Leben ohne Maske. Knut Wagner

Читать онлайн.
Название Leben ohne Maske
Автор произведения Knut Wagner
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783957163080



Скачать книгу

Studienjahr Englisch/Deutsch. Und sie wohnt mit mir auf einem Gang“, sagte Lieschen. „Ich bezweifle aber stark, dass du an sie rankommst. Sie ist äußerst zurückhaltend. Und weil es ziemlich umständlich sein muss, nach Arnsbach zu kommen, wo sie wohnt, fährt sie nur alle drei Wochen nach Hause. Hab ich jedenfalls gehört.“

      Auf der nächsten Heimfahrt, es war an einem Freitagnachmittag, wollte es der Zufall, dass Wolfgang, Heidi und der dicke Höhn im selben Abteil saßen. Und da der Zug zwischen Jena und Erfurt an diesem Tag dreieinhalb Stunden brauchte, weil es kurz vor Weimar einen Schienenbruch gegeben hatte, war genügend Zeit, miteinander ins Gespräch zu kommen.

      Rudi Höhn, der aus Meiningen stammte, kannte Heidi von den ungezählten Heimfahrten vorher.

      „Das ist Heidi“, sagte er. „Sie kommt aus dem Wald wie ich.“

      „Was unschwer an dem rollenden R zu erkennen ist“, fügte Heidi hinzu.

      „Bis nach Zella-Mehlis fahren wir zusammen“, sagte Rudi. „Dann heißt es für Heidi umsteigen.“

      Heidi erzählte, dass sie von Zella-Mehlis aus noch gute anderthalb Stunden brauche, bis sie zu Hause sei. Zuerst gehe es auf einer einspurigen Nebenstrecke bis zur ersten Haltstelle in Birkenhall, und von da aus müsse sie zu Fuß drei Kilometer zurücklegen, bevor sie in Arnsbach sei, einem kleinen Dorf, das in einem schmalen Seitental des Thüringer Waldes liege.

      Nachdem Wolfgang erfahren hatte, wo Heidi zu Hause war, riss der dicke Höhn das Wort wieder an sich und machte Heidi mit Wolfgang bekannt.

      „Das ist Wolfgang Bruckner“, sagte er und wies mit einer großen Geste auf Wolfgang. „Seine Gedichte, die er schreibt, sind nicht zu verachten.

      Theater spielt er auch, und er trägt sich sogar mit dem Gedanken, ein Stück zu schreiben.“

      „Ein Dichter also“, sagte Heidi etwas ironisch, und Wolfgang erwiderte:

      „Rudi trägt immer mächtig dick auf.“

      „Nur nicht das Licht unter den Scheffel stellen“, sagte Rudi. Dann verließ er das Abteil, um auf dem Gang eine Zigarette zu rauchen.

      Heidi vertiefte sich wieder in ihre Tucholsky-Lektüre, die sie kurzzeitig unterbrochen hatte.

      Wolfgang hingegen, der Heidi genau gegenüber saß, schwieg und starrte wie hypnotisiert auf Heidis Beine und ihre geschlossenen Knie. Er hatte das Gefühl, dass es mit den Frauen und dem Gedichteschreiben auf keinen Fall vorbei war. Es schien ihm, als stehe er vor einem folgenschweren Neubeginn.

      Als Rudi nach seiner Raucherpause wieder ins Abteil kam, verwickelte er Wolfgang sofort in ein Gespräch über den Germanistenball.

      „Für das beschissene Programm bin ich nicht verantwortlich“, sagte Wolfgang. In einer Szene, die im Olymp spiele, müsse er mit einem Nachthemd auf der Bühne herumspringen und, warum auch immer, „Konfetti, Konfetti“ schreien. Mehr als peinlich sei das.

      „Lassen wir uns überraschen“, sagte Höhn, und Heidi, die von ihrem Buch aufsah, meinte: „Ganz so schlimm wird es schon nicht werden.“

      Bevor Wolfgang sich mit einem saloppen „Tschüss“ von Rudi und Heidi verabschiedete und den Zug in Erfurt verließ, drückte er Heidi eine Einladung für den Germanistenball in die Hand, auf der in verschnörkelt-alter Schrift geschrieben stand:

      „Wird ein großer Spannungsbogen

      straflos von ihm zu ihr gezogen,

      so stimmt das nur in einem Fall:

      Bezugsfeld Germanistenball.“

      Für Wolfgang wäre der Germanistenball stinklangweilig gewesen, hätte es da nicht Heidi gegeben, die er sofort mit an die Bar zerrte und in ein Gespräch über die „lost generation“ und Hemingway zu verwickeln versuchte.

