Fast am Ziel. Hanno Rinke

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Название Fast am Ziel
Автор произведения Hanno Rinke
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783963114236



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sollte uns zum Schloss ‚Duino‘ lenken. Das 92war ja nun kein Kinderspiel für sie, aber immerhin wusste sie, dass wir erst mal den Berg rauf mussten und oben an der Steilküste entlang. Auch für Silke und Rafał war der lässige Straßenbummel vorbei: ‚Duino‘, das ist Geschichte, nicht gleich Cäsar, Napoleon und Hitler, aber immerhin: ‚Duino‘ gehört Prince Carlo della Torre e Tasso, (in Deutschland sagt man dazu Thurn und Taxis), Duca di Duino. Wer will, kann, wenn der Duca es erlaubt, den Flügel, auf dem Franz Liszt musiziert hat, zwar nicht bespielen, aber betrachten. Wer war noch da? Kaiserin Sisi und Kaiser Franz Josef I., Erzherzog Maximilian mit Charlotte, Eleonora Duse, Johann Strauss, Gabriele D’Annunzio, Paul Valéry, Mark Twain, Victor Hugo und Erzherzog Franz Ferdinand von Österreich-Este. ‚Neue Welt‘-Leserinnen wird ganz schwindelig von sowas, doch auch die Navidame wollte uns gerade eben noch die Ortschaft Duino zeigen, aber mehr auch nicht. Ein verschämtes Schild wies uns dann doch den Weg.

      Außer uns waren nur ein Mann und eine Frau da. Ein unbefahrbarer Kopfsteinpflasterweg führte zu einem versperrten Tor, hinter dem das alte Gemäuer vor sich hinsiechte. Bis 1399 war die Herrschaft Duino Lehen und die dort an der Küste gelegene gleichnamige Burg Stammsitz der Herren von Duino. Um diesen alten Klotz ging es aber nicht. Das den Füßen und selbst den Blicken nahezu verschlossene Schloss lag eine Ecke weiter, und wenn man zu einer besucherfreundlicheren Zeit dort ankommt, sieht man nicht nur Liszts Klavier, sondern auch die Bucht von Sistiana und den Golf von Triest von oben. Die größte Berühmtheit genießt dieses Schloss innerhalb der riesigen Gemeinde der Lyrik-Freaks aber deshalb, weil Rainer Maria Rilke dort seine ,Duineser Elegien‘ zu schreiben begann. Die zehn Elegien beschreiben wenige glückliche Augenblicke und beklagen die Unvollkommenheit menschlichen Bewusstseins. Irene war von ihnen so beeindruckt, dass dieser Insel-Band das erste Geschenk war, das sie meinem zukünftigen Vater machte.

      Rinke war aber wohl nicht so hin und weg von Rilke; jedenfalls erinnerte sich meine Mutter später, als auch ich begonnen hatte, Gedichte zu verfassen und vorzutragen, mehr einsichtig als enttäuscht: „Ihn hat es wohl nicht so beeindruckt.“ Sie hatte ja inzwischen auch dreißig Jahre Zeit gehabt, sich daran zu gewöhnen, dass Rinke mit Rilke nicht so viel anfangen konnte. Pali hingegen hat es meinen Eltern nie verziehen, dass sie mich nicht ‚Hanno Maria‘ genannt haben. Seinen vorübergehenden Katholizismus hatte er längst abgestreift, aber sein Faible für Klangmalerei blieb 93ihm bis zum Tod erhalten. Meine Großmutter Maria, selbstgerecht und gottesfürchtig, hätte diesen Mittelnamen geliebt an mir, ich hätte es schrecklich manieriert gefunden und das ‚Maria‘ in meinen Visitenkarten weggelassen.

      Hanno (1966)

      Trotzdem. Wer will, kann jetzt den letzten Teil meines Poems über die vier Jahreszeiten von 1965 lesen:

       Doch dann der Winter – trockene Askese, glitzernde Eiskristalle schärfer als Verstand; ein Insichdringen, Rückzug in den Geist, der Rechenschaft verlangt. Die eigne Form, die eigne Kraft der Bilder, sie muss sich neu entdecken, meditieren.

       Durchsichtig ist der Frost, Schnee hüllt das Fenster. Dahinter ist es still, denn dort entsteht das Neue, das bestehen muss. Die tiefe Einkehr baut sich ihr Gerüst, um das Gedanken und Gefühle ranken werden. Gehalt wird jetzt geprägt, der nüchtern wirkte, 94gäb ihm nicht jeder Monat seine Eigenart; durchwandern muss in wechselnder Beleuchtung der Sinn die ihm gegeb’nen Möglichkeiten, stets neu verhüllt, doch nie verborgen, liegt hier der wahre Schöpfungsakt.

       Auch ich bin wie das Jahr, erprobe ständig, durchglüht von aller Zeit und jedem Wissen, das einmal nur sich mir erschlossen hat.

