sitzen. Ein bisschen ärgerte ich mich, dass ich nichts zu lesen dabei hatte. Aber war es nicht sowieso schöner, hier am Samstagvormittag beschaulich zu sitzen und den Menschen bei ihrem Treiben zuzuschauen? Nein. Die Vietnamesin brachte mir ein zweites Mineralwasser, und es störte mich, dass sie Vietnamesin war. Ihr Italienisch war fließender als meins, aber es passte nicht. In Alaska würde ich mir auch keinen Seehundspeck von einer Thüringerin servieren lassen.

      Jenseits des Kanals sah ich Silke und Rafał vorbeigehen. Sie sahen nicht in meine Richtung. Wussten sie gar nicht mehr, dass ich hier saß? Es beruhigte mich, dass ich das Auto im Blick hatte. Ohne mich konnten sie nicht abfahren. Vielleicht hatten sie sich verlaufen und fanden nicht mehr zurück. Eine Stunde würden sie mindestens unterwegs sein. Aber nach einer halben Stunde wurde ich unruhig. Verlassen werden. Ich kann diese Angst nicht loswerden. Mir fallen immer zu viele Gründe ein, warum man mich würde verlassen wollen. Als ich ein Jahr alt war und mein Vater im Gefängnis, gab mich Irene, die noch nicht mit Guntram verheiratet war, zu ihrer erhofften Schwiegermutter nach Schmalkalden, wo sie es sich hübscher für mich vorstellte als im ausgehungerten Berlin. Meine Großmutter konnte Kinder zwar nicht leiden, aber der Bahnwärter hatte vier davon, da kam es auf eins mehr wohl auch nicht an.

      Die Mutterbrust hatte ich sowieso verweigert, war also einfach über Flasche zu ernähren (bis heute). So ganz klappte das wohl doch nicht, denn aus dem Bahnwärterhäuschen kamen Hilfeschreie, man möge die Pflegeeltern von diesem Schreihals befreien. Meine Mutter reiste an, um mich zu entsorgen, aber dann hieß es, nun sei ich ruhiger 79geworden. Ich gehe davon aus, dass Guntram auch aus der Haft