      Aber Heidi war kein Hemingway-Fan. Vielmehr hatte sie sich für das Kontrastprogramm zur „lost generation“ entschieden. Sie schreibe ihre Staatsexamensarbeit über Max Walter Schulz und dessen Buch „Wir sind nicht Staub im Wind“, sagte sie. Der Untertitel laute: „Roman einer unverlorenen Generation.“

      Wolfgang war baff. Eine Anglistin, die über DDR-Gegenwartsliteratur schrieb, war ihm bisher noch nicht untergekommen. Und völlig verblüfft war er, als Heidi ihm erklärte, dass sie sich besonders für Mittelhochdeutsch interessiere, weil das ihrem Dialekt am nächsten käme.

      Irgendwie fällt sie total aus dem Rahmen, dachte Wolfgang, und fand Heidi ungemein anziehend.

      Sie hatte ein grünes Samtkleid an, das tief ausgeschnitten war und ihre weiblichen Formen betonte. Von ihren Beinen bekam Wolfgang nur etwas mehr zu sehen, wenn Heidi bei „Baby, Baby, balla, balla“ in die Hocke ging und dabei ihre Knie heftig nach rechts und links schwang. Es schien ihr zu gefallen, wie Wolfgang sie beim Rock and Roll auf der Tanzfläche umherschleuderte.

      Als sie wieder auf ihren Barhockern saßen, achtete sie peinlichst genau darauf, dass ihr Kleid nicht zu weit übers Knie rutschte, wenn sie sich Wolfgang beim Cocktailtrinken etwas zudrehte. Vielleicht war es ihrer prüden Erziehung geschuldet, dass sie mit ihren Reizen so geizte, dachte Wolfgang. Sie schien sich sogar für ihren etwas zu breit geratenen Hintern zu schämen.

      Vom ersten Augenblick an wusste Wolfgang: die oder keine. Das Gute am Germanistenball, auf dem es unheimlich laut zuging, war, dass man die Köpfe ganz dicht zusammenstecken musste, wenn man verstehen wollte, was der andere sagte.

      „Im Dorf kennt jeder jeden, und die Leute sind äußerst nachtragend“, sagte Heidi. So werfe man ihr Hochnäsigkeit vor, weil sie sich mit den Jungen, die mit ihr in die Schule gegangen seien, nicht abgegeben habe. Und seit sie einem Burschen, der mit ihr Kirmes machen wollte, einen Korb gegeben habe, halte man sie für eine arrogante Ziege.

      Auf ihn wirke Heidi äußerst zurückhaltend und bescheiden, sagte Wolfgang. Er hätte nicht vermutet, dass sie in ihrem Heimatdorf als hochnäsig und arrogant galt. „In der Stadt ist das anders“, fuhr er fort. „Da schert sich keiner um den anderen.“

      „Die Typen auf dem Dorf sind meistens äußerst langweilig“, sagte Heidi. „Da brauche ich ja nicht zu befürchten, dass du schon vergeben bist.“

      „Wär‘ das schlimm?“

      „Ich tue mich schwer mit Frauen, die schon in festen Händen sind.“

      „Warum?“

      „Aus falscher Rücksicht? Aus einer gewissen Angst heraus?“

      „So ängstlich siehst du nicht aus.“

      „Man kann sich auch täuschen“, Wolfgang trank einen Schluck. „Du glaubst gar nicht, was für eine Angst ich vor Hunden habe.“

      „Diese Angst kenne ich beileibe nicht“, auch Heidi griff zum Glas. „Mein Vater ist Hundezüchter. Im Moment hat er sieben Dackel.“

      „Das kann ja heiter werden“, sagte Wolfgang, „wenn ich mal bei euch aufkreuze.“

      „Bis dahin“, sagte Heidi, „hat sich deine Angst vor Hunden sicherlich gelegt.“

      Sie hatten den ganzen Abend über miteinander geredet, getanzt und getrunken, trotzdem kam Wolfgang nicht so richtig an sie ran. Heidi schien eine uneinnehmbare Festung zu sein. Obwohl sie sich beim Unterhalten und Cocktailtrinken an der Bar ein gutes Stück näher gekommen waren, fiel das Abschiednehmen vor der Tür des Mädchenwohnheimes dürftig aus. Mehr als einen Abschiedskuss gab es nicht, und auf Wolfgangs Frage, wann er sie wiedersehen könne, antworte sie vage. Sie hätte viel zu tun. In acht Wochen gelte es, fünf Prüfungen zu bestehen, drei davon seien wichtig fürs Staatsexamen im nächsten Jahr.

      Sie machte ihm wenig Hoffnung, dass sie sich in nächster Zeit öfter mal treffen könnten. „Ab dem dritten Studienjahr ist das Studium kein Zuckerschlecken“, sie entzog sich Wolfgangs Umarmung, als er sie zum Schluss noch einmal wild abknutschen wollte.

      Obwohl Heidi sich auch in den folgenden Wochen ungemein spröde zeigte, unternahm Wolfgang