Название | Leben ohne Maske |
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Автор произведения | Knut Wagner |
Жанр | Биографии и Мемуары |
Серия | |
Издательство | Биографии и Мемуары |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783957163080 |
„Ich habe das Bild noch genau vor Augen“, sagte Wolfgang und erinnerte sich an jenen Abend, als er und Ulli, auf einem Bretterstapel der angrenzenden Tischlerei stehend, aufgeregt zusahen, wie Frau Fendrich das Licht im Badezimmer anmachte und sich in Fensternähe auszuziehen begann.
Wolfgang hockte zwischen den hoch aufgeschichteten Brettern und hoffte, Frau Fendrich möge die Gardine nicht zuziehen. Er sah, wie sie milchfarbig und dickbeinig unter der Dusche stand und das Wasser auf ihren fülligen Körper prasselte, bis die Badezimmerscheiben völlig mit Wasserdampf beschlagen waren.
„Von jenem Moment, da ich die dicke Frau Fendrich unter der Dusche gesehen hatte, kam ich nicht mehr los von ihr, und sie erschien mir sogar im Traum“, sagte Wolfgang. Er hatte ihre schweren Brüste, ihren stark behaarten Unterbauch und ihre dicken, fleischigen Oberarme vor Augen, und in seinen Knabenträumen ergoss er sich in die wuchtigen Schenkel von Frau Fendrich.
Die dicke Frau Fendrich war die erste Frau, die Wolfgang und Ulli nackt gesehen hatten, und nach der dritten Flasche Rotwein legten sie ihre pubertären Kindheitserinnerungen ad acta, und Wolfgang erzählte Ulli, wie es ihm nach seinem Umzug im Februar 1958 in Erfurt ergangen war.
„Als ich nach Erfurt kam, sächselte ich, und ich wurde von meinen Mitschülern ausgelacht, sobald ich den Mund aufmachte“, sagte Wolfgang. „In Muldenburg war ich gewohnt gewesen, unter den besten Schülern zu sein.“
„Der beste Junge“, warf Ulli ein, und Wolfgang sagte: „In Erfurt hingegen gehörte ich plötzlich zu den schlechtesten Schülern der Klasse. Selbst in Lieblingsfächern wie Geschichte, Russisch und Sport versagte ich. Obwohl ich glaubte, in Russisch sehr gut zu sein, bekam ich in der ersten Leistungskontrolle gleich eine Fünf. Ich bekam die erste Fünf in meinem Leben, und das in Russisch, wo ich immer auf Eins gestanden hatte. Frau Segler, so hieß die Russischlehrerin, fand das nicht sonderlich tragisch, denn fast alle Jungen der Klasse standen in Russisch auf Vier. Aber für mich brach eine Welt zusammen. Ich weinte, als ich nach Hause kam, und meine Mutter versuchte, mich zu trösten. Aber sie konnte das Schluchzen und Weinen, das den ganzen Nachmittag lang anhielt, nicht eindämmen.“
„Ich wusste gar nicht, dass du eine solche Memme warst“, warf Ulli ein. „Wenn der alte Burmeister, der zwei Stockwerke unter uns wohnte, nicht gewesen wäre, wäre ich wohl nie auf die Oberschule gekommen“, sagte Wolfgang. „Er war pensionierter Mathematiklehrer und gab mir in einigen Fächern Nachhilfeunterricht.“
„Schwierigkeiten, auf die Oberschule zu kommen, hatte ich nicht“, sagte Ulli. „Ich war der beste Junge in der Klasse, und Eichhorn, der gleich neben uns wohnte und Direktor der Erweiterten Oberschule war, ließ sich seine maßgeschneiderten Anzüge, die er brauchte, bei meinem Vater machen. Von daher spielte es keine Rolle, ob ich Arbeiterkind war oder nicht. Wenn du verstehst, was ich meine.“
„Und ob“, sagte Wolfgang. Er war ein Arbeiterkind. Und nur deshalb war er mit seinem mäßigen Notendurchschnitt auf die Oberschule gekommen.
„Das Abitur habe ich mit 1,8 gemacht“, sagte Ulli. Aber seinem Vater und ihm sei klar gewesen, dass es nicht einfach werden würde, einen Studienplatz für Jura zu bekommen.
