Название | Leben ohne Maske |
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Автор произведения | Knut Wagner |
Жанр | Биографии и Мемуары |
Серия | |
Издательство | Биографии и Мемуары |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783957163080 |
Die Mitglieder der Studentenbühne waren vom Ernteeinsatz befreit, und so hatten sie bis Mitte Oktober Zeit, sechs Wochen lang ungestört zu proben.
Schneller als gedacht waren die Leseproben zu Arbusows „Der weite Weg“ abgeschlossen, und Wolfgang konnte mit dem Proben der einzelnen Szenen beginnen, die er bereits umgeschrieben hatte. Aber mit der Euphorie des Probens war es vorbei, als die Stadträtin für Kultur Wolfgang brieflich mitteilte, es sei nicht mehr daran gedacht, die Studiobühne zu den Arbeiterfestspielen zu delegieren. Am Telefon sagte sie ihm, die Kommission, die die Studentenbühne für die Arbeiterfestspiele vorgeschlagen habe, sei zu dem Schluss gekommen, dass Arbusows Stück nur geringe Erfolgsaussichten habe.
Mit dieser Hiobsbotschaft hatte niemand gerechnet. Aber alle Beteiligten waren Wolfgangs Meinung: „Es wird nicht weiter probiert. Wir setzen das Stück ab.“
5. Kapitel
Kurz vor Weihnachten nahm Hetzel Wolfgang beiseite und sagte ihm, dass er unbedingt eine öffentliche Erklärung abgeben müsse, warum „Der weite Weg“ von Arbusow abgesetzt worden sei. Auf der Fachschaftsversammlung Anfang Januar sei dafür die beste Gelegenheit, meinte Hetzel und drückte Wolfgang eine Rede aufs Auge, die gewissenhaft vorbereitet sein wollte. Denn das Absetzen eines sowjetischen Stücks stellte zu dieser Zeit ein Politikum dar. Als ihm dann noch die Kluin (sprich: Tamara) eröffnete, über die Weihnachtsfeiertage müssten 30 Seiten Russisch übersetzt werden, sonst gäbe es die Teilnahmebestätigung für den Russisch-Kurs nicht, drehte Wolfgang durch. Alles schien ihm über den Kopf zu wachsen. Es sei eine Schikane, über die Weihnachtsfeiertage eine solche Aufgabe aufzugeben, schrie er. „Wer mich sprechen will, findet mich in Alt-Jena“, brüllte er und verließ den Raum.
Nach Wolfgangs Auftritt, der die Russisch-Tante mächtig erbost hatte, kam Wachsmuth ins „Alt-Jena“, setzte sich an Wolfgangs Tisch und sagte: „Saufen ist keine Lösung.“
„Ich werde die Scheiße nicht mitmachen, und wenn ich geext werde“, sagte Wolfgang.
Wachsmuth versuchte, ihn zu beruhigen. Er habe da zwei Slawistinnen an der Hand, die ihnen die 30 Seiten bis nach den Weihnachtsfeiertagen übersetzen würden, sagte er.
„Meinst du, die machen das für uns?“
„Auf jeden Fall“, sagte Wachsmuth. „Von Tamara lassen wir uns doch das Leben nicht vermiesen“, und er bestellte zwei doppelte Wodka.
In der Fachschaftsversammlung des Germanistischen Instituts waren die organisatorischen Fragen, die das Frühjahrssemester betrafen, schnell geklärt und so nahm sich Hetzel als FDJ-Hochschulsekretär das Recht heraus, eine Stunde lang über das Thema „Klassenstolz und Nationalbewusstsein“ zu referieren.
„Junge Leute sprechen nicht gerne über ihre Gefühle“, konstatierte Hetzel. „Aber als wir kürzlich mit der Studentenbühne in Berlin waren, kamen zwei unserer Leute mit Westberlinern ins Gespräch, und am nächsten Tag sprachen sie darüber. Einer sagte, so aktiv und parteilich habe er sich selbst noch nie im Gewi-Seminar erlebt“, Hetzel frohlockte. „Bei solchen Anlässen merkt man eben doch, dass wir uns alle schon als Bürger der DDR fühlen und nicht auf die verlogene Losung ‚Wir sind doch alle Deutsche‘ hereinfallen.“
Das Stichwort „Studentenbühne“ war gefallen, und am Ende seiner äußerst zähen Ausführungen, die niemanden vom Hocker gerissen hatten, erteilte Hetzel Wolfgang das Wort.
Da alle sehnsüchtig darauf warteten, dass bald Schluss war, sagte Wolfgang: Obwohl die Geschichte, die sich mit dem Stück „Der weite Weg“ verbinde, eine endlose sei, wolle er sich kurzfassen, und er erklärte, warum die Studentenbühne das Stück abgesetzt habe.
