Fast am Ziel. Hanno Rinke

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Название Fast am Ziel
Автор произведения Hanno Rinke
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783963114236



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Muglae gründeten. Doch nichts hält ewig: Nach dem Ende des Weströmischen Reichs kam Muggia unter die Herrschaft der Goten, später der Langobarden, der Avaren und der Franken. 931 wurde Muggia von den Königen Italiens dem Patriarchat Aquileia übergeben. 1420 kam die Stadt unter die Herrschaft der Republik Venedig. Nach Napoleons Niederlage ging ja, wie besprochen, alles in der Gegend an Österreich, was gar nicht so schlecht war. In Muggia entwickelte sich eine prosperierende Werftindustrie, die größte Schiffswerft der K.-u.-k.-Monarchie, die bis 1912 als Einzige in der Lage war, die größten Schlachtschiffe zu bauen.

      Wie es mit Österreich weiterging, wissen wir ja schon, und Muggia bekam seine Lage unmittelbar am Eisernen Vorhang auch nicht gut. Aber jetzt, wo es wieder so mitten in Europa liegt wie der Leipziger Platz in Berlin – wieso macht da das ‚Risorta‘ zu: ‚dauerhaft‘, wie man mit WLAN-Anschluss hätte erfahren können. Familienstreitigkeiten wahrscheinlich: Die Mutter war am Herd tot zusammengebrochen, den kellnernden Sohn drängte es an die Töpfe, aber sein einkaufender Bruder wollte nicht bedienen, oder so, jedenfalls fuhren wir weiter, die Küste entlang, und wenig später erreichten wir Slowenien: Ein blaues Schild mit zwölf gelben Sternen – das war’s.

      All diejenigen, die so jung sind, dass sie die europäischen Grenzkontrollen nicht mehr miterlebt haben, können sich kaum noch vorstellen, wie mühsam es früher war, von einem Land zum anderen zu reisen, und denjenigen, die es erlebt haben und die durch ihr politisches Verhalten diese Errungenschaft aufs Spiel setzen, denen ist es egal: Sie bleiben sowieso da, wo sie hingehören – in ihrem Reihenhäuschen; und wenn sie doch all-inclusive an den bulgarischen Goldstrand fliegen, sind sie Zollkontrollen gewohnt und verstecken den Schnaps in der vollgesudelten Unterwäsche. Sigmar Gabriel nennt sie ‚Pack‘, was nicht besonders sozialdemokratisch klingt. Gern würde ich, der wohl kein Sozialdemokrat ist, glauben, dass die Menschen immer besser werden. Schade bloß, dass gerade dort so viele nachwachsen, wo ich die Moralvorstellungen von der Beschneidung bis zur Steinigung nicht teile.

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       DER ISTRISCHE KOPF

      UMWEG #19

      Wir waren uns einig, dass es in Slowenien anders aussah als in Italien. Die Berge? Die Häuser? Vielleicht lag es nur an den unleserlichen Schildern. Doch gleich an der Peripherie des ersten Ortes grüßten die vertrauten Supermärkte, riesig, und Unmengen von neuen Autos, zum Verladen bereit. Massenkonsum, Globalisierung, Standortvorteil. Die Welt 2016. ‚Koper‘, Giuseppe hatte es italienisch ‚Capodistria‘ genannt: das Haupt Istriens.

      Wir kreisten rund herum um den Kopf, sahen ihn vom Gebirge und von der Uferpromenade aus und spähten hinein in die Altstadt, die ich mit meinen fußrüstigen Eltern noch problemlos hatte durchfahren können. Also, näher als Rafał illegal parkte, nachdem wir mehrere Verbotsschilder missachtet hatten, ging es wirklich nicht. Wir waren fast am Rathaus, gleich bei der Basilika, und ein nahezu mondänes Café oberhalb herrschaftlicher Stufen gab es auch. Ungefähr zwölf Tische, nur drei besetzt. Silke und Rafał tranken mir zur Gesellschaft einen ‚Cappuccino in Capodistria‘ und ließen mich wie zuvor besprochen an meinem Negroni zurück, um den Ort zu erkunden. Wenn alle Invaliden vor jedem Portal aussteigen könnten, wenn alle Obdachlosen jede Grandhotel-Terrasse besuchen dürften – wäre die Welt dann besser?

      Der Platz sah sehr venezianisch aus und ziemlich ehrwürdig. Er war so schön geräuscharm. Autolosigkeit bekommt den Orten. Der Himmel hatte dieses makellose Blau und die Gebäude dieses irdene Weiß – es war so friedlich. Ohne die paar wenigen Menschen wäre es zu leer gewesen. Die Glocken im Campanile läuteten vor sich hin, halb eins; dabei wusste sowieso jeder, wie spät es war. Das Smartphone hat die Armbanduhr ersetzt, die Bilder herrschen über die Worte.

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       RÜCKBLENDEN UND LACHNUMMERN

      UMWEG #20

      Zwischen 1975 und 1990 habe ich meine Jahresfilme gedreht. Ich habe gelebt, um zu filmen und gefilmt, um zu leben. Jetzt, 2016, hält man einfach sein Handy in die Luft. Damals musste man sich jede Einstellung genau überlegen. Filmen war teuer, und die traurige Kapitalisten-Erkenntnis ist: Was nichts kostet, ist nichts wert. Dafür war dann der fertig geschnittene Film eine Kostbarkeit, für mich jedenfalls. Der Film ist besser geeignet, eine Reise zu beschreiben, als ein Text es ist; man kann ihm zusätzlich die passenden Geräusche und die passende Musik unterlegen.