„Also ließ mein Alter seine Beziehungen spielen und besorgte mir nach dem Abitur eine Arbeit im Archiv der Kreisstaatsanwaltschaft“, erzählte Ulli. „Der Kreisstaatsanwalt, der sich wie Eichhorn all seine Anzüge von meinem Vater schneidern ließ, war der Meinung, durch meine Tätigkeit im Archiv, seine Befürwortung und eine wohlwollende Beurteilung über mich stünden die Chancen für ein Jurastudium nicht schlecht. Und wie er es vorausgesagt hatte, kam es. Jetzt bin ich schon im zweiten Studienjahr. Aber das weißt du ja.“
„Bei mir lief nichts nach Plan“, sagte Wolfgang, „und mit meinem Vater lag ich ständig im Clinch. Besonders nach meinem missglückten Abitur. Meine Prüfung in Geschichte schaffte ich nämlich erst im zweiten Anlauf, und von meinem Vater bekam ich ständig zu hören, was für ein Versager ich doch sei.“
Da er nach dem missglückten Abitur nicht gewusst habe, was er machen sollte, sei er notgedrungen Autoschlosser geworden, meinte Wolfgang. „Als der Berufsberater mir eine anderthalbjährige, verkürzte Lehre als Autoschlosser anbot, dachte ich an die weißen Monteure an den Boxen berühmter Rennstrecken und sagte ‚Ja‘“, erklärte Wolfgang.
„Kann ich verstehen“, sagte Ulli. Denn er entsann sich plötzlich wieder jener Zeit, als sie wie besessen Autogramme von Motorradrennfahrern und Formel-I-Größen gesammelt hatten. Vom kleinen Muldenburg in Sachsen aus schickten sie ihre Wünsche nach Autogrammen in die große Welt. Sie schrieben an Juan Manuel Fangio in Buenos Aires, an Stirling Moss in der Londoner Buckingham Street und an Rudolf Carriciola in Lugano.
„Aber schon nach wenigen Wochen hatte ich die Schnauze gestrichen voll von meiner Autoschlosserlehre, weil mein Traum von den weißen Monteuren an den berühmten Rennstrecken der Welt auf mein Werkstattleben nicht zutraf“, sagte Wolfgang. Auch der Lehrmeister sei ihm mächtig auf die Nerven gegangen. „Wenn ich mal einen dieser beschissenen Bohrer, die nichts taugten, abbrach, sagte er seinen Lieblingssatz zu mir: ‚Jesus musste sterben, und du lebst.‘“
„Ziemlich originell“, sagte Ulli sarkastisch.
„Fand ich nicht“, sagte Wolfgang. „Von Anfang an wollte ich die Lehre schmeißen und ließ mich in der Schule hängen. Als mein Vater mitbekam, dass meine Leistungen in Werkstoffkunde, Fachrechnen und Fachzeichnen mangelhaft waren, tobte er und bestand darauf, dass ich meine Lehre unter allen Umständen zu Ende mache.“
Als er ein halbes Jahr später sein Facharbeiterzeugnis erhalten habe, erzählte Wolfgang, habe er mit einem Mal zu den besten Lehrlingen gehört, und schon während der Feierstunde im festlich geschmückten Rathaussaal habe sein Vater Zukunftspläne für ihn gemacht. Er habe gemeint, Wolfgang müsse unbedingt Kraftfahrzeugingenieur werden.
„Für meinen Vater war das Zeugnis ein Beweis, dass sein Sohn kein Versager war“, sagte Wolfgang. „Für mich jedoch war es weiter nichts als ein notwendiger Abschluss, der es mir erlaubte, eigene Wege zu gehen.“
Auf dem engen Gang zur Toilette ging Ulli hinter Wolfgang her, und als Sohn eines gefragten Maßschneiders fiel ihm sofort auf, dass Wolfgangs Klamotten – die weiche, schwarze Lederjacke, der braune Rollkragenpullover aus Kaschmir und die extra angefertigte Schlaghose aus Glenchek-Stoff – teuer gewesen sein mussten.
Kurze Zeit später, Ulli und Wolfgang saßen wieder an ihrem Tisch in der Weinstube, sagte Ulli: „Tolle Klamotten hast du. Die müssen ganz schön Schmott gekostet haben.“
„Den hab‘ ich in Schwedt gemacht“, sagte Wolfgang. „Pro Monat einen Tausender und mehr.“
„Schwedt klingt gut“, sagte Ulli, „irgendwie aufregend.“
„Klingt nach Großbaustelle des Sozialismus, nicht wahr“, antwortete Wolfgang ironisch.
„Eher nach Knast“, sagte Ulli. „Wenn ich recht informiert bin, kommen alle die nach Schwedt, die während ihrer Armeezeit verknackt werden.
Sie müssen im Stickstoffwerk arbeiten, habe ich gehört.“
„Kann sein“, sagte Wolfgang. „Ich jedenfalls war Motorenschlosser im Erdölverarbeitungswerk. Und auf der Suche nach dem großen Abenteuer war ich in einem ausgefliesten, wohltemperierten Glashaus gelandet, das sich ‚Klopfraum‘ nannte.“
„Erzähl!“ Ulli trank einen Schluck Rotwein und richtete sich auf eine längere Geschichte ein.
„Da gibt es nicht viel zu erzählen“, sagte Wolfgang. „Tag für Tag stand ich vor einem lärmenden Einzylinder, dessen Hubraum ich ab und an mit einer Kurbeldrehung veränderte. Ich hatte verbleite und unverbleite Benzinsubstanzen zu prüfen. Stinklangweilig war das.“
Im Theaterspielen habe er