Leben ohne Maske. Knut Wagner

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Название Leben ohne Maske
Автор произведения Knut Wagner
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783957163080



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dass ich, auf der Suche nach dem großen Abenteuer, als Kleindarsteller in einem Produktionsstück enden würde, das im Erdölverarbeitungswerk spielt“, sagte Wolfgang zu Ulli. „Ende Juni dann traten wir mit dem Stück ‚Menschen in Bewährung‘ bei den Arbeiterfestspielen auf. Die Uraufführung war im Kleist-Theater Frankfurt/Oder. Und mit großem Pomp bekamen wir beim anschließenden Empfang von Willi Stoph, dem Ministerpräsidenten, die Goldmedaille überreicht. Walter Ulbricht konnte an diesem Tag leider nicht kommen.“

      „Hab ich mir gedacht“, witzelte Ulli. Er erhob sein Glas und sagte: „Auf deinen Neubeginn in Jena. Und auf alle Weiber, die wir kennen und lieben.“

      Ulli und Wolfgang prosteten sich zu. Aber erst, als der Wirt kam und abkassieren wollte, merkten sie, wie betrunken sie waren.

      Als Ulli aufstand und seinen Stuhl laut nach hinten scharrte, sagte er: „Zum Klöße-Essen aber kommst du doch.“ Denn an jedem Wochenende kamen Ullis Eltern nach Jena und aßen mit ihrem Sohn Grüne Klöße, nach dem bewährten Rezept von Ullis Mutter, und irgendeinen Sonntagsbraten.

      „Auf jeden Fall“, sagte Wolfgang.

      Eine Woche später wurde Ulli geext: Während des Ernteeinsatzes hatte er am Tag der Republik mit drei anderen Jungen seiner Seminargruppe im Suff eine Ulbricht-Briefmarke an den Türrahmen geklebt und sie bespuckt.

      Davon aber ahnte Wolfgang nichts, als er volltrunken durchs nachtdunkle Jena lief. Wenn ich es recht bedenke, dachte er, hatte ich während meiner gesamten Schulzeit nur einen einzigen Freund, und das war Ulli. Fast den ganzen Heimweg über sinnierte Wolfgang über das Thema Freundschaft, und er musste unwillkürlich an Melzer Bernd denken.

      Bruckners und Melzers wohnten Tür an Tür, und Wolfgang konnte sich noch genau daran erinnern, als Melzer Bernd, der ein Jahr älter war als er, eines Tages bei ihm klingelte und fragte, ob er „Am Fuße der Blauen Berge“ sehen könnte, eine amerikanische Westernserie, die damals im Westfernsehen lief. „Wir sehen kein Westfernsehen“, sagte Wolfgang, obwohl bekannt war, dass auf dem Boden unterm Dach eine Westantenne installiert worden war. Wolfgang log Melzer Bernd an, weil sein Vater das so wollte, denn Westfernsehen war verboten. Also tat Wolfgang, was sich für den braven Sohn eines SED-Funktionärs gehörte: Er wahrte den Schein und log.

      Jeder heuchelte sich, so gut es ging, durchs Leben, dachte Wolfgang. Die anbefohlenen Wahrheiten zählten, und die betete er vor, wenn er in der Schule nach irgendwas gefragt wurde. Nur im stillen Kämmerlein legte er den offiziellen Meinungsmantel ab und gehorchte, wie die meisten, seiner Vernunft, um nicht zu verblöden. Er hörte Radio Luxemburg, sah „Panorama“ und las, wenn er Gelegenheit dazu hatte, was verboten war. Auf dem nächtlichen Heimweg in die Mühlenstraße stellte er erschrocken fest, dass er durch die Schule, die Eltern und den Staat zum Lügner erzogen worden war. Das Verleugnen war zu einer Art Gesellschaftsspiel geworden, an dem sich jeder mehr oder weniger beteiligte.

      Allein seinem Vater gab er die Schuld, dass er in der Erfurter Zeit keinen Freund wie Ulli mehr gefunden hatte, und er hasste seinen Vater.

      Jeden Hausaufsatz, den er schrieb, musste er seinem Vater vorlegen, und es geschah nie, dass sein Vater damit einverstanden war. Wolfgangs Aufsatz war so eine Art Vorlage für seinen Vater, und er arbeitete ihn in seinem Sinne gehörig um.

      Es entstand eine „unreine Fassung“, die Wolfgang fein säuberlich abzuschreiben hatte, und während des Abschreibens saß sein Vater neben ihm und achtete streng darauf, dass Wolfgang keine Fehler machte. Aus Angst stellten sich bei Wolfgang Flüchtigkeitsfehler ein, und sein Vater wurde fuchsteufelswild.

      Wenn sich Wolfgang verschrieb, musste er den gesamten Text nochmals abschreiben. Wolfgang hatte das Gefühl, alles falsch zu machen und ein Versager zu sein.

      Total kaputt kam Wolfgang gegen drei Uhr nachts in seiner Kellerwohnung an. Besoffen, wie er war, schaffte er es gerade noch, sich die Lederjacke und die Schuhe auszuziehen. Er warf sich auf das dicke Federbett und war froh, dass das Karussellfahren in seinem Kopf nach kurzer Zeit nachließ. Aber gegen die Träume, die ihn in seinem Betrunkensein heimsuchten, war er machtlos.