„Ende November, die erste Durchlaufprobe des ersten Aktes war bereits erfolgt, erfuhren wir, dass wir nicht mehr für die Arbeiterfestspiele nominiert sind“, berichtete er. „Daraufhin setzten wir das Stück ab, obwohl wir schon viel Arbeit in dieses Vorhaben investiert hatten.“ Dass die Stimmung nicht rosig sei und der letzte Optimist sich pessimistisch zu färben beginne, ließe sich wohl denken. Aber vom Auseinanderfallen der Studentenbühne könne nicht gesprochen werden, erklärte Wolfgang.
„Wie nun weiter in dieser misslichen Lage, in die wir unverschuldet gekommen sind?“, Wolfgang versuchte, eine Antwort zu geben: „Im Moment sind wir dabei, ein brauchbares Konzept für unsere künftige Arbeit zu finden. Schade ist, dass die Aufführungen, die auf dem internationalen Studentenbühnentreffen in Zagreb 1966 gezeigt wurden, für uns kein Maßstab sein können.“
Die Studentenbühnen der westlichen Länder würden sich auf die Darstellung sexuell gehemmter Menschen versteifen und ergingen sich in Schilderungen pathologischer Fälle, zitierte Wolfgang aus dem Bericht einer Hallenser Beobachtungskommission. „Die Studentenbühnen versuchten, den primitiven, erotischen Bedürfnissen des Publikums gerecht zu werden, und die Würzburger Studentenbühne ging sogar so weit, auf der Bühne eine vollkommene Striptease-Show aufzuführen, um sich finanziell zu sanieren, wie die Vertreter nach dem skandalösen Abbruch der Veranstaltung bekannt gaben.“
„Aber das, was sich gegenwärtig als Trend abzeichnet, entspricht nicht unseren Intentionen“, fuhr Wolfgang fort, ohne dass er verriet, wie der Spielplan aussehen sollte, der ihm bereits vorschwebte. Die zornigen jungen Männer, die in England für Aufsehen sorgten, wollte Wolfgang auf die Bühne bringen, und er dachte dabei an John Osbornes „Blick zurück im Zorn“.
Wenn er auch noch nicht wisse, welches Stück als Nächstes aufgeführt werde, so wisse er mit Bestimmtheit, dass Ende des Monats das Programm „Oktoberlyrik“ im Studentenkeller Premiere habe, schloss Wolfgang. „Das zeigt doch, wie irrig es ist, uns nach dem Absetzen des Stücks ‚Der weite Weg‘ antisowjetische Tendenzen unterstellen zu wollen.“
Nach der Rede, die Wolfgang vor der Fachschaft gehalten hatte, machte ihn Wachsmuth mit den zwei Studentinnen bekannt, die ihnen die 30 Seiten Russisch übersetzt hatten. Schon während des Vorstellens verknallte sich Wolfgang in die füllige Slawistin mit den prallen Lippen. Sie hieß Judith.
Wolfgang sagte, dass er sich fürs Übersetzen revanchieren wolle. Er wolle einen ausgeben, sagte er, und Wachsmuth, Wolfgang, Judith und ihre unscheinbarere Freundin wechselten vom Hörsaal 13 in die „Sonne“, das erste Haus am Platz.
Sie machten mächtig einen drauf und ließen sich die grünen und blauen Cocktails schmecken, die Wolfgang spendierte.
Judith sagte, dass sie für Jewtuschenko schwärme, und Wolfgang drehte sich ihr zu. An der Bar der „Sonne“ sitzend, rezitierte er: „Du flüsterst, so blass, schwach, schwer. Und was nachher?“
Gegen Mitternacht brachen sie auf, und Wolfgang brachte Judith nach Hause. Das Mädchenwohnheim lag am Rande der Stadt und beim Abschiednehmen küssten sie sich. Wolfgang schob Judith seine Hand unter den mit Seide gefütterten dicken Wollrock und spürte die weiche Innenfläche ihrer Schenkel. Judith konnte herrlich küssen. Ihr Mund saugte sich fest und ließ ihn nicht wieder los. Es machte ihm nichts aus, dass er die letzte Straßenbahn verpasste und nun einen zweieinhalbstündigen Nachhauseweg vor sich hatte, und er hatte auch keine Angst, an dem langen Bretterzaun vorbei gehen zu müssen, hinter dem in tiefster Dunkelheit eine Russenkaserne lag.
„Oktoberlyrik“ war das Programm überschrieben, das bald darauf im Studentenkeller Premiere hatte. Edda hatte es zusammengestellt. Obwohl der Titel einen hausbackenen Eindruck machte, steckte es voller unterschwelliger Botschaften, die pur nicht hätten ausgesprochen werden können, und es hatte nichts mit politisch-plakativen Gedichten zu tun, wie sich das der FDJ-Hochschulsekretär Hetzel vorgestellt hatte.
Da Edda wusste, dass sowjetische Lyrik die Leute nicht von den Sitzen riss, hatte sie einige provokante Gedichte von Jewgeni Jewtuschenko ausgewählt, die eine Art Chiffre waren und erlaubten, auszusprechen, was in der DDR unter der Decke schwelte. So wurden Bonzen gegeißelt und Apparatschiks karikiert.