      Als ich noch in der Grundschule war, hatte ich den Ruf, lustige Geschichten zu erzählen, und bevor ich vor der Klasse ein Ferienerlebnis zum Besten gab, bekam ich wohltuenden Applaus als Vorschusslorbeeren. Meine Eltern waren gerade aus Meran zurückgekommen und erinnerten sich, wie sich während eines Mittagessens der Himmel verfinsterte und es zu krachen und zu blitzen begann. Mein Vater sprach den Hoteldirektor an, der gemächlich die Reihen der Speisenden durchschritt: „Geht jetzt die Welt unter?“, fragte Guntram fröhlich-ängstlich. Ich verkündete die Antwort vor der Klasse: „Ach, das ist nur ein kleines Gewitterle.“ Keiner lachte. Keiner fand es komisch. Dass ich mich an diese unerhebliche Episode bis heute erinnere, hat etwas damit zu tun, dass ich mir damals vornahm, nie mehr eine Geschichte ohne ‚Pointe‘ zu erzählen, obwohl ich dieses Wort wahrscheinlich noch gar nicht kannte. Ich hasse Geschichten, die in kein schlüssiges Ergebnis münden. Gemeinerweise trifft das auf das meiste zu, was Menschen so von sich geben: Sätze wie Kotze. Wenn man fremden Unterhaltungen zuhört, ist es ganz leicht, an der Menschheit zu verzweifeln. Nichts als akustischer Sperrmüll. Aber bornierte Belehrungen sind auch nicht besser. Lieber will ich kunstreich belogen werden, als mich von Wahrheiten langweilen zu lassen, an denen ich nichts ändern kann.

      Als ich noch jung war, Anfang zwanzig, eine Zeit also, in der man die Möglichkeiten der eigenen Einflussnahme zu überschätzen pflegt, hatte ich mich, wie mein Vater ja bereits dreißig 86Jahre vor mir, mehr um mein eigenes Vorwärtskommen geschert als um das der Menschheit, die mir inzwischen weitgehend recht gibt und sich über die sturen Eiferer von damals lustig macht. Ja, immer war ich lieber lustig als eifrig; darin habe ich meinen Vater übertroffen, der viel Sinn für Komik hatte, aber großen Eifer brauchte, um aus dem altmodischen Offiziershaushalt seiner Eltern in seine eigene Familie hineinzuwachsen, mit einer anpassungswilligen Frau und einem schwierigen Sohn. Meinen Mangel an politischem Engagement kann ich also sowohl genetisch wie mit Milieuschädigung begründen. Mehr können Historiker nicht verlangen. Weltverbesserer eigentlich auch nicht. Und um wie die Dubarry unter die Guillotine zu geraten, bin ich mit 70 eigentlich zu alt (sie war 50). Aber wenn doch, dann will ich nicht geköpft werden, sondern allenfalls enthauptet. Etikette sind mehr noch als Geld der Kitt im Mauerwerk der Gebildeten. Man schweigt, man spricht.

      Seit ich denken kann, liebe ich Witze. Irene verabscheute Witze, noch mehr Witze-Erzähler. Das verstehe ich: Meistens sind sie humorlos und haben kein bisschen Sinn für Situationskomik. Wenn man sich nicht über ihren Witz, dessen Pointe schon nach dem zweiten Satz klar ist, das Zäpfchen aus dem Gesicht lacht, fragen sie womöglich noch: „Ach, Sie haben wohl keinen Humor?“

      Lieber lese ich deshalb Witze und habe ‚Witze‘ sogar als Lesezeichen gespeichert. Da gefallen mir dann die unsympathischsten Sachen, die ich ungern erzählt bekäme wie: „Ich weiß gar nicht, welches Kind meine Frau meint, das ich angeblich unfair behandle? Thomas, Anton oder das fette hässliche?“

      Ich war Einzelkind, darum finde ich das vielleicht lustig. Es ist boshaft und betrifft mich nicht. Das meiste, was Menschen so daherreden, kann man als Palaver bezeichnen. Ich will meinen Frieden damit machen und die Gesamtheit all meiner Texte über das Unterwegssein von Mai bis Oktober 2016 einsichtig als ‚Palaver‘ bezeichnen, ein etwas netteres Wort für ‚Geschwätz‘. Das ist nicht kokett gemeint, sondern demütig, und das nicht ironisch, sondern aufrichtig.

      Ein Palaver dient dazu, einander kennenzulernen und abzuschätzen, bevor man zur Sache kommt. In einigen Kulturen ist das Palaver als überflüssig verpönt, in anderen unerlässlich, was mir viel mehr einleuchtet. Wie jemand auf die Mitteilung „Gestern Mittag hat es aber ziemlich geregnet“ reagiert, 87ist doch hochinteressant und gibt viel Aufschluss über die Persönlichkeit des Gesprächspartners, also darüber, wie