       Oft bin ich einsam, häufig in der Menge; ich scheine abgetrieben, doch ich treibe niemals weit – so soll es bleiben, lebenslange Suche, ich bin zufrieden mit der Ungenügsamkeit!

      Noch nicht wirklich ich, aber auch nicht mehr ganz Rilke. – Das war nun aber genug Kultur.

       KRIEGSFRIEDEN

      UMWEG #23

      Wir versuchten, was wir konnten, aber diesen Schlossblick von der Bucht in den Sonnenuntergang, den erwischten wir einfach nicht. Wir kamen weder mit den Beinen noch mit den Rädern dicht genug an den Abhang, um runterzugucken. Aufgeben, wenn es um nichts geht, ist mir fremd. Rafał, so gutmütig wie abenteuerlustig, folgte meinem Vorschlag, die Klippe einen schmalen Weg herunterzufahren, der nichts als ‚Beach‘ versprach, was hier üblicherweise bedeutet, dass man dafür zahlen muss, auf Felsen liegen zu dürfen. Ein paar späte Sonnenselige kamen uns in ihren Autos entgegen. Unten war es leer: Diese Leere, die vorher schon im Trubel zu spüren ist, die sich aber erst mit dem Abziehen der letzten ‚Juxer‘ über das Land breitet und die die Wellen einzuebnen scheint. Alles wird flach. Wir stiegen aus. Ein Stück weiter sah ich etwas, das ich mir 95als Lösung unseres Wohin-Problems vor- stellen konnte. Rafał fuhr weiter über Sand und auf den Parkplatz. Von Nahem sah das Gebilde aus Räumen und Terrassen einladend aus, und das Personal so, als sei es anspruchsvolle Kundschaft gewohnt. „Wir wollen nur etwas trinken“, wehrte ich in meinem schnöseligsten Italienisch ab, aber jemand, der mir auch einen Smoking oder seinen Liebhaber verkauft hätte, führte uns verbindlich lächelnd an den Essmöglichkeiten vorbei auf eine Terrasse mit Strandbar ohne Strand und wenigen Gästen mit Gläsern.

      Wir setzten uns dicht ans Meer, die Sonne war weg, und ich fand es etwas kühl. Silke trinkt dann meist Mineralwasser ‚con gas‘ und wenn möglich mit einer Scheibe Zitrone, manchmal gibt es sogar Sanbitter, das erinnert von Ferne an Campari ohne Alkohol; Rafał bestellt im Allgemeinen Aperol Spritz, besonders, wenn er wieder ans Steuer muss, und ich bleibe bei Negroni. So wie vorhin an der Badebucht gerade alles vorbei war, so hatte hier noch nichts angefangen. Die schwarzweiß angezogenen jungen Männer und Frauen, die später der Kundschaft gefallen sollten, lehnten noch lässig an der Theke. Schwarz- weiß war auch die ganze Einrichtung mit den tiefen Tischen und hochlehnigen Sesseln. Alles war wunderbar künstlich und gestylt. Nichts erinnerte an irgendetwas Lebendiges, es war die Kulisse für das Manifest von Unvergänglichkeit der Materie: Sterben ist unmöglich, alles wird zu Pulver und aus Pulver neu gemacht. Die Sonne war weg, die Gläser leer, wir gingen.

      Form besteht aus Wiederholung, als wörtliches Zitat oder als Abwandlung des Ursprünglichen. Wir wählten den einfachsten Weg und fuhren zum Obelisken. Wer zwei Abende hintereinander ins selbe Lokal geht, der ist doch Stammgast, nicht? Der Wirt fragte: „Avete riservato?“ Da ich sonst ja eigentlich immer reserviere, fühlte ich mich ertappt, als hätte ich die Pasta-Zange in die Tasche gesteckt. „No“, antwortete ich schuldbewusst. Wir bekamen aber trotzdem einen Tisch, in der zweiten Reihe. Es war voller als gestern. Die Gruppe direkt vor uns beherrschte die Szene. Alle waren hübsch angezogen. Eine höchst aufgeräumte junge Frau versuchte, die ganze Gesellschaft zu belustigen, dreizehn, ohne sie. Sie ging herum und hielt dabei Plädoyers wie im Gerichtssaal. Einige lachten an einigen Stellen, andere schienen durchgehend das Einschlafen zu vermeiden. Offenbar sprach sie über jeden von ihnen, nicht unfreundlich, aber auch nicht sehr inspiriert, eher engagiert. Vielleicht war es unterhaltsamer, den Auftritt vom Nebentisch aus zu beobachten als 96dabeizusitzen. Das wäre mir früher nicht passiert: lieber zu beobachten als teilzunehmen. Warten statt machen. Eigentlich stand ich nie auf der Bühne, immer saß ich im Parkett. Ein schaler Gedanke. Der Averna schmecke wie Hustensaft. Ich trinke ihn ohne Eis, nicht, weil es gesünder ist, sondern, weil es intensiver schmeckt, heute nach Hustensaft.