      Zuerst zwang ihn Ulli, über die zähnefletschende Dogge zu steigen, dann biss sich der Schäferhund, den der blinde Fendrich nach ihm schickte, an seiner kurzen Lederhose fest, und schließlich kreiste der Traum nur noch um Hasso, einen scharfen bissigen Schäferhund, der dem alten Scholl gehört hatte.

      Wolfgang lag im Gras einer Waldlichtung, von großen, dunklen Fichten umgeben. Er war ein kleiner Junge, und seine Großmutter, die Reisig zum Feuermachen sammelte, war im Dickicht verschwunden. Wolfgang hatte Angst, sie könne nicht wiederkommen, und seine Angst nahm zu, als plötzlich Hasso, der wildernde, rotbraune Schäferhund, neben ihm auftauchte. Er jagte, ein Reh hetzend, an Wolfgang vorbei. Dann gab es einen lauten Knall, der ihn in panische Angst versetzte, und Wolfgang schrie nach seiner Großmutter. Aber statt der Großmutter erschien der angsteinflößende Förster, der den Todesschuss auf Hasso abgegeben hatte.

      Als Wolfgang erschrocken aufwachte, hatte er noch den Todesschuss und das letzte Aufheulen des Hundes im Ohr und merkte, dass er einen mächtigen Brummschädel hatte. Bei dem Versuch, sich auf die Bettkante zu setzen, wurde ihm speiübel. Aber kotzen musste er nicht. Es war neun Uhr morgens, und für zehn Uhr hatte Hetzel, der Sekretär der FDJ-Grundorganisation, zu einem ersten Treffen eingeladen.

      Wolfgang erhob sich ganz langsam, tastete sich an den Stuhl heran, über dessen Lehne seine verknitterte Schlaghose hing. In der Tasche endlich fand er die recht zerknitterte Einladung, auf der stand, was da zwei Stunden lang verhandelt werden sollte. Seine Kopfschmerzen wurden nicht besser, als er las: „Liebe Jugendfreundin, lieber Jugendfreund! Dein Jugendverband wird dich während deines Studiums mit Rat und Tat unterstützen, erwartet jedoch von dir gleichfalls viele Anregungen und eine stetige Bereitschaft zur aktiven Mitgestaltung der Tätigkeit der FDJ an der Universität. Wir sehen unsere Hauptaufgabe darin, dass wir alle Persönlichkeiten werden, die ihre Fähigkeiten und Talente in den Dienst des Sozialismus stellen, die nicht vor Schwierigkeiten zurückschrecken und stets einen parteilichen Standpunkt beziehen.“

      Wolfgang, dem der Alk vom Vorabend noch immer ziemlich zusetzte, sagte laut vor sich hin: „Diese Veranstaltung werde ich mir klemmen.“

      Da er nicht vorhatte, ein Vorzeige-FDJler oder gar FDJ-Sekretär zu werden, wanderte die Einladung des FDJ-Hochschulsekretärs Hetzel, einem Oberassistenten des Germanistischen Instituts, in den leeren Papierkorb neben dem Schreibtisch.

      Wolfgang entschied sich an diesem verkaterten Morgen dafür, sein erstes Studienjahr mit einem Lyrikseminar am Nachmittag und nicht mit einer FDJ-Pflichtveranstaltung am Vormittag zu beginnen.

       3. Kapitel

      Obwohl sich Wolfgang nach dem Abend in der „Weintanne“ geschworen hatte, sich nie wieder zu besaufen, folgte schon bald das nächste Besäufnis: die erste Seminargruppen-Fete im Mädchenheim.

      Die drei Doppelstockbetten, die sonst den meisten Platz im Raum einnahmen, waren fachmännisch zerlegt worden, und mit den sechs Matratzen hatten die Mädchen drei Zimmerecken gemütlich ausgelegt. Auf dem einzigen Tisch, der an die Wand in Türnähe geschoben worden war, stand ein großer Eimer mit einem Gebräu aus Prima-Sprit und Kirschlikör, und aus dem Lautsprecher eines alten Schallplattenspielers war die Stimme von Esther Ofarim zu hören, die unentwegt ihre Hits sang.

      Die Mädchen und Jungen der zwölfköpfigen Seminargruppe hockten grüppchenweise auf den Matratzen, diskutierten laut und kämpften dabei gegen die laute Musik an.

      „Jetzt wird nicht mehr herumgesülzt. Jetzt wird getanzt“, sagte Edda und griff nach Wolfgang, der neben ihr lag, und zerrte ihn zu den Klängen von „Ich werde Sehnsucht haben, Sehnsucht nach dir“ in die Mitte des Zimmers, und beim Tanzen und Knutschen unter der dreiarmigen Stubenlampe, die mit rotem Krepp-Papier verhangen war, bahnten sich kurze Lieben und lebenslange Freundschaften an.

      Bisher wusste Wolfgang nur, dass Edda aus Potsdam stammte und nach dem Abitur als Hilfskraft im Krankenhaus gearbeitet hatte. Und er wusste, was er sah, wenn er ihr im Seminar gegenüber saß: Sie hatte schulterlanges Haar, katzengrüne